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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 47

Peter Habermehl

Martial - didaktisch
Plädoyer für die schulische Nutzanwendung eines 'unerwarteten Klassikers' (1)


„Martial (gehört) – darin (und nur darin) Lukrez vergleichbar –
zu den Autoren, die didaktisch noch zu entdecken sind.“
(2)

 

Vorbemerkung

In der römischen Literatur der Kaiserzeit findet sich wohl kaum ein Autor, der sich für den modernen Gymnasialunterricht in ähnlicher Weise gleichsam von selbst empfiehlt wie Martial.(3) Seine über 1.500 erhaltenen Texte erlauben einen unverstellten und unbefangenen Blick ‚von unten‘ auf das antike Rom und das Alltagsleben seiner Bürger (getreu seinem Motto 10,4,10 „hominem pagina nostra sapit“, „Meine Verse schmecken nach Mensch“ – frei nach Terenz: „Nil humanum alienum a me puto“). Ob im öffentlichen oder privaten Raum –kein Thema entgeht seiner unbestechlichen Feder. Die Niederungen der Verdauungsprozesse sind ihm so vertraut wie der Klatsch in der Kaschemme um die Ecke oder der kleine alltägliche Ehekrieg. Sein Blick erfasst das lärmende Gedränge in den Gassen wie das unappetitliche Treiben in den Badehäusern und Speisezimmern; er fällt aber auch in die Arena des Kolosseums oder wagt sich in die kaiserlichen Paläste auf dem Palatin. Und immer wieder ruht er auf dem heimischen Schreibtisch, in ironischer Reflektion der eigenen Arbeit.

Dieser Bilderbogen, den Martial vor uns ausbreitet, hat in seiner Fülle etwas Erschlagendes. Zugleich scheint die Welt, die seine Epigramme ausleuchten, sich heutigen Lesern unmittelbar zu erschließen (wenn nicht gerade exotische Realien oder nur den Zeitgenossen verständliche Anspielungen den Zugang versperren) – ein Umstand, den nicht allzu viele antike Texte für sich geltend machen dürfen.


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Aus didaktischer Sicht sprechen nicht zuletzt zwei pragmatische Gründe für eine ernsthafte Begegnung mit diesem Autor. Martials Texte sind in der Regel erfreulich kurz, zugleich aber raffiniert ausgefeilt. Die überschaubaren Mühen einer präzisen Erschließung lohnen sie reichlich. An ihnen lässt sich mustergültig das Handwerkszeug üben, wie es gerade der Lateinunterricht den Schülern mit auf den Weg geben sollte – die Fertigkeit, literarische Texte nach allen Regeln der Kunst auszulegen: deskriptiv (in der Beschreibung ihrer Form und Struktur; wer z.B. spricht? aus welcher Perspektive? in welcher Situation?) wie analytisch (als Weg von der sprachlichen Ebene über die metrische und stilistische Ausgestaltung hin zu Inhalt und Sinn des Texts).

Zugleich erfährt das oft noch recht unscharfe oder gar verklärte Bild der Antike in den jungen Köpfen eine willkommene ‚Fokussierung‘ – oder wie die Studenten eines Münchner Martial-Seminars immer wieder mit einem wohligen Stoßseufzer vermerkten: „So hatten wir uns das alte Rom nicht vorgestellt!“

Die entscheidende Frage, welche Gedichte oder Themenkreise aus dieser variationsreichen Fülle im Unterricht zu behandeln sind, erlaubt keine verbindliche Antwort. Diese Fülle bietet aber immerhin die seltene Gelegenheit, eine passende Anthologie mit Blick auf die Kenntnisse, Bedürfnisse und Interessen einer konkreten Klasse zusammenzustellen. Auch wenn es im Einzelfall vielleicht etwas viel Enthusiasmus verlangt von den Lehrenden – das Vergnügen, Martial einmal in Gänze kennenzulernen, sollten sie sich nicht entgehen lassen. Wo die Zeit für das Ideal der Lektüre im Original nicht hinreicht, ebnen zwei vorzügliche neue Bilinguen(4) den Zugang zu diesem Autor (als erste Orientierung und Anregung mag der organisch aufgebaute thematische Überblick im Anhang dienen).(5)

 

Annäherung an den Autor

Da wir etlichen scheinbar autobiographischen Epigrammen zum Trotz über Martials vita herzlich wenig wissen, kann die Einführung in die Person des Autors knapp ausfallen. Erwähnung verdient aber ein in der Sekundärliteratur kaum beachteter Umstand: Nach Martials Ankunft in Rom (er stammt aus dem heutigen Katalonien) vergehen gut zwei Jahrzehnte, bevor er zu publizieren beginnt.


