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Peter Hibst

Von der Kunst, die Zukunft zu gestalten
oder: Lernen, in Utopien zu denken -
Die Utopia des Thomas Morus im Lateinunterricht. Bildungsgehalt und didaktische Bedeutsamkeit


Das doch vielfach noch unbestellte, im Lateinunterricht der Schulen sicher – wenn überhaupt, dann doch – weit unterrepräsentierte Feld des Neulateinischen in der Weise zu bestellen, dass daraus Lektüreanregungen resultieren, die für den Lateinunterricht bedeutsam und dort umsetzbar sind, darf sicher als anspruchsvolle Aufgabe gelten. Wie aus dem reichen Reservoir von Texten das Passende herausfiltern, immer bemessen nach pädagogischer und  didaktischer Dignität und Relevanz, nach dem Bildungsgehalt der Texte?

Der Blick auf diverse Rahmenlehrpläne des Faches Latein für die Sek. I und II erweist sich dabei als wenig hilfreich: Zwar sind die Bereiche Nachleben und Rezeption des Lateinischen und seiner Literatur dort häufig als obligatorisch ausgewiesen, doch sind Hinweise auf möglicher- oder notwendigerweise zu behandelnde neulateinische Texte selten ausfindig zu machen. Allein in NRW trifft man auf eine etwas günstigere Situation, ist doch dort in der Qualifikationsphase (Jg. 12/13) die Möglichkeit eingeräumt, in einem der Schulhalbjahre mittel- und/oder neulateinische Texte in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, was auch für die Sek. I gilt, und ist dort als einer der für das künftige Zentralabitur wählbaren Autoren - freilich nur für den LK-Bereich - Thomas Morus` Utopia angegeben.

Thomas Morus und seine Utopia! Das könnte doch in der Tat etwas sein, was es wert wäre, hier unter dem Aspekt einer interessanten und lohnenden Lektüre im Lateinunterricht behandelt und vorgestellt zu werden. Sicher dann nicht zuletzt auch deshalb, weil es zu diesem Werk schon didaktische Analysen, Textausgaben und Kommentare für den Lateinunterricht gibt, demnach Materialien vorliegen, die zu eigenem Tun anregen können und einen Fundus für unterrichtliche Vorbereitungen darstellen.

Der Umstand, dass ich vor nicht allzu langer Zeit bei meiner Zeitungslektüre in ganz eindringlicher Weise auf den Utopie-Begriff stieß und mich mithin seiner aktuellen Brisanz versichern konnte, hat meine Entscheidung dann unumstößlich werden lassen, ein wenig über den didaktischen Wert und Bildungsgehalt ebendieser Utopia des Thomas Morus vorzutragen, auch um dazu anzuregen, sich mit diesem spannenden, witzigen und intellektuell bereichernden Text mit Blick auf eine Thematisierung im Lateinunterricht zu befassen.

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Utopisches Denken

Zunächst, wie versprochen, zurück zu den Befunden, die meine Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre gezeitigt hat.

Kürzlich klagte ein Essayist in der TAZ über „schlechte Zeiten für die Zukunft“. Er begründete seinen Pessimismus mit dem „Utopieverlust unserer Kultur“. In einem längeren Artikel der Zeit war zu lesen, dass „große Utopien nicht mehr zu haben“ seien und damit die Gefahr des Verlustes gesellschaftlicher Liberalität einhergehe.(1)

Utopie ist also durchaus ein Thema unserer Zeit, und zwar ein offensichtlich positiv besetztes: Klage wird darüber geführt, dass utopisches Denken fehle. Gerade so, das ist diesem Gedanken inhärent, als könne es in unserer Gesellschaft heilsame Wirkungen hervorrufen. Ich glaube das auch, als denkender, politisch interessierter Mensch und vor allem als Pädagoge, dessen Profession im erzieherischen und bildenden Umgang mit jungen Menschen besteht.

Klimakatastrophe, Reformstau, Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung, Terrorismus, Auflösung ehemals selbstverständlicher sozialer Strukturen (Krise der Familie, Ende des Generationenvertrages), krisenhafte, kriegerische Konflikte in der Welt: Am Horizont unserer Tage sind das nur einige der Schlaglichter, die Zukunftsangst auslösen können. Die Folge –  gerade bei den jungen Menschen, die nach Orientierungen suchen, welche wir ihnen vermitteln wollen – sind häufig Unsicherheiten und Fluchtverhalten.

