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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 84

Klaus Bartels

Geflügelt, entflogen


Habent sua fata ...

„Sie haben ihre Schicksale ...“: Das gilt, wie für die Menschen und ihre libelli, ihre „Büchlein“, so für diese Geflügelten Worte mit ihren je besonderen, über viele Jahrhunderte hinwegreichenden Zitiergeschichten und Zitierschicksalen. Sogleich dieses Habent sua fata libelli, das wir heute in Goethes Sinne „Auch Bücher haben ihr Erlebtes“ zitieren, ist dafür ein reizvolles Beispiel. Das Wort stammt von dem spätantiken Metriker Terentianus Maurus, aus dem Nachwort eines versifizierten Traktates „Über die Silben“; der Vers lautet vollständig Pro captu lectoris habent sua fata libelli und ist ursprünglich auf die Kritiklust der Kollegen gemünzt: Vielleicht, sagt Terentianus da, werde manch einer in seinem Buch zu viele Worte und zu wenig Neues finden, vielleicht werde ein träger und ungeduldiger Geist es für allzu schwierig halten: „Je nach der Fassungskraft des Lesers haben die Büchlein ihre Schicksale.“

„Geflügelte Worte“: Der bildhafte Titel der Büchmannschen Zitatensammlung - nach dem Homerischen, Vossischen Formelvers „... und sprach die geflügelten Worte“ -, ist zu einer Art Gattungsbegriff geworden. Doch längst zuvor hat es den Begriff von geläufigen Klassikerzitaten gegeben. Viele der hier gesammelten Worte werden schon in der Antike als „allgemein“ oder „sprichwörtlich“ geläufig eingeführt; Aristoteles, Rhetorik 2, 21. 1395 a 21f., spricht einmal von „im Volk verbreiteten“ Worten wie den Sprüchen der Sieben Weisen; Macrobius, Saturnalien 5, 16, 7, nennt eine Reihe von Homer- und Vergilversen, die „sprichwörtlich in aller Munde seien“. Tausendschaften solcher Zitate aus verlorenen Werken speisen unsere gelehrten Fragmentsammlungen. Aber erst durch Büchmanns 1864 erschienenen, rasch zum Klassiker avancierten „Citatenschatz des Deutschen Volkes“ und weitere Sammlungen wie Lipperheides „Spruchwörterbuch“ von 1907 und Zoozmanns „Zitatenschatz der Weltliteratur“ von 1910 sind Mächtigkeit und Eigenart dieses klassischen Zitatenschatzes so recht in den Blick gekommen. Die „Adagia“ des Erasmus, diese weitausgreifende Bestandsaufnahme des lateinischen Sprichwortschatzes, haben durchaus anderen Charakter.

Die Geflügelten Worte aus den Alten Sprachen wie das Archimedische Heureka! Heureka! oder das Heraklitische Panta rhei, das Ciceronische Suum cuique oder das Horazische Carpe diem! sind das meistzitierte, sit venia verbo: das präsenteste Griechisch und Latein. Man muß nicht unbedingt mit Caesar durch das dreigeteilte Gallien gezogen sein, um einmal ein Tempora mutantur oder ein Pacta sunt servanda, ein Variatio delectat oder ein Si tacuisses ... in die Diskussion zu werfen; man muß nicht unbedingt sein amo, amas, amat durch alle Tempora konjugiert haben, um einmal den Advocatus diaboli zu spielen oder auf einem Ceterum censeo zu beharren, den Nervus rerum anzusprechen oder nach einem Deus ex machina Ausschau zu halten. Und wenn ein Referent erklärt, er wolle nicht ab ovo beginnen, sondern gleich in medias res gehen, heißt das noch lange nicht, daß er seine Vortragskünste an Horazens „Ars poetica“ geschult hat.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 85

