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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 60

Detlev Baur

Nüchterner Taumel

 

Im Finale betritt die Mutter des Herrschers erstmals die Bühne, in Händen einen abgeschlagenen Kopf. In ihrem Wahn hält sie ihn für einen Löwenkopf; sie erkennt die grausige Wahrheit erst, als ihr Vater die restlichen Teile des von ihr zerstückelten Sohnes auf die Szene bringt. In Dieter Dorns Euripides-Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel wickelt Sibylle Canonica als Agaue täuschend echt wirkende Körperteile aus Plastikfolien; das Grauen wirkt auf dem vorgeschobenen Holzpodest opernhaft vergrößert und kippt zuweilen fast ins clownesk Groteske. Doch Furcht und Mitleid stellen sich beim Zuschauer nicht ein. Jossi Wielers einen Monat später an den Kammerspielen erstmals aufgeführte „Bakchen“-Version schildert das Grauen am Ende zurückhaltender. Hildegard Schmahl trägt nur die Perücke, mit der sich der Sohn Pentheus getarnt hatte, auf die Bühne, der Vater Kadmos bringt lediglich Kleidungsstücke des Toten. Der Wahn ist in der Wohnküche, die ständiger Schauplatz ist, auf Kleinformat reduziert; entsprechend spielt Schmahl die Figur der Agaue als berauschte, verwirrte Alte und vergrößert ihre innere Verwundung nicht zur großen Tragödie, sondern duscht sich vielmehr am Ende das Blut des Kindes vom Körper.

„Die Bakchen“ des Euripides sind eine selten brutale und zugleich ungewöhnlich kryptische Tragödie. Der Theatergott Dionysos alias Bakchos wird selbst zum Thema, ja zur zentralen Figur. Mit den fanatischen Bakchen fällt er, aus dem nahen Osten Kleinasiens kommend, im griechischen Theben ein. Auch die Königinmutter und der Großvater verehren den Wein und Tanz bringenden, zugleich weibliche Zartheit wie wilde Raserei vereinenden, naturnahen Gott, der in Menschengestalt erscheint. Der Herrscher Pentheus jedoch, übrigens Cousin des egozentrischen Gottes, lehnt mit vernünftigen Gründen, aber auch ohne weitere Reflexion das fremdartige neue Treiben strikt ab. Er wird aber von Dionysos schließlich dazu verführt, die verzückten Frauen im Gebirge zu beobachten – und zwar in Frauenkleidern; dabei wird er dann von seiner eigenen Mutter getötet. Der Theatergott hat sich an seiner (eigentlich ja nur teilweise) ungläubigen Verwandtschaft grausig gerächt und schickt die Überlebenden in die Verbannung. Er erweist sich als zerstörerisch, bringt ordentlich getrennte Frauen- und Männerwelten durcheinander und zeigt am anfangs so rational wirkenden Pentheus die Brüchigkeit von naturentfremdeter und religionsferner Zivilisation auf. Das Stück schneidet zahlreiche Themen an und positioniert seine Figuren ungewöhnlich ambivalent. Angst und Verunsicherung der Welt sind die dunklen Grundtöne der „Bakchen“.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 61

Dieter Dorn entschied sich am Münchner Residenztheater erwartungsgemäß nicht für eine Lesart des Textes, sondern versuchte die Vielfältigkeit der Vorlage auf der Bühne zu bewahren. Damit mutete er seinen Schauspielern wie dem Publikum viel zu. Altmeister Rolf Boysen spielt den Gott als dynamischen und charismatischen Mann, der sich im Aufeinandertreffen mit Pentheus zum weibisch-klugen Männlein wandelt. Sein Gegenspieler Pentheus ist mit Jens Harzer jung besetzt. Er spielt ihn mit einer faszinierenden Mischung aus Zurückhaltung, Blasiertheit und hysterisch aufbrausender Brutalität. Die Rededuelle des unbehausten Herrschers und des selbstgewissen alten Mannes sind das Zentrum der Inszenierung. Beide Protagonisten zeigen mit den unterschiedlichen Welten, die da aufeinander treffen, faszinierende Charaktere.