Das Wiederbeleben utopischen Denkens – nicht verstanden als träumerisches, weltfremdes, sondern als realitätskritisches und damit zukunftsorientiertes Denken –, die Kraft der Utopie, die vernunftgeleitetes, auf Veränderung gerichtetes Verhalten evozieren und dynamisieren kann, scheint mir ein geeignetes Mittel zu sein, jungen Menschen dabei zu helfen, ihr Leben gestaltend in die Hand zu nehmen, ihre Lebensbedingungen zu reflektieren und zu verbessern. Meiner Meinung nach kann der Lateinunterricht, in seinem modernen Gewand und Selbstverständnis, dazu gute Dienste leisten, vor allem auch dann, wenn er sich der Lektüre der Utopia des Thomas Morus widmet. Dass das so ist und wie das sein kann, will ich im Folgenden aus meiner Sicht darlegen.

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Die Utopia nimmt in der fachdidaktischen Diskussion und auch im Rahmen der Lehrpläne und Richtlinien allenfalls eine Nebenrolle ein. Die didaktische Dimension des Werkes hat, wenn ich es recht sehe, bisher nur Klowski thematisiert, mit zwei Aufsätzen, einer gediegenen Textausgabe, mit einem Lehrerkommentar und einem unter seiner Federführung entstandenen AU-Heft (30 (1987), H. 2). Die latinistische Forschung weist aus, dass die Utopia viele verschiedene Facetten hat. Die unterrichtliche Behandlung der Utopia ist ja gerade auch deshalb so interessant, weil es die eine Interpretation, den einen Zugang zu ihr, die einzig richtige Textauswahl, nicht gibt. Man wird nur ein Angebot machen können, vieles wird sich aus dem unterrichtlichen Diskurs in Abhängigkeit von den ausgewählten Textstellen und den Interessen der Schülerinnen und Schüler ergeben.

 

Entstehung und Inhalt der Utopia des Thomas Morus

Wie dem auch sei: Die Utopia gehört also wohl noch längst nicht in den klassischen Kanon der Literatur des lateinischen Lektüreunterrichtes, und doch will ich deutlich machen, dass sie einen Platz dort verdient hätte. Denn sie kann Schülerinnen und Schülern, die sich mit lateinischer Literatur beschäftigen, interessante Einsichten und Perspektiven in weiten Zusammenhängen ermöglichen. Dies zu zeigen, bedarf es auch eines kurzen Überblickes über die Entstehung und den Inhalt des Werkes. Ich will mich dabei kurz fassen und auf die Aspekte beschränken, die ich für didaktisch erheblich halte.

Die Utopia ist ein erzählter Dialog mit Morus als dem Ich-Erzähler, der jedoch auch als Dialogpartner fungiert. Morus ist als Mitglied einer Gesandtschaft des Königs Heinrich VIII. im Mai 1515 in die Niederlande gereist. Das Ziel war die Erneuerung des Handelsvertrags, der vor allem den englischen Wolllieferungen für die flandrischen Tuchhersteller galt. Die durch eine Unterbrechung der Verhandlungen frei gewordene Zeit verbrachte Morus vor allem in Antwerpen, um dort den Humanisten Petrus Aegidius kennen zu lernen. Es kam zu einer fruchtbaren Begegnung und zahlreichen längeren Gesprächen, aus denen der erste Entwurf der Utopia hervorging.

Dieser voll in die endgültige Fassung übernommene Entwurf hat neben einer Einleitung im Wesentlichen das heutige zweite Buch umfasst: Nach einem Besuch der Messe in der Marienkirche sieht Morus seinen Freund Aegidius, der sich in einem Gespräch mit Raphael Hythlodaeus (in der Namensgebung zeigt sich bereits Morus’ Witz), einem weit gereisten Humanisten mit besonderem Interesse an der griechischen, vor allem platonischen Philosophie, befindet. Dieser hat Amerigo Vespucci auf seinen letzten drei Weltreisen begleitet, um schließlich nicht mehr mit diesem zurückzukehren, sondern fünf Jahre lang auf der neu entdeckten Insel Utopia zu bleiben. Morus lädt ihn zu sich ein, um sich über den Staat der Utopier ausführlich berichten zu lassen.