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Mit anderen Worten: als wacher Beobachter saugt er das unerschöpfliche Schauspiel der urbs in sich auf, bis sich nach verspielten ersten Schritten(6) die angestaute Flut seiner Beobachtungen in seinem großen Jahrzehnt (86-96 n.Chr.) Buch für Buch Bahn bricht(7) – ein Prozess, für den wir in der antiken Literatur kaum Parallelen kennen. – Und man darf (hier gewinnt seine Biographie vertraut moderne Züge) an die späte Rückkehr des (aus welchen Gründen auch immer) von der Hauptstadt Enttäuschten in eine ihm fremd gewordene Heimat in der katalanischen Provinz erinnern. Über seine letzten Jahre fällt der tragische Schatten des Scheiterns.(8)

An den biographischen Ausblick schließt eine Beobachtung an, die sich bei geschickter Lenkung der Lektüre den Schülern gleichsam von selbst erschließen wird (es genügt, wenn ‚Ich‘-Gedichte verwandter Perioden aufeinander treffen, deren Informationen sich merklich widersprechen): die heilsame Einsicht, dass das ‚Ich‘ der Epigramme (z.B. in der Selbstinszenierung als Bettelpoet) sich nur bedingt auf die historische Person des Autors Martial übertragen lässt. Weit klarer als etwa bei Catull oder Ovid kristallisiert sich so im Unterricht das fiktive ‚lyrische Ich‘ der modernen Literaturtheorie heraus – und führt den Schülern vor Augen, wie fahrlässig gerade im Falle Martials traditionelle Literaturgeschichte ‚Dichtung‘ und ‚Wahrheit‘ kurzschließt.

 

Themen

Im Folgenden wird keine detaillierte ‚Programmeinheit‘ Martial vorgestellt; vielmehr geht es darum, den Blick auf einige lohnende Themen im Corpus dieses Autors zu lenken.

 

Grundschule

Einen willkommenen Einstieg gerade für jüngere Schüler (Sekundarstufe I) erlauben die beiden Epigramme 9,68 und 10,62, die ein so erheiterndes wie ernüchterndes Bild der zeitgenössischen ‚Grundschule‘ zeichnen.(9) Hier böte sich Gelegenheit zu einem kurzen Ausblick in die Geschichte des abendländischen Elementarunterrichts, wo bis in die Neuzeit hinein stumpfe Paukerei und tyrannische Zuchtmeister das Szepter führten. Als Schlusstableau in dieser ‚Kammer des Schreckens‘ könnte die einschlägige Schulszene aus Michael Endes Jim Knopf stehen, wo Frau Mahlzahn als Karikatur des pädagogischen ‚Drachens‘ die zarten Talente ihrer Schützlinge aufs Unerfreulichste zu schleifen weiß.


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cool

Ältere Schüler dürften sich für die beiden Texte 2,7 und 3,63 erwärmen, die den soziologisch schwer zu fassenden bell’uomo (bei Martial schlicht bellus) der Epoche ‚vorführen‘, einen Typus Mensch, der sich mit zulässiger Simplifizierung im aktuellen Jargon als ‚cool‘ oder ‚angesagt‘ beschreiben ließe, und der außer modischer Fassade und eitler Selbstinszenierung wenig zu bieten hat. Umso spannender, wenn der Kurs Schritt für Schritt die zwischen ästhetischen (mitunter gar erotischen) und sozialen Qualitäten schillernden Konnotationen dieses Begriffs zu umreißen lernt und ein terminologisches Soziogramm entwirft. Zugleich rufen beide Texte gleichsam von selbst nach zeitgemäßer Übersetzung oder ‚Aktualisierung‘ – und warum nicht in Gestalt eigener Nachdichtungen der Schüler?(10)

 

Schenken

Wie irritierend ein Martial-Gedicht zwischen ernster und heiterer Note oszillieren kann, zeigt etwa das Epigramm 5,42. Einem namenlosen Du führt es vor Augen, welchen Wechselfällen irdischer Besitz anheimgegeben ist. Der einzige „auf immer“ sichere Besitz sei der, den man Freunden schenke. In diesem Paradox sieht P. Barié einen epikureischen Topos umgesetzt: die Idee, „dass Schenken bereichert und dass Freundschaft und Freigiebigkeit die einzigen Werte von Dauer sind“ (AU 43/3, 2000, 15). Das ist zweifelsohne richtig – und unter- wie überschätzt zugleich diesen doppelbödigen Text. Denn sein Schlussvers (quas dederis solas semper habebis opes) erinnert frappant an Jesu Wort vom Schatz im Himmel (Lukas 18,22), das einem hellhörigen Beobachter wie Martial in Rom durchaus einmal zu Ohren gekommen sein könnte. Zugleich aber ist das Gedicht schlitzohrige Handlungsanweisung an das namenlose Du: ‚Also her mit den Geschenken!‘ (11)