Viele dieser Worte aus der antiken Welt haben sich früh aus ihren ursprünglichen Bezügen gelöst; viele haben sich aus einem längst verlorenen oder vergessenen Werk beizeiten in den rettenden Zitatenhimmel aufgeschwungen. Die Geflügelten Worte sind zumeist entflogene, über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg uns zugeflogene Worte, und sie tragen kein Ringlein am Fuß, auf dem Autor und Werk, Buch und Kapitel, Paragraph oder Vers fein säuberlich verzeichnet wäre. Bei dem einen oder anderen Wort ist die Herkunft vollends in Vergessenheit geraten. Wer ein Geflügeltes Wort zitiert, hört oder liest, weiß in der Regel nicht und fragt sich auch nicht lang, wer das wann wo in welchem Sinn einmal gesagt oder geschrieben hat, in welchem Kontext und in welchem Sinne. Die lächelnde Mahnung Principiis obsta! stammt aus Ovids literarischer Hausapotheke gegen Liebesschmerz und Liebesqual, die hintersinnige Frage Quis custodit custodes?, mit leicht zu erratendem Bezug, aus Juvenals berüchtigter „Weibersatire“. Neuerdings sind diese Worte in die politische Arena übergewechselt und dort zu geschliffenen Hieb- und Stichworten geworden; von ihrem ursprünglichen Kontext, von Liebesschmerz und Eifersucht, klingt ihnen da kein leiser Seufzer nach.

Da kann es nicht verwundern, daß manche derart entflogene, zugeflogene Worte - wie jenes eingangs angeführte Habent sua fata libelli - mit ihren Bezügen auch ihre ursprüngliche Bedeutung verändert haben. Das Archimedische Noli turbare circulos meos! gilt eigentlich den in feinsten Sand gezeichneten geometrischen Figuren und nicht, wie die geläufige Übersetzung „Störe meine Kreise nicht!“ suggeriert, irgendwelchen persönlichen Sphären. Caesars Alea iacta est(o) heißt keineswegs „Der Würfel ist gefallen“, sondern „Der Würfel ist (sei) geworfen“; der Ausruf meint nicht die Entscheidung, die mit dem Würfel fällt, sondern die für das Wagnis des Wurfs. Das Vergilische Labor omnia vicit ...; „Mühsal eroberte alles ...“ deutete ursprünglich auf die Ablösung der Goldenen durch die Eiserne Zeit; erst die Schule, offenbar schon die antike, hat dem Wort eine simple Moral abgewonnen, und Büchmann hat noch kräftig nachgedoppelt: „Unablässige Arbeit besiegt alles“. Und wieder die „Schule“ hat irgendwann, irgendwo Senecas bittere Schulkritik Non vitae, sed scholae discimus in den goldenen Portalspruch Non scholae, sed vitae discimus verkehrt. Difficile est satiram non scribere!


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 86

Die Geflügelten Worte sind eine artenreiche Ordnung. Sie erstreckt sich quer durch die literarischen Gattungen, durch die Zeiten, durch die Fächer und - erstaunlicherweise - auch durch alle Ränge. Von einem alltäglichen Plenus venter non studet libenter bis zu einem bedeutsamen Homo sum, humani nil a me alienum puto, von einem schlichten Hannibal ante portas bis zu dem geschliffenen Veni vidi vici sind da alle Grade vertreten. Voltaire hat einmal bemerkt: „Le latin est plus propre au style lapidaire que les langues modernes.“ Worte wie Hic Rhodus, hic salta!; Primum vivere, deinde philosophari; Quot capita, tot sensus; Rem tene, verba sequentur; Ubi bene, ibi patria; Vita brevis, ars longa zeigen diesen charakteristisch lateinischen „lapidaren Stil“. In Summum ius summa iniuria alias Summum ius summa crux kommt noch ein herausforderndes Paradox und der Gleichlaut hinzu. Wortspiele wie Dum spiro, spero; Nolens volens; Nomen est omen; Ora et labora; Qualis rex, talis grex; Urbi et orbi prägen sich durch ohrenfällige lautliche und rhythmische Gleichklänge ein. In dem christlichen Patior, ut potiar spiegeln sich die Vokale und mit ihnen die gleich anlautenden Verben. In die Reihe dieser aufs Äußerste verknappten „lapidaren“ Worte gehört zu guter Letzt auch der hier ehrenhalber unter die Geflügelten Worte aufgenommene, auch unbildlich lapidare Grabspruch Ut moriens viveret / vixit ut moriturus.