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Die Schilderung dieses Staates erfolgt in locker anreihender, narrativer, dabei übersichtlicher Art in Form eines durchgehenden Berichtes des Hythlodaeus. Zuerst beschreibt dieser die Insel mit dem Hafen, die Städte, die Lebensweise der Bevölkerung. Nach der Erörterung der staatlichen Institutionen, der Handwerker und der sozialen Beziehungen berichtet er über den Handel, die philosophischen und moralischen Auffassungen der Utopier und manches andere, um sich abschließend noch in je einem Kapitel dem Kriegswesen und der Religion der Utopier zuzuwenden.

Da der erste Entwurf der Utopia eine in sich abgerundete Schrift darstellt und Aegidius erwartet hatte, bald nach Morus’ Rückkehr nach England das fertige Buch zugeschickt zu bekommen, stellt sich die Frage, warum Morus den ersten Entwurf beträchtlich erweitert hat, so dass er das endgültige Produkt erst etwa ein Jahr nach seiner Rückkehr zuschicken konnte.
Für die Erweiterung gibt es einen äußeren Anlass: Bei seiner Rückkehr erhielt Morus von Heinrich VIII. die Aufforderung, als juristischer und politischer Ratgeber in seine Dienste zu treten. Damit war Morus vor eine schwierige Entscheidung gestellt, die er in ihrem Für und Wider gründlich durchdacht hat, was auch an einigen Stellen der endgültigen Fassung der Utopia deutlich wird.

Hythlodaeus geht in dieser Fassung nicht mehr unmittelbar nach der Einleitung zu der Schilderung des Staates der Utopier über. Er wird vielmehr von Aegidius gefragt, warum er bei seinem Wissen und seiner Welterfahrung nicht in die Dienste eines Königs trete. Durch diese Frage wird der Dialog in Gang gesetzt, der den Hauptinhalt des ersten Buches bildet. Hythlodaeus’ Auffassung von einem gesellschaftspolitischen Alles oder Nichts lehnt Morus entschieden ab. Er unterscheidet zwischen einer philosophia scholastica und einer philosophia civilior. Der ersteren hänge Hythlodaeus an, der letzteren er selbst. Hythlodaeus wolle gleichsam immer mit dem Kopf durch die Wand. Er selbst halte es für unverantwortlich, dass man, wenn man die Übel im Staate nicht mit der Wurzel ausreißen könne, es nicht wenigstens versuche, den Staat vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Thema des ersten Buches ist in erster Linie die harte und grausame historische, politische und gesellschaftliche Realität, vor deren Hintergrund die Schilderung „idealer“ Zustände in Utopia verstanden werden muss. In scharfer, ironischer und satirischer Form wird Kritik an den sozialen Missständen im zeitgenössischen England und Europa geübt. Kritisiert werden die machthungrigen und nur am eigenen Nutzen orientierten Herrscher mit ihrer unmoralischen, irrationalen Neigung zum Kriegführen, die verderblichen und korrupten Hofschranzen und die faulen Edelleute und Kleriker.

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Der größte Teil der Kritik ist freilich jenem Teil der Reichen und Adeligen gewidmet, der, nur auf seinen materiellen Vorteil bedacht, den Ackerbau auf seinen Ländereien immer mehr zugunsten der lukrativen Schafzucht aufgibt und so einen erheblichen Teil der Landbevölkerung aus seinem angestammten Lebensraum verjagt und ins Elend bringt. Darin sieht Raphael einen der Hauptgründe für die Verelendung eines Teils der Landbevölkerung.