 

vita beata

Wer sich Texten Martials nähert, in denen er seinen Traum vom einfachen Glück besingt (bes. 2,90 und 10,47), tut gut daran, vorab die Schüler zu befragen, was nach ihrem Dafürhalten ein glückliches Leben ausmache. Manches von dem, was dabei zur Sprache kommen dürfte, lässt sich auch bei Martial dingfest machen. Bescheidenen Wohlstand propagiert der Dichter, maßvoll genossen im Kreise Gleichgesinnter (und am liebsten fernab des Trubels der Metropole), geruhsame Tage ohne lästige Verpflichtungen, ruhigen Schlaf, Gesundheit, vor allem aber Zufriedenheit mit den eigenen Verhältnissen.(12)


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So kommt gleichsam von selbst ein Gespräch über antike und moderne Wertvorstellungen in Gang. Wer dem Thema historische Tiefenschärfe geben möchte, wird die Diskussion mit weiteren Texten bereichern, z.B. aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, aus Lukrez, aus Senecas De vita beata – oder etwa mit Brechts Gedicht Vergnügungen.(13)

 

Patronat

Am ehesten in einem motivierten Leistungskurs könnte eine Institution der römischen Gesellschaft zur Sprache kommen, die in etlichen Epigrammen Martials lebendig wird: das Patronat – die persönliche, informelle Beziehung zwischen Bürgern unterschiedlichen Rangs zum gegenseitigen Austausch von Leistungen und Gütern nach dem Prinzip des do ut des. Der Patron hat (zumindest im Idealfall) stets ein offenes Ohr für die Probleme seiner Klienten; er gewährt ihnen Schutz und Rechtsbeistand; vor allem aber kommt er für ihren Lebensunterhalt auf. Im Gegenzug tragen die Klienten dazu bei, den sozialen Status ihres Patrons zu erhöhen: beim Gang durch die Stadt reihen sie sich in dessen Gefolge, bei öffentlichen Auftritten spenden sie dem Patron Beifall, bei Bewerbungen um politische Ämter geben sie ihm ihre Stimme.(14)

Was den Fall Martials spannend macht, ist nicht allein die Innensicht dieser Institution, sondern die besondere Konstellation – der Klient als Dichter, der in seinem Patron den Mäzen sucht (dass Martial sich der von ihm so plastisch geschilderten Fron des Klienten aus materieller Bedürftigkeit unterwarf, ist unwahrscheinlich). Zwischen den Zeilen wird immer wieder deutlich, welche nicht zu unterschätzende Rolle gerade hochrangige Persönlichkeiten spielten, wenn es galt, einem neuen Autor aus einfacheren Verhältnissen (noch dazu aus der Provinz) den Weg in die literarische Szene der Hauptstadt zu ebnen. Hier bietet sich reichlich Gelegenheit, über die soziale Existenz römischer Autoren nachzudenken und über die verschlungenen Pfade zum publizistischen Erfolg – damit aber auch über Freiheit und Abhängigkeit des Künstlers im antiken Rom.(15)


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Kaiser

Ein zweites, komplexeres Thema gilt der Rolle des Literaten in autokratischen politischen Verhältnissen. In Frage kommen hier v.a. zwei Gruppen von Gedichten: die Epigramme, die sich den öffentlichen Schaustellungen in Amphitheater und Zirkus widmen, ferner jene Poeme, die Martial an die Adresse des Kaisers richtet – Texte, die mit ihrer scheinbar ans Parodistische grenzenden Adulation heutigen Lesern faszinierende Rätsel aufgeben.(16) Um den Blick für die typischen Elemente und Topoi des panegyrischen Genos zu schärfen, aber auch, um zu einem fairen Urteil zu gelangen, sollten hier zwei verwandte zeitgenössische Texte hinzugezogen werden, nämlich Statius’ Silven und der Panegyricus des Plinius.(17)

