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                        Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 41

Bernd Linke

Acta Pauli et Theclae

Das literarische Genus 1

Bernhard Kytzler, Fiktionale Prosa,
in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 4: Spätantike, hgg. L.J. Engels, H. Hofmann, Wiesbaden 1997, S. 484f.; 488

(Der knappe Text von B. Kytzler gibt den Schülerinnen und Schülern einen ersten guten Überblick über apokryphe christliche Literatur.)


                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 42

Acta Pauli et Theclae

Das literarische Genus 2

Paraphrasiert und zitiert nach:
Rosa Söder, Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike
(= Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 3) Stuttgart 1932

Wir können in den romanhaften apokryphen Apostelakten ähnlich wie in den heidnischen Romanen der Kaiserzeit und der Spätantike folgende Motive wiederfinden:

  • Das Motiv der Wanderung

  • Das aretalogische Element (Helden- und übermenschliche Leistungen)

  • Das teratologische Element (Wundererzählungen)

  • Das tendenziöse Element (Der Roman vermittelt eine Lehre)

  • Das erotische Element (hier vor allem mit enkratitischer Tendenz)

Sekundär finden sich weitere charakteristische Elemente:

  • Verfolgung

  • Die Volksmenge als Akteur

  • Hilfe in höchster Not

  • Orakel, Träume, göttliche Befehle

Fast alle dieser Romane sind also auch Liebesromane. Söder schreibt:
„Schlechtweg von einem erotischen Element zu sprechen ist nicht genau und eindeutig. Es äußert sich vielmehr in zwei Formen: Einmal – und das steht im Vordergrund – ist es die Asketik, das Keuschheitsproblem, das die Erzählungen durchdringt. Aber es ist doch nicht einfach so, dass die Erotik zur Asketik geworden, sondern daneben und besonders auch in den asketischen wuchern ganz üppig auch die erotischen Motive, wie wir sie aus dem Liebesroman kennen, zumeist allerdings, wenn auch nicht überall, in vergeistigter, verfeinerter Weise.“ (Söder S. 119)
„Die Frauengestalten Mygdonia, Thekla, Maximilla und wie sie alle heißen, zeigen ebenso wenig persönliches Leben und individuelles Handeln wie die Heldinnen in den griechischen Romanen: Sie sind nach einem Schema gebildete Figuren, keine Wesen aus Fleisch und Blut; sie müssen einfach so handeln nach einem vorgeschriebenen Plan, um der Idee zum Siege zu verhelfen. Wie groß die Verwandtschaft zum Romane ist, zeigen die ganz bestimmten typischen Züge, die wir fast immer und überall verwendet sehen: Ständig Erwähnung der Schönheit, Liebe auf den ersten Blick, Zurückweisung des Erstberechtigten, Kleidungswechsel, Eifersucht und Liebesklagen der Verlassenen, Besuche im Kerker mit dem Versuch der Bestechung der Wächter; das Motiv der verschmähten Liebe, die sich in Hass wendet und sich äußert a) gegen die frühere Geliebte, b) gegen den Nebenbuhler; das Motiv des Aufschubs und der Ausflucht, Standhaftigkeit gegen Schmeicheleien, Drohungen und selbst gegen brutale Gewalt, getreue Sklaven u.a.m.
Aus diesen τοποι, wie sie jeder der uns bekannten Liebesromane verwendet, sind auch die erotischen Erzählungen in den apokryphen Apostelakten aufgebaut.“ (Söder S. 148)


                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 43

Acta Pauli et Theclae

Die Acta im Rahmen der apokryphen Literatur

 

