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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 111

Dietrich Stratenwerth

Übersetzen ohne Verrat?

 

Traduttore traditore, der Übersetzer ist ein Verräter, heißt es in einem italienischen Wortspiel, das durch seine Unübersetzbarkeit selbst ein Beispiel für seine inhaltliche Aussage ist. Dennoch kommen wir ohne Übersetzungen nicht aus. Wer möchte auf die Lektüre von Dostojewski oder von Proust verzichten, wenn er nun leider kein Russisch oder Französisch kann? Eine weltumspannende Untersuchung eines vergleichenden Literaturwissenschaftlers über ein literarisches Motiv kann nur mit Übersetzungen geleistet werden. So kann eine Übersetzung zwar das Original nicht in seiner Ganzheit ersetzen, aber dennoch in einem beschränkten Sinne. Etwa so, wie ein Grabungsfoto in der Archäologie, die Aufnahme einer Statue in der Kunstgeschichte oder auch das Foto eines Tatortes in der Kriminalistik für bestimmte begrenzte Fragestellungen durchaus schlüssige Folgerungen ohne Autopsie der Örtlichkeit erlauben.

Im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Transformationen der Antike“ der Humboldt-Universität Berlin 2006 stellte Markus Asper, Professor an der Pennsylvania State University, in einem Vortrag mit dem Titel „Lost in Translation“ sein Konzept einer Übersetzung nach dem „Äquivalenzprinzip“ vor, die dadurch gekennzeichnet ist, dass immer bewusst bleibt, dass sie nur ein unzureichendes Surrogat darstellt. So wie ein Gipsabguss, der nicht geglättet und gefärbt ist, um möglichst wie ein Bronzeoriginal auszusehen, sondern bei dem bewusst die Weiße des Gipses und die durch den Guss entstehenden Grate sichtbar bleiben. Asper führt damit Schadewaldts Prinzip der „dokumentarischen Übersetzung“ weiter, nach dem dieser z. B. bei seiner Homer-Übersetzung auf eine Wiedergabe in Versen verzichtet, die dem Leser ein Dichtwerk vorgaukeln würde, das im Deutschen weder den Rang noch den Klang der homerischen Gesänge haben kann.

Das bedeutet u. a. auch, dass eine in der Ausgangssprache geläufige Metaphorik, die in der Zielsprache vielleicht befremdlich wirkt oder auch unverständlich ist, dennoch unverändert in der Übersetzung erscheint und nicht durch eine dem Leser geläufige Ausdrucksweise ersetzt wird. Um dennoch eine Äquivalenz zwischen Original und Übersetzung zu erreichen, sind dann, wie Asper betont, zusätzliche Erklärungen nötig, die in diesem Beispiel dem Leser das Bild erläutern und klären, dass der Dichter an dieser Stelle keineswegs Anstoß erregen oder dunkel sein will. 


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Die in dem Vortrag angedeutete Möglichkeit, dafür einen Hypertext zu benutzen, hat mich angeregt, dies einmal an zwei Beispielen, einem griechischen und einem lateinischen, zu versuchen. Dabei werden zwei ein wenig unterschiedliche Darstellungsweisen erprobt. Gerade das lateinische Beispiel zeigt die anschaulichen Möglichkeiten auf dem Bildschirm, die auf Papier nicht zu realisieren wären, besonders deutlich. Ich denke dabei vor allem an die virtuose Handhabung der Hyperbata, deren gewissermaßen ornamentale Wirkung auch ein des Lateinischen völlig unkundiger Leser nun erkennen kann. Eine Nachahmung in der deutschen Übersetzung wäre dagegen nicht nur sprachwidrig, sondern auch unverständlich.
 
Es geht in diesem Beitrag nun nicht darum, dass ich hier besonders gelungene Übersetzungen oder gar neue Interpretationen vorstellen wollte, sondern nur darum, das Hypertext-Verfahren für Übersetzungen mit der skizzierten Intention vorzustellen. Bei den Übersetzungen war es deshalb mein Bestreben, so weit wie irgend mit der deutschen Sprache vereinbar, einen Vers der Ausgangssprache mit einer Zeile in der Übersetzung wiederzugeben (schon das ist nicht immer möglich) und auch die Wortstellung dem Original anzunähern, damit der der Ausgangssprache wenig kundige Leser Original und Übersetzung leichter vergleichen kann. Dazu habe ich mir erlaubt, die Kallimachos-Übersetzung von Asper an bestimmten Stellen etwas zu verändern.

Bei Ovid ist die Sache schwieriger. Deshalb stelle ich mehrere Versionen vor. Bei der ersten wird vor allem die Vers-Zeilen-Übereinstimmung angestrebt. Allerdings ist das Deutsch sehr artifiziell, besser gesagt, verkrampft, ohne dass auch nur diese Übereinstimmung vollständig erreicht wird oder gar die entscheidenden Kunstgriffe Ovids –  das Enjambement von corpora und die Verschränkung von Weltlauf  (ad mea ... tempora) und Gedicht (perpetuum ... carmen) in dem vierten Vers – nachgeahmt werden könnten. So scheint mir eine im Deutschen etwas natürlichere Wortstellung (Version II) den Vorzug zu verdienen, da ja die Hypertext-Darstellung erlaubt, dem Leser die Entsprechungen zum lateinischen Original auf bildliche Weise vor Augen zu stellen.

Die dritte Version hat eine ganz andere Funktion: Mit ihrer Hilfe soll den Kindern, die sich im Anfangsunterricht mit Problemen der Kongruenz und verschiedenen Deklinationen herumschlagen, ein Blick in den Himmel der Dichtkunst gestattet werden. Ihnen soll vermittelt werden, wie ein Verskünstler wie Ovid mit diesen Möglichkeiten der lateinischen Sprache zaubern kann. Die Übersetzung selbst zielt deshalb auf unmittelbare Verständlichkeit für Kinder. Zunächst dient der Hypertext als Präsentation bei einem Lehrervortrag. Der Lehrer weist auf ausgewählte Zusammenhänge durch Überstreichen geeigneter lateinischer oder deutscher Wörter hin und erläutert deren Funktion im Hinblick auf Ovids Werk. Dann aber sollte die Präsentation auch den Schüler/innen auf ihren Computern zur Verfügung stehen, damit sie die Möglichkeit haben, das Ganze noch einmal in Ruhe nachzuvollziehen und sich die schriftlichen Erläuterungen dazu aufzurufen.


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Zu wünschen ist übrigens, die Schüler/innen, die nun die Einleitung zu Ovids Werk kennen gelernt haben, zumindest mit einem Beispiel aus den Metamorphosen bekannt zu machen, indem man entweder aus einer Übersetzung vorliest oder, wenn das Lehrbuch selbst ein Beispiel enthält, diese Präsentation dessen Behandlung voranstellt.

Anlagen (*.exe-Dateien):
Übersetzung Kallimachos
Übersetzung Ovid 1
Übersetzung Ovid 2
Übersetzung Ovid 3

 

Dietrich Stratenwerth
e-mail: stratenwerth@t-online.de