Es wird sich zeigen, dass die uns so fremd gewordene Form des Herrscherpreises, zumal wenn er sich im Œuvre Martials paradox genug ins linnene Gewand des Epigramms kleidet, durchaus Raum lässt für subtilen Humor. Im berühmten ‚Löwe-Hase-Zyklus‘ z.B. (B. i 6, 14, 22, 44, 48, 51, 60 und 104) verbirgt sich eine kühne poetologische Allegorese, die den Löwen als huldvoll-gnädigen Kaiser aus dem Geiste senecanischer clementia zeichnet, den Hasen aber als seinen zutraulichen Dichter, der den Spielraum seiner ‚Narrenfreiheit‘ (auch und gerade gegenüber dem Herrscher) so frech wie respektlos auslotet – atemberaubende Anzüglichkeiten inklusive.(18)

 

Triebleben

Um ein Thema, für das Martial zu Recht berühmt ist, machen Schulausgaben und Didaktiker durchweg einen Bogen: das römische Sexualleben des ausgehenden ersten christlichen Jahrhunderts, in all seinen Spielarten und Verirrungen. Zu Unrecht. Texten, die noch vor zwei Generationen als unerhört gelten mochten und vor einer Generation immerhin für Verlegenheit gesorgt hätten, werden heutige Adoleszente mit herzhaftem Gelächter begegnen (Schulhof oder Bus liefern täglich den Beweis) – um sich dann mit unbefangener Neugierde genauer auf sie einzulassen.

Zumindest in der Oberstufe sollten Lehrer also die Chance nutzen, ihre Schüler mit einer zuträglichen Auswahl dieser verbotenen Früchte zu überraschen – und sie eine erotische Welt kennenlernen zu lassen, die mit der unsrigen nicht allzu viel gemein hat. Wie dies im Einzelnen aussehen könnte, sei an drei Texten angedeutet.


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6,39  Der gehörnte Gatte

Pater ex Marulla, Cinna, factus es septem
Non liberorum: namque nec tuus quisquam
nec est amici filiusve vicini,
sed in grabatis tegetibusque concepti
materna produnt capitibus suis furta.          5
hic, qui retorto crine Maurus incedit,
subolem fatetur esse se coci Santrae.
at ille sima nare, turgidis labris
ipsa est imago Pannychi palaestritae.
pistoris esse tertium quis ignorat,             10
quicumque lippum novit et videt Damam?
quartus cinaeda fronte, candido voltu
ex concubino natus est tibi Lygdo:
percide, si vis, filium: nefas non est.
hunc vero acuto capite et auribus longis,   15
quae sic moventur, ut solent asellorum,
quis morionis filium negat Cyrtae?
duae sorores, illa nigra et haec rufa,
Croti choraulae vilicique sunt Carpi.
iam Niobidarum grex tibi foret plenus,        20
si spado Coresus Dindymusque non esset.

In einem formal höchst abwechslungsreichen, und mit 21 Versen ungewöhnlich langen Epigramm nimmt Martial einen Cinna aufs Korn (der aristokratische Name signalisiert einen Römer von Stand und voller Traditionsbewusstsein), der in seiner zahlreichen Nachkommenschaft, mit der eine umtriebige Gattin ihm das Haus füllt, das genaue Ebenbild seiner männlichen Dienerschaft wiederfindet, vom Koch über den Ringlehrer bis zum Hausmusikanten. In karnevalesker Parade stolzieren sie vor Cinna und dem Leser einher und erinnern den ohnmächtigen Hausherrn tagtäglich an die Fehltritte seiner besseren Hälfte.

Mit dem unerquicklichen Umstand, dass Cinnas Frau ihm wieder und wieder Hörner aufsetzt, lässt Martial es freilich nicht bewenden. Der Text wimmelt von bösen Seitenhieben, von der Eröffnung (Pater ex Marulla, Cinna, factus es septem / non liberorum, „Cinna, Marulla machte dich zum Vater von sieben – Nicht-Kindern“),(19) bis hin zum Schlussgag: statt sieben Kuckuckskindern säßen Cinna glatte vierzehn im Nest – legte seine Gattin nicht soviel Umsicht an den Tag, ihre Lust am liebsten mit den beiden Hauskastraten auszutoben.(20)

Aber auch der hehre Hahnrei Cinna darf nicht als Unschuld vom Lande gelten, wie zwischen den Zeilen deutlich wird. Er hält sich, offenbar zu mehr als nur sportlichem Nießnutz, einen palaestrita, einen Ringlehrer mit dem sprechenden Hetärennamen Pannychus (‚all night long‘); und der Leser braucht nicht lange zu raten, warum zur großen Sklavenschar auch ein Lustknabe (cinaedus) und zwei Buhlen (oder besser Bullen, spadones) rechnen. Hier sitzt eine saubere Gesellschaft beisammen, die einander verdient hat – und in der man sich nichts schuldig bleibt.