Der Begriff „Apokryphen“ stammt vom griechischen Wort „Žpñkrufoû“ ab, das „verborgen“ oder „geheim“ bedeutet. Neutestamentliche Apokryphen sind also antike Schriften, die entweder tatsächlich, besonders in gnostischen Sekten, als esoterische Geheimschriften tradiert wurden oder aber auf Grund von Schwächen der Überlieferung, der Autorenangabe oder des Inhalts nicht in den Kanon des Alten bzw. Neuen Testaments aufgenommen und von den Kirchenvätern mit Skepsis oder unverhohlener Ablehnung beurteilt wurden. Einer der anerkanntesten Experten auf diesem Gebiet, Wilhelm Schneemelcher, definiert: „Neutestamentliche Apokryphen sind Schriften, die nicht in den Kanon aufgenommen sind, die aber durch Titel und sonstige Aussagen den Anspruch erheben, den Schriften des Kanons gleichwertig zu sein und die formgeschichtlich die im NT geschaffenen und übernommenen Stilgattungen weiterbilden und weiterformen, wobei nun allerdings auch fremde Elemente eindringen.“
Die Tendenz der Apokryphen des Neuen Testaments weicht oftmals nicht von den Lehren der (katholischen) Kirche ab, doch weisen etliche dieser Schriften auch Anschauungen auf, die wir frühchristlichen Sekten, besonders solchen gnostischer Richtung, zuschreiben.
Eine Abteilung diese apokryphen Schriften bilden die Apostelakten. „Acta“ ist hier Übersetzung des griechischen „pr‹jeiw“ – „Taten“. So sind in meist nicht vollständiger, sondern fragmentarischer Form Thomasakten, Petrusakten, Andreasakten und eben auch Paulusakten überliefert. Gemeinsam sind ihnen Elemente der fantastischen Reiseliteratur, eine Tendenz der Förderung der Enthaltsamkeit (Enkratie) und der Askese, Märtyrer- und Wundergeschichten (s. „Das literarische Genus“ 1. und 2.). Sie stillen die Neugier vieler Christen in der Antike über das, was die kanonischen Schriften nicht berichten: Was hat Paulus außer dem, was Lukas in der Apostelgeschichte erzählt, noch gemacht? Was haben andere Apostel erlebt? 
Die „Acta Pauli et Theclae“ bilden einen selbständig überlieferten und in sich geschlossenen Teil dieser Paulusakten. Die Theclaüberlieferung stammt aus dem südanatolischen Raum (antik: Pisidien und Lykaonien) rund um Ikonion und Antiochia. Die angebliche Begräbnisstätte bzw. die Stätte, wo Thecla angeblich bis zu ihrem Tode gewirkt hat, war noch in frühbyzantinischer Zeit eine bedeutende Wallfahrtsstätte, aus der weitere Wunder, die der Thecla zugeschrieben waren, berichtet wurden.
Die Forschung datiert die Entstehung der Theclaakten auf die Zeit um 190. Sie sind, wie sich erwiesen hat, abhängig von den Petrusakten, die ca. 180 entstanden sind. Der Kirchenvater Tertullian berichtet in seiner Schrift „de baptismo“ (17,4), verfasst kurz nach 200, „... dass in Asien der Presbyter, der diese Schrift verfasst und dabei seine eigene Erfindung Paulus untergeschoben hat, zugab, er habe dies aus Liebe zu Paulus getan, und von seinem Amt zurücktrat.“ Gleichzeitig beginnt mit Tertullian eine antifeministische Tradition der Kritik an dieser Schrift: Dass Thecla als Frau selbständig predigte, missionierte und sich selbst taufte, widerstrebte dem Frauen- und Kirchenbild vieler Kirchenväter.


                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 44

Acta Pauli et Theclae

Die Überlieferung des Textes

Nach:
Richard Adelbert Lipsius, Max Bonnet, Acta apostolorum apocrypha I, Leipzig 1891;
Oscar v. Gebhardt, Die lateinischen Übersetzungen des Acta Pauli et Theclae, Leipzig 1902

Die Überlieferung des Textes der Acta Pauli et Theclae gründet sich auf einen umfangreichen Bestand an Handschriften und einige Papyri. Die Überlieferung kennt jedoch auf der anderen Seite derartig unterschiedliche Versionen des Textes, dass ein originärer Text, auf die alle uns bekannten Versionen letztlich zurückführbar sind (Archetypus), kaum zu rekonstruieren ist.
Die Vielgestaltigkeit und der Variantenreichtum der Überlieferung der Acta Pauli et Theclae zeigen jedoch auch eindringlich, wie beliebt Text und Stoff seit der Antike gewesen sind.
Die Acta Pauli et Theclae gehören im Rahmen der apokryphen Literatur (s. dort) zu den Paulusakten, weisen aber eine eigene Überlieferungsgeschichte auf. Welcher Art auch immer die Überlieferung der Erzählung bzw. des Textes vor dem ausgehenden 4. Jahrhundert n. Chr. gewesen sein mag – die Zitate und anderen Verweise auf die Acta Pauli et Theclae in Schriften von Kirchenvätern wie Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomos u.a. zeigen keinen Text, der von unserer handschriftlichen Überlieferung grob abweicht.
Die Acta Pauli et Theclae sind ursprünglich in griechischer Sprache, der internationalen Verkehrssprache des östlichen Mittelmeerraums in der Kaiserzeit, verfasst worden. Uns liegen eine Reihe von griechischen Handschriften vor, deren älteste aus dem 10./11. Jahrhundert stammen.
Die Acta Pauli et Theclae sind jedoch auch schon sehr früh, jedenfalls in der Spätantike, in andere Sprachen übersetzt worden. So gibt es u.a. eine sehr alte und für die Textüberlieferung wertvolle syrische Übersetzung, eine alte koptische Übersetzung (s.u., Papyri) und auch zahlreiche lateinische Handschriften, die sich wohl nicht auf eine ursprüngliche lateinische Version zurückführen lassen, sondern mehrere, häufig voneinander abhängige, doch auch durch mehrfache Rückgriffe auf die griechische Überlieferung voneinander unabhängige Übersetzungen aus dem Griechischen repräsentieren. O. v. Gebhardt macht plausibel, dass an mehreren Stellen die lateinische Überlieferung sogar der uns vorliegenden griechischen Überlieferung an Plausibilität überlegen ist und vielleicht, so wie die syrische Übersetzung, an diesen Stellen einen älteren Traditionsbestand bewahrt hat. Zur Demonstration der Vielgestaltigkeit der Überlieferung der lateinischen Acta Pauli et Theclae habe ich eine Kopie aus der Ausgabe von O. v. Gebhardt zum Kap. 22 (ab „Illa autem extensis manibus“) beigefügt.
Über die handschriftliche Überlieferung hinaus sind uns aber auch einige Papyrusfragmente in griechischer und koptischer Sprache, jeweils aus der Spätantike, überliefert. Sie weisen damit Teile des spätantiken Textes aus, helfen uns, die Gestaltung des Textes besser zu fundieren und haben den Forschern zudem Gelegenheit gegeben, die Acta Pauli et Theclae besser in den Komplex der sonst fragmentarisch überlieferten Paulusakten einzuordnen.