Harzers Pentheus läuft im eigenen Palast nervös umher; Stefan Hageneier hat eine Mischung aus grauer Betonbau-Tiefgarage und türkisen Palastfragmenten als Schauplatz gebaut, samt Mittelgang durch den Zuschauerraum hindurch. Doch wirken die (keineswegs schwach dargebotenen) Botenberichte blass, die befremdlichen Ereignisse um Theben herum können sich nicht aus einer leblosen Kunstwelt lösen. Das konzeptionelle Problem dieser Inszenierung wird im Chor der Bakchen, laut Titel immerhin die Hauptfigur, manifest. 15 Frauen unter der dominanten Führung von Gisela Stein als Vorsprecherin bilden eine mit Stäben rhythmisch die Gewalt des Gottes verkündende Schar. Doch bleibt ihre tiefe Religiosität eine Behauptung, die lediglich durch die geschmackvoll archaisierenden Gewänder gestützt ist. Die Frauengruppe, die immer wieder schnell aus Palastecken verschwindet oder auftaucht, bietet keine Konstante im Spiel und tut sich schwer, eine Haltung zu den Hauptfiguren und deren Gesprächen zu entwickeln. Der Chor bleibt isoliert, zumal manche Szenen durch ein Löschen des Lichtes abgetrennt werden. Beim letzten Botenbericht, der die Nachricht vom Tod des Königs bringt, sitzen die Damen gesittet an der Rampe und zeigen keine Regung; der vernichteten Agaue gegenüber können sie sich anschließend zwischen Mitleid und zynischer Verachtung nicht entscheiden. Der Frauenchor hat nur in der Stimmungsmache durch seine Stock-Rhythmen ein Zuhause; sozial bleibt er unbestimmt, Tanzen ist nicht seine Leidenschaft, das Verhältnis zum Gott bleibt vage. Letztlich bleibt die Religiosität in Dorns Inszenierung ethnologisch gut gemeinte Folklore; sie trägt nur da, wo Rolf Boysens Dionysos einem charismatischen Sektenführer nahe kommt.

Robert Hunger-Bühler ist da in den Kammerspielen ein ganz anderer Gott. Seine Göttlichkeit ist allenfalls eine verneinend-mephistophelische, deutlicher aber erscheint er im Schlangenledermantel als verbrecherischer Zuhälter. Jossi Wieler hat ähnlich wie in seiner grandiosen „Alkestis“ von 2001 (siehe DDB 5/2002) die griechische Tragödie auf gegenwärtiges Normalmaß gestutzt. Schauplatz ist der Raum eines Bergbungalows, der Wohn-, Schlafzimmer, Küche und Bad in einem sterilen weißen Design vereint (Bühne: Jens Kilian). Doch hat die Privatisierung und Psychologisierung der Personen und Konflikte in den gleichsam weltpolitischen „Bakchen“ stärkere Verluste zur Folge als in der vergleichsweise familiären „Alkestis“.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/1 (2006), 62

Im Mittelpunkt dieser „Bakchen“ steht weniger der Gott als der zunehmend verunsicherte Herrscher Pentheus. André Jung wirkt im hoch geschlossenen schwarzen Gewand wie ein verklemmter Asket, seine Behausung ist klinisch rein. Doch vermag er seinen Kleiderschrank nur so lange in Ordnung zu halten, bis Dionysos ihn als Auftrittsmöglichkeit missbraucht. Jungs Studie des selbstgerechten Reinemachers, der seine Wünsche und Aggressionen nicht lange zurückhalten kann, gerät durch das Hereinbrechen der bakchischen Verunsicherung zum Psycho-Thriller.

Aus dieser Beschränkung gewinnt auch der Chor sein Profil. Denn das von Wiebke Puls und Sylvana Krappatsch vielfach schillernd dargebotene Klein-Kollektiv erscheint anfangs als eine Art innerer Gefühlsstimme des Pentheus; durch mannigfaltige Berührungen stimulieren die beiden Frauen auch dieses Mannes unterdrückte Sexualität. Später werden die katzengleichen Damen in ihren Schlangenstiefeln zu willfährigen und lustvollen Dirnen ihres Herren Dionysos; sie bleiben dem Geschehen und allen Figuren gegenüber jedoch auch parzenhaft distanziert. Im anfangs beschriebenen Finale sind diese Teufelsweiber so gar nicht betroffen, wohl aber zynisch interessiert. Das ist nicht nur spannender, sondern dem antiken Chor auch angemessener als Dorns vermeintlich textnahe Chorbehandlung. Kunstvoller, kultischer Tanz ist allerdings auch ihre Sache nicht. Ohne das unfassliche Göttliche auf Erden fehlt, wie auch in Dieter Dorns Inszenierung, dieser Tragödie ein zentrales Element, wenn nicht ihr Herz. Die Kammerspiele führen ein düsteres Kammerspiel auf, das Residenztheater ein großes Staats-Schauspiel – die ambivalente Tragödie des Theatergottes findet in München nicht statt.

Dr. Detlev Baur
Die Deutsche Bühne
St.-Apern-Str. 17-21
50667 Köln