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Was will nun das Gedicht – das nur bedingt realistisch zu lesen ist (das zeigt schon die Anlage als Katalog mit der topischen Zahl sieben)? Vor allem natürlich soll es unterhalten – Männer in der misslichen Situation Cinnas dürfte es genug gegeben haben in der zeitgenössischen guten Gesellschaft. Es nimmt aber auch subtil Stellung zu den Sittengesetzen Domitians, die gerade dem Ehebruch einen Riegel vorzuschieben suchten. Doch warum hechelt Martial einen so skandalösen wie vor allem irrealen Fall durch – das fatal fruchtbare Verhältnis einer domina mit quasi allen männlichen Sklaven ihres stattlichen Haushalts? An der Oberfläche scheint er zu demonstrieren, wie überfällig angesichts solcher Missstände Domitians juristisches Eingreifen war. Doch bei näherem Zusehen geht diese Lesart nicht auf. Soll die Hyperbel am Ende andeuten, Domitian mache aus Mücken Elefanten? Und wie vergebens der kaiserliche Kampf gegen die menschliche Natur sei?

 

11,71 Hysterisch

Hystericam vetulo se dixerat esse marito
et queritur futui Leda necesse sibi;
sed flens atque gemens tanti negat esse salutem
seque refert potius proposuisse mori.
vir rogat, ut vivat virides nec deserat annos,              5
et fieri, quod iam non facit ipse, sinit.
protinus accedunt medici medicaeque recedunt,
tollunturque pedes. o medicina gravis!

Eine wunderbare kleine Szene, eines Molière würdig: der alte Hahnrei und die heiße junge Henne, die mit der Posse einer tödlichen Erkrankung den betagten Gatten dazu bringt, sich freiwillig Hörner aufzusetzen. Vor allem das Herzstück des Gedichts hat in der römischen Literatur kaum seinesgleichen: der Ausbruch der Frau (in indirekter Rede, um das theatralische Moment zu unterstreichen), wenn sie ihrem Gatten als zweite Lukrezia gesteht, lieber sterben zu wollen, als sich dem lebensrettenden Verkehr mit anderen hinzugeben (das gewollt derbe futui unterstreicht ihren ‚Ekel‘ vor der einzig wirksamen Arznei).

Dieses kleine Kabinettstück lehrt uns nicht nur etwas über weibliche List, die sich kenntnisreich moderner Wissenschaft bedient, um die eigenen (begreiflichen) Bedürfnisse durchzusetzen(21) – es wirft auch ein Schlaglicht auf die zeitgenössische Medizin, besonders die Gynäkologie, und das bis ins 19. Jahrhundert aktuelle Krankheitsbild der weiblichen Hysterie.(22)


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1,96 Im Bad

Si non molestum est teque non piget, scazon,
nostro rogamus pauca verba Materno
dicas in aurem sic ut audiat solus.
amator ille tristium lacernarum
et baeticatus atque leucophaeatus,           5
qui coccinatos non putat viros esse
amethystinasque mulierum vocat vestes,
nativa laudet, habeat et licet semper
fuscos colores, galbinos habet mores.
rogabit, unde suspicer virum mollem.         10
una lavamur: aspicit nihil sursum,
sed spectat oculis devorantibus draucos
nec otiosis mentulas videt labris.
quaeris quis hic sit? excidit mihi nomen.

Das Epigramm beginnt mit einem feinen Scherz: Das lyrische Ich redet das (in markanten Hinkjamben gehaltene) Gedicht an, es solle einem Freund, Maternus, ein Geheimnis ins Ohr flüstern – ihm allein. Mit diesem doppelten Kunstgriff (das Gedicht wird lebendig – und zugleich zum gläsernen Boten, dessen vertrauliche Nachricht offen zutage liegt) gewinnt Martial im Handumdrehen die Aufmerksamkeit des Lesers.

Erst dann weist er gleichsam mit Fingern auf eine düstere Gestalt in gedeckten Farben, die nach alter Väter Sitte Mode und Lebenswandel effeminierter Zeitgenossen an den Pranger stellt. Martials Kommentar: Glaub’ ihm kein Wort! Natürlich wollen Maternus und der Leser wissen, warum. Die Antwort: Wir waren zusammen im Bad! Seine verschlingenden Blicke (wobei hier ein Körperteil für zwei andere einspringt) strafen den strengen Sittenrichter Lügen. Sie entlarven den Drei-Groschen-Cato als mollis, als ‚Tunte‘, die sich liebend gerne anderen Männern hingibt (eine Spielart erotischer Betätigung, die bei gestandenen Römern auf wenig Nachsicht rechnen durfte) – und damit, wie Molières Tartuffe, als bösen Heuchler.