                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 45

Acta Pauli et Theclae

Grundlagen der Textkritik

 

 

Definition

Textkritik ist ein wissenschaftliches Verfahren, durch das der Wortlaut der (antiken) Ausgabe eines Autors, nach Möglichkeit der seines Autographon, aus den mehr oder weniger entstellten Mitteilungen der erhaltenen Zeugnisse rekonstruiert werden soll.

Material

  • Die mittelalterlichen Handschriften
  • ggf. spätantike Handschriften
  • Der Druck der Erstausgabe (Editio princeps)
  • Papyri
  • Übersetzungen (ins Lateinische/Griechische, Koptische usw.)
  • Die „Nebenüberlieferung“ (Zitate bei antiken Schriftlstellern, antike Kommentare usw.)

Methode

Die Textkritik erfolgt in drei Schritten:

  • Recensio
  • Examinatio
  • Emendatio

Recensio

Sammlung der verfügbaren Handschriften und anderer Materialien (s.o.), Feststellung der Überlieferungsunterschiede (Lesarten) und Überprüfung der Abhängigkeit der Handschriften voneinander. Die Abhängigkeit zweier Handschriften wird durch Vergleich der Fehler beider Handschriften festgestellt. Bieten zwei Handschriften eine Menge gleicher Fehler, so kann, sofern die Handschrift, von der abgeschrieben wurde, fehlt, die Quelle beider Handschriften rekonstruiert werden.
Diese Rezensionsarbeit wird außerordentlich erschwert, wenn ein mittelalterlicher Kopist mehrere Handschriften gleichzeitig benutzt hat (Kontamination).
Die Abhängigkeitsbverhältnisse können graphisch wiedergegeben werden durch einen Stammbaum der Handschriften (Stemma). Die im Abhängigkeitsschema erste, oberste und damit früheste Quelle nennt man Archetypus.

Examinatio

Auswahl der besten verfügbaren Handschriften. Dazu benutzt der Philologe die Ergebnisse der recensio. Außerdem bedarf es einer möglichst perfekten Kenntnis der Sprache des betreffenden Autors.

Emendatio

Ziel der Emendatio ist die Ausmerzung von Überlieferungsfehlern und damit die Wiederherstellung des denkbar besten Textes. Dazu muss im Normalfall der Philologe über den Überlieferungsstand hinausgehen und Stellen, die verderbt oder sprachlich zweifelhaft sind, verbessern (Konjektur). Im Zweifel ist er auf seine Eingebung (Divinatio) angewiesen.

Nachweis

Der Herausgeber weist seine philologische Arbeit in einem kritischen Apparat unter dem von ihm rekonstruierten Text nach. Hier notiert er Lesarten verschiedener Handschriften, eigene und andere Konjekturen.

Geschichte

Die klassische Philologie ist in ihren Grundlagen bereits in der Zeit des Hellenismus, besonders in Alexandria, entwickelt worden. Die Humanisten begannen nach dem Mittelalter wieder mit wissenschaftlicher philologischer Arbeit. Francesco Petrarca (1304-1374) war der erste, der seinen klassischen Texten kritische Randnoten zufügte. Berühmte Philologen des Humanismus waren Lorenzo Valla (1407-1457) und Angelo Poliziano (1454-1494). Seit dem 16. Jahrhundert breitete sich die wissenschaftliche Textkritik mit dem Humanismus über ganz Westeuropa aus. Besonders das Streben nach einem möglichst guten Bibeltext führte zwischen dem 16. Jahrhundert (Erasmus von Rotterdam, 1469-1536) und dem 19. Jahrhundert (Karl Lachmann, 1793-1851) zur Verfeinerung der wissenschaftlichen Methodik.