Das Unrecht liegt für ihn in der Ungleichheit begründet, eine geradezu moderne Auffassung, aus der sich die Kritik an der häufig unangemessenen Rechtsprechung mit drakonischen Strafen – selbst einfache Diebe werden gehenkt – ergibt. Hythlodaeus führt die Argumentation gegen diese Rechts- und Gesellschaftsordnung ins Extrem, indem er politische und gesellschaftliche Missstände allgemein auf ökonomische Ursachen zurückführt, um dabei den Privatbesitz anzuprangern und für das Gemeineigentum Position zu ergreifen. Jedoch nicht als Urvater des Kommunismus: Vielmehr gemahnen fundamentale Strukturen der Gesellschaftsordnung Utopias an Schlüsselbegriffe der Aufklärung: Das gesamte System Utopias ist auf allen Ebenen vom Vernunftprinzip durchdrungen. Die Gesellschaftsordnung folgt den Gesetzen der praktischen Vernunft im Einklang mit der Natur. Nach Morus’ Auffassung ist eine solche Ordnung aber nur in Utopia, im Nirgendwo, möglich, nur dort sind alle Menschen frei von Habgier, Hochmut, Ehrgeiz und Machtstreben. Praktisch ist eine solche utopische Ordnung unmöglich: Um eine solche Ordnung zu schaffen, müsste der Mensch gut sein, was aber nur möglich ist, wenn eine solche Ordnung vorhanden ist: Eine Aporie! Das Privateigentum jedenfalls hält Morus für die conditio sine qua non eines geordneten Gemeinwesens, Hythlodaeus hingegen meint, das könne nur behaupten, wer Utopia nicht kennen gelernt habe. Damit wird die Verbindung zum Bericht über Utopia hergestellt. Hythlodaeus wird aufgefordert, ausführlich über diese Insel zu berichten, was er dann in der beschriebenen Weise (2. Buch) auch tut.

War der erste Entwurf noch eine schwerelose Phantasmagorie, der der Hintergrund fehlte, von dem her die Verhältnisse in Utopia einen Realitätsbezug erhalten konnten, so ist dieser in die endgültige Fassung mit einbezogen. Dergestalt hat Morus es geschafft, seinem Werk eine Spannung zu verleihen durch die spiegelbildlichen Gegensätze von Realität und Idealität, welch letztere freilich in sich selbst wiederum eine fragwürdige ist, wie Morus zeigt. Denn neben den Lichtseiten Utopias stellt er auch deren Schattenseiten heraus, die nicht allein in der Gütergemeinschaft bestehen.

Dazu ist fraglos vor allem die große Gängelung zu zählen, der die Utopier unterworfen sind und die sich besonders im Fehlen der Freizügigkeit zeigen – Indiz eines totalitären Staates. Wer seine civitas verlassen will, um etwa Freunde zu besuchen, bedarf behördlicher Genehmigung. Jeder Reisende erhält die Auflage, überall dort, wo er sich länger als einen Tag aufhält, das tägliche Arbeitsquantum abzuleisten. Prinzipien sozialer Kontrolle: Orwell läßt grüßen.

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Und dann die Sklaven! Auf Utopia existiert Sklaverei, eine Einrichtung, die in Morus’ England wie überhaupt im Europa des 16. Jh. bereits obsolet war. Allein, sie gehört zwangsläufig zu der utopischen Staatskonstruktion. Denn die Utopier können das ihnen zugeschriebene Leben nur aufgrund der Sklaven ungetrübt führen. Diese nehmen ihnen die schwere Arbeit auf dem Lande, beim Straßenbau sowie in den Steinbrüchen und die Schmutzarbeit in den Gemeinschaftshallen ab.

Und noch der Krieg! Auch er ist auf Utopia institutionalisiert, ganz im Sinne des bellum iustum zwar legitimiert, aber doch auch mit einer weiten Interpretabilität bis hin zur Unterwerfung anderer, das Glück der Utopier gefährdender Völker.

Am Schluss seines Berichtes allerdings preist Hythlodaeus dieses Staatswesen, insbesondere das dortige Gemeineigentum, noch einmal mit allem Nachdruck und kritisiert in vehementer Form alle anderen staatlichen Ordnungen. Morus betont demgegenüber – und damit schließt das Werk –, dass ihm einiges in Utopia inakzeptabel erscheine, insbesondere die gesellschaftsformierende Gütergemeinschaft. Dennoch halte er viele Einrichtungen der Utopier für nachahmenswert und wünsche, dass sie von den Europäern übernommen würden. Diese Haltung ist unterrichtspädagogisch und didaktisch von Wert: kritische Ablehnung einerseits, Übernahme des Positiven andererseits, ganz im Sinne eines rationalen Abwägens.