Unbeantwortet bleibt nur die Schlussfrage dieses heimlichen Zwiegesprächs: Wer ist es?(23) Es geht Martial – getreu seiner alten Devise parcere personis, dicere de vitiis (10,33,10) – nicht um die einzelne Person, sondern um das Typische der menschlichen Laster. Doch jener Mantel der Anonymität, in den er seine Badebekanntschaft hüllt (sonst empfangen negative Figuren meist einen fiktiven Namen), hat einen beunruhigenden (und gewiss gewollten) Nebeneffekt: Jeder Sittenrichter alten Schlags könnte es sein. Am besten, man traut keinem von ihnen über den Weg.


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Die Rezeption Martials

Als Ahnherr und bis heute unerreichter Meister des Epigramms genießt Martial eine besondere Stellung im abendländischen Kanon. Schon deshalb bietet sich der eine oder andere rezeptionsorientierte Ausblick in die Literaturgeschichte an, in die Spätantike (z.B. Ausonius) und in die Neuzeit, v.a. ins 18. Jh., in dem das Epigramm nicht nur in den Händen Lessings, Goethes, Schillers, und meist auf den Spuren Martials, eine veritable Renaissance erlebt. Die Geschichte des europäischen Epigramms ist auf weite Strecken die Wirkungsgeschichte Martials.(24)

Dem gymnasialen Lateinunterricht sind hier natürlich Grenzen gesetzt. Aber wenn schon die vielgestaltigen Nachdichtungen von Texten Martials in den europäischen Literaturen außer Acht bleiben, so sprechen doch gute Gründe dafür, sich zumindest einmal den von Lessing übertragenen Martial-Epigrammen zu widmen. Ein solcher Vergleich ist überaus lehrreich – er birgt z.B. die Erkenntnis, dass auch ein Meister wie Lessing im Vergleich mit Martials lapidarer Kürze und Würze nicht selten den Kürzeren zieht. Ein prägnantes Beispiel bietet seine Anverwandlung von Mart. 10,8, die so vieles verschenkt.

Zunächst das Original:

nubere Paula cupit nobis, ego ducere Paulam
nolo: anus est. vellem, si magis esset anus.

Und Lessing:

Auf die Magdalis.

Die alte reiche Magdalis
Wünscht mich zum Manne, wie ich höre.
Reich wäre sie genug, das ist gewiß;
Allein so alt! – Ja, wenn sie älter wäre!“ (25)

Eine anspruchsvolle Stunde, vielleicht in Zusammenarbeit mit der Deutschlehrerin oder dem Deutschlehrer, könnte Lessings Theorie des Epigramms untersuchen, die er im Wesentlichen aus Martial heraus entwickelt hat, samt der Frage, inwieweit Lessings Definition des Epigramms Martials Kunst treffend charakterisiert; mit anderen Worten: Martials Werk im Lichte von Lessings Theorie.(26)


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Nach solchen Mühen haben die Schüler Auslauf verdient. Was liegt hier näher als das Angebot, Texte Martials frei zu übertragen, in ein jugendliches Deutsch und eine moderne Vorstellungswelt. Oder gar eigene Epigramme zu zimmern. Vergnüglich wird dies gewiss – auch wenn es nicht allen so gut von der Hand gehen dürfte wie Martials spätem Enkel, Arnfrid Astel:

Parcere personis – dicere de vitiis (27)

Martials Maxime,
die Schweinereien aufzugreifen,
aber die Schweine zu schonen,
wird gewöhnlich als Vornehmheit gedeutet,
manchmal als Feigheit,
obwohl die Angst
vor diesen einflussreichen Persönlichkeiten
durchaus berechtigt war,
aber er wollte die Schweine
ganz einfach nicht verewigen,
diesen wie hieß er doch gleich
Kaiser etwa, strotzend
vor Dummheit & Brutalität.