Doch die meisten dieser Worte verdanken ihre Flügel keineswegs einer strenggefügten Prägung, sondern ihrer Lebensnähe, so zumal die sprichwörtlichen wie Fortes Fortuna adiuvat oder Gutta cavat lapidem oder Rechtsregeln wie Audiatur et altera pars oder In dubio pro reo. Je besser ein Zitat zu einer schlagenden oder beziehungsreichen Erwiderung, einem erhellenden oder erlösenden Einwurf taugt, desto höher ist sein Quotation Index. Ein Errare humanum est lebt - und lebt gut - von der menschlichen Fehlerhaftigkeit, ein In vino veritas von der weinseligen, redseligen Offenherzigkeit, ein Do, ut des oder ein Manus manum lavat von dem nüchternen Sinn für Gegenseitigkeit. Die Turnerbewegung hat sich Juvenals ... mens sana in corpore sano aufs Papier und an die Turnhallen geschrieben und für ihre Zwecke neu gedeutet; Drogenhandel und Geldwäscherei haben dem Vespasianischen Non olet neue anrüchige Bezüge gegeben. Manche Worte profitieren von einem speziellen Veredlungs- und Verfremdungseffekt: Ein Catonisches Ceterum censeo hat allemal mehr Gewicht als ein Im-Übrigen-muß-ich-immer-wieder-Sagen; ein Alea iacta est erhebt jedweden Abstimmungsentscheid zum schicksalhaften Schritt über den Rubikon; ein Veni vidi vici verleiht jedem raschen Verhandlungserfolg einen Abglanz Caesarischer Fortune. Und manch einer hört allenfalls doch lieber ein lateinisch chiffriertes Si tacuisses ... als unverblümten deutschen Klartext.

Der im „Büchmann“ dokumentierte Zitatenschatz und speziell seine griechische und lateinische Abteilung spiegelt die allgemeine bürgerliche Bildung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, wie das humanistische Gymnasium und sein klassischer Lektürekanon sie damals über Generationen hinweg vermittelten.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 87

Eine Reihe von Terenzzitaten erinnern noch an die Anfangslektüre der Goethezeit („Anders lesen Knaben den Terenz, anders Grotius ...“), die dann der obligaten Caesarlektüre (Gallia est omnis divisa in partes tres ...) weichen mußte. Tempora mutantur: Mit dem Zurücktreten des altsprachlichen Unterrichts ist das angestammte Biotop dieser Zugvögel aus der griechischen und römischen Welt zusehends enger geworden. Es gibt die größeren oder kleineren Kreise nicht mehr, in denen jeder fröhliche Zitator auf ein Quentchen Schullatein im Hinterkopf seiner Zuhörer zählen könnte, die Kreise, in denen diese Geflügelten Worte im Sinne des Wortes „selbstverständlich“ ein und aus fliegen könnten. Lateinisch zitierte Worte sind in der Öffentlichkeit zu seltenen Vögeln geworden, und griechisch zitierte vollends zu Paradiesvögeln. O tempora? O mores? Halten wir uns lieber an das Vergilische Non omnia possumus omnes, und wer jetzt den Laudator temporis acti spielen wollte, brauchte nur den Kontext nachzulesen, um diese Rolle sogleich erschreckt wieder fallen zu lassen: Da charakterisiert Horaz den senex, den „Alten“, nach Aufzählung von allerhand anderen wenig schätzenswerten Eigenschaften als „schwierig, nörglerisch, einen steten Lobredner der vergangenen Zeit, in der er aufgewachsen ist, einen strengen Zuchtmeister und Zensor der Jüngeren“.

Nichtsdestoweniger scheint der Prestigewert der klassischen Antike diese Geflügelten Worte der Werbesprache zu empfehlen. Der Archimedische Entdeckerruf Heureka! hat mit seinem Vorderteil für einen Heuwender und mit seinem Hinterteil für Schweizer „Reka“- („Reisekassen“-) Checks herhalten müssen; Caesars Veni vidi vici kam, sah und warb einmal in der einen Anzeige für Apple und in der anderen für PC’s; eine Zigarettenkampagne lief unter dem Slogan Veni vidi fumi, die Spaßkampagne für Loriot als Bundespräsidenten unter dem Motto Veni vidi Vicco. Ein Inserat des alten „Punch“ zeigte einen römisch gewandeten Caesar, der seinem ebenso drapierten Gegenüber eine Schachtel Konfekt anbietet, mit einem Et tu, Brute? in der Sprechblase. Ein Reisebüro firmiert mit Quo vadis?, und so geht es fort. De gustibus non est disputandum. Woher das nun wieder kommt? Da sind wir am Ende unseres Lateins. Stammte das Wort von Lucullus oder von Maecenas, dem Entdecker des Eselsfüllenbratens, oder von Petron, dem elegantiae arbiter an Neros Hof, so wüßten wir es. Vielleicht steckt ja nichts dahinter als ein Beispielsatz für ein verneintes Gerundivum.

Aus: Veni vidi vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, zusammengestellt, übersetzt und erläutert von Klaus Bartels, 11., durchgehend erneuerte und erweiterte Auflage, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2006