 

Leseempfehlungen

Die Stadt Rom

XII 57  Symphonie einer Großstadt
I 70     Wege durch Rom I
V 22     Wege durch Rom II

Auf Roms Straßen

Spect. 3     Völkertreiben
VII 61  Rom eine taberna
IX 59   Großer Markt
(ferner : I 41)

Alltag I : Unglücksfälle

III 19   Der trügerische Bär
IV 18   Der Eiszapfen
VIII 75 Am Boden
(ferner : III 24; XII 32 und 77)


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Alltag II : Typische Zeitgenossen

III 63   bellus homo  (vgl. II 7)
VII 95  Bussis  (vgl. XI 98; XII 59)
IX 68   In der Schule  (vgl. X 62; XI 39)
(ferner : XI 84)

Alltag III : Klientenlos

III 38   Eine ehrliche Haut in Rom
X 15     Geschenke?  (vgl. X 29)
XII 29  Lieber hungern  (vgl. III 46)
(ferner : VIII 33; X 70; XI 18)

Der Traum vom einfachen Glück

II 90    Froh zu sein
X 47     Epikureische Ideale
(ferner : III 58; IV 66; X 30; XII 18)

Beim Gastmahl

XII 82  Du hast gewonnen!  (vgl. II 14; II 27)
VIII 67 Der frühe Gast
III 82   (Tri)malchio  (vgl. I 43)
VI 74   „Er betrügt“
IX 25   Ganymed  (vgl. X 98)
I 106    Liebeskummer
(ferner : V 78; VII 20; X 48; XI 52)

In der Arena

VIII 30 Mucius I
X 25     Mucius II
VIII 53 König der Tiere

Triebleben

I 34     Sie will gesehen werden
XI 45   – er nicht
XI 60   Die Feurige, oder die Eisige?
VI 39   Der gehörnte Gatte
XI 71   Hysterisch
XI 22   Knaben I
XI 78   Knaben II
I 96     Im Bad  (vgl. IX 27)
II 51    Nur einer wird satt  (vgl. IX 57)
(ferner : I 92; IV 42 und 43; VII 18 und 58; XI 104; XII 97)


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Der Kaiser

IX 20   An heiliger Stätte
VIII 11 Roms Liebe  (vgl. VIII 21)
VIII 36 Der Palast  (vgl. IX 3)
IX 65   Mehr als Herakles
XI 5     Cato wird Caesarianer
VIII 32 Im Exil
(ferner : Der Löwe–Hase–Zyklus,  I 6, 14, 22, 44, 48, 51, 60 und 104)

Der Dichter

X 64     Lukan
III 44   Rezitationen  (vgl. III 45; III 50)
I 76     Brotlose Kunst  (vgl. X 76)
I 3       Lebewohl, Buch
XI 6     Saturnalien  (vgl. I 35; IV 49; XI 20)
III 68   Durchschaut?  (vgl. II 6; XI 16)
IV 89   Es langt  (vgl. XI 108)
(ferner : I epist.; VII 51; XII epist.)

 

Als biographischer Ausblick : Plinius epist. III 21  (vgl. Mart. X 20)

 

PD Dr. Peter Habermehl
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
Jägerstraße 22/23
10117 Berlin


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(1)   So der Titel der maßgeblichen Studie von J. P. Sullivan: Martial, the unexpected classic, Cambridge 1991.

(2)   P. Barié, AU 43/3, 2000, 14.

(3)   Und zwar für beide Sekundarstufen, erste wie zweite (klassisch: Mittel- und Oberstufe).

(4)   Die lateinisch-englische editio minor von D. R. Shackleton Bailey (Cambridge/Mass. 1993), sowie die lateinisch-deutsche Ausgabe zweier engagierter Schulmeister, P. Barié und W. Schindler (Düsseldorf 1999).

(5)         Die beiden derzeit gebräuchlichen Schulausgaben Martials eignen sich für das im Folgenden skizzierte Programm nur bedingt (F. Stephan-Kühn, Martial, Paderborn 1976; U. Walter, M. Valerius Martialis, Paderborn 1996; ebenso Helmut Offermann, Martial, Epigramme. Parcere personis, dicere de vitiis, Bamberg 2002. Magere Häppchen bieten G. Fink, Sal et acetum. Lateinische Satiren, Parodien und Epigramme, Donauwörth 1981, 51-65; U. Tipp, Satire und Lyrik, Bamberg 1986, 26-30 (u. Kommentarbd. 27-41); M. Keßler, Satire, Spott und Ironie in der lateinischen Literatur, Donauwörth 1993, 77-92). – Didaktische Konzepte zu Martial-Themen finden sich im Altsprachlichen Unterricht (E. Schäfer, Heft 26/3, 1983, 74-95; F. Stephan-Kühn, 26/4, 1983, 22-48; P. Barié / W. Schindler, 38/6, 1995, 53-68; H. Wiegand, ebd. 9-14 und 79-99), v.a. in dem Martial gewidmeten Heft 43/3, 2000.

(6)   Im liber spectaculorum (80 n.Chr.) sowie den Xenia und Apophoreta (um 83/85).

(7)   Soweit sich hier verlässliche Daten rekonstruieren lassen, erscheint die große Serie der Epigrammbücher I-XI im festen, quasi jährlichen Rhythmus: Bücher I und II im Jahr 86 (Martial ist etwa Mitte Vierzig), III 87 n.Chr., IV 89, V 90, VI 91, VII 92, VIII 94, IX und X 95, schließlich XI im Jahr 96.

(8)   Die Frage nach vergleichbaren Schicksalen in der modernen Literaturgeschichte liegt nahe.

(9)   Nützliche Bemerkungen (ohne Realien) zu diesen Texten bei P. Barié, AU 43/3, 2000, 16-17.

(10)  Vgl. K. Neumann, AU 43/3, 2000, 42-45. Dieser wortreiche Anlauf steht philologisch freilich auf tönernen Füßen; er krankt v.a. an seinem unreflektierten Verständnis des Schlüsselbegriffs bellus.

(11)  Dank des fehlenden Namens darf sich von dem ‚Du‘ jeder Leser angesprochen fühlen. – Verständlicher wird dieser Text vor dem Hintergrund anderer Gedichte zum Themenkreis Armut / Bettelei / Geschenke (vgl. im Anhang „Alltag III“, sowie den köstlichen Sketch 12,32).

(12)  Die ironische Note fehlt mitnichten. Auf Martials Wunschliste erscheint auch eine non doctissima coniunx (2,90,9): keine Bildungsmegäre soll ihm seine Tage versauern.

(13)  Diesen heiteren Text bringt V. Rabeneck ins Spiel (AU 43/3, 2000, 28-29).

(14)  In den gängigen Schultexten wird dieser essentielle Bestandteil römischer Wirklichkeit bestenfalls gestreift. Eine unserer wichtigsten Quellen zum Patronat sind die Briefe des jüngeren Plinius; eine bissige Karikatur des pflichtvergessenen Patrons, der seine Klienten bevorzugt vor den Kopf stößt, bietet Juvenals fünfte Satire.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 61

(15)   Hierzu jetzt R. Nauta, Poetry for patrons, Leiden 2002, bes. 37-90.

(16)   Relevante Texte im Anhang zum Stichwort „Der Kaiser“.

(17)   Den historischen Hintergrund vermittelt Tacitus (bes. im Agricola und im Dialogus). Wer einen Ausflug in die Moderne wagt, mag einen der unsäglichen Stalin-Hymnen Johannes R. Bechers dazulegen.

(18)   Lesenswert S. Lorenz, Erotik und Panegyrik. Martials epigrammatische Kaiser, Tübingen 2002 (zum ‚Löwe-Hase-Zyklus‘ ebd. 126-34).

(19)   Natürlich schwingen auch die „sieben Unfreien“ mit – bei Nachkommen der Dame des Hauses mit Sklaven juristisch völlig korrekt.

(20)   Man darf an das berühmte Diktum der Augustus-Tochter Julia erinnern: cumque conscii flagitiorum mirarentur quo modo similes Agrippae filios pareret, quae tam vulgo potestatem corporis sui faceret, ait: numquam enim nisi navi plena tollo vectorem (Macrob. Sat. 2,5).

(21)   Ein vertrautes Phänomen war die Ehe (sehr) junger Römerinnen mit deutlich älteren und alten Männern.

(22)   Die einschlägigen medizinischen Passagen v.a. aus Galen und Soran zitiert N.M. Kay (Martial book XI. A commentary, London 1985) ad loc.

(23)   Irritierend ist der unvermutete Wechsel zur 2. Person (quaeris; vgl. V.10 rogabit). Steht dem Ich hier Maternus vor Augen, oder wird das Gedicht selber neugierig? Zu quaerit wird man kaum ändern.

(24)   Dies zeigt J.P. Sullivan in seiner oben (Anm. 1) zitierten Studie, die etliche Zeugnisse vor allem aus dem angelsächsischen Raum zitiert. – Eine weitere Möglichkeit wäre der Blick auf zwei Quellen, aus denen Martial gerne geschöpft hat, das hellenistische Epigramm und Catull.

(25)   Zu Lessings Martial-Übertragungen vgl. W. Schindler, AU 43/3, 2000, 46-49 (und ebd. 50-51).

(26)   Den Schlüsseltext liefern Lessings „Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten“ (1771).

(27)   Arnfrid Astel, Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme, Frankfurt/M. 1978, 14.