Die Reaktionen der prominentesten Humanisten des damaligen Europa auf die Utopia waren äußerst positiv, und dieser Beifall ist bis heute nicht verklungen. Dieser Tatbestand ist für die Bedeutung des Werkes und damit auch für seinen didaktischen Wert, seinen Bildungsgehalt, nicht unerheblich: Gehörten doch die Befürworter der Utopia den unterschiedlichsten Lagern zu. Dies macht die nur vordergründige Einfachheit, in Wahrheit jedoch ausgeprägte Komplexität und Bedeutungsfülle des Werkes, die sich zwischen Literatur und Philosophie, zwischen dichterischer Phantasie und politisch-philosophischer Reflexion bewegt, deutlich, die bei einer umfassenden Interpretation zugleich mit den christlichen, reformerischen und idealstaatlichen Vorstellungen und der Trias der politischen, humanistischen und religiösen Perspektive des Thomas Morus berücksichtigt werden müssten. Sicherlich wird man dabei zeigen können, dass die Utopia von Morus nicht als Programmschrift im Sinne eines zu verwirklichenden Idealstaates gedacht war und dass Morus selbst sich nicht als Utopist verstand. Bei der Utopia hat man es in erster Linie mit einem experimentum rationis zu tun, bei dem Morus’ Neigung zu Scherz und Ironie eine wesentliche Rolle spielt. Die Mischung von Scherz und Ernst durchzieht den Text in allen seinen Schichten. Es handelt sich gerade auch insofern nicht allein um einen bildenden, sondern auch um einen unterhaltsam-amüsanten Text.

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Das erste Buch der Utopia mit seiner Kritik an sozialen und politischen Missständen steht im Kontrast zum zweiten Buch mit seiner Schilderung "idealer" Zustände in Utopia. Darin liegt die beabsichtigte Wirkung der unterschiedlichen Konzeptionen der beiden Bücher. Die eigene historische Realität lässt sich am Inhalt des zweiten Buches wie an einem Maßstab messen. Es ist dabei – und das ist didaktisch und unterrichtspraktisch erheblich – nicht so wichtig, wie der einzelne Leser/die einzelne Leserin konkret zu den von Morus erdachten Zuständen in Utopia steht, wichtiger ist, dass er/sie die Absicht versteht, die mit diesem Werk verbunden ist, nämlich die eigene Welt kritisch prüfend an diesem imaginären Maßstab zu messen, sich der eigenen historischen Realität bewusst zu werden und bessere Möglichkeiten und Wirklichkeiten mit Vernunft zu diskutieren. Dies entspricht einem wichtigen Ziel der Beschäftigung mit der Utopia im lateinischen Lektüreunterricht, nämlich dem, in Utopien denken zu lernen. Ich komme später darauf zurück.

Die utopische Gesellschaftsordnung jedenfalls ist von rationalen Prinzipien durchdrungen. Utopia ist deshalb eine bessere Welt, weil sie auf menschlicher Vernunft gründet. Auch wenn deutlich ist, dass dieser Vernunfttypus auf Traditionen von Platon bis zur Stoa ebenso zurückgreift wie auf Elemente mittelalterlicher Theologie und Philosophie, so ist doch auch klar, dass die Utopia ebenfalls ein Ausdruck des in der Renaissance gewachsenen Vertrauens in die Vernunft ist. Ziel des vernunftgemäßen Handelns ist das persönliche Glück: Die Utopier folgen einer eudaimonistischen Lebensauffassung. Dabei scheint ihnen das Glück des Einzelnen nach vernünftiger Einsicht nur dann realisierbar, wenn jedermann daran teilhat: Deshalb ist die Gleichheit aller Voraussetzung ihrer gesellschaftlichen Ordnung.

Gleichheit bedeutet den Utopiern nicht Uniformität im Denken. Sie kennen und praktizieren religiöse Toleranz und sehen in ihr ein Gebot der praktisch-politischen Vernunft. Vernunft, Natur, Glück, Gleichheit, Toleranz sind die untrennbar miteinander verflochtenen Leitkategorien ihrer Gesellschaftsordnung; und wir, das heißt aber auch die Schülerinnen und Schüler, sind dazu aufgefordert, die Kategorien der utopischen Welt kritisch mit unserer eigenen Gesellschaftsordnung und ihrem Wertesystem zu vergleichen.

Dem Menschen werden die Fähigkeit und die Aufgabe zugesprochen, die ihn umfassende Ordnung immer wieder kritisch zu überprüfen, mit seiner Vernunft Missstände zu korrigieren und menschenwürdige Zustände herbeizuführen. Dieser Appell meint nicht, dass Utopia in der Realität kopiert werden könnte oder sollte. Vielmehr verleiht die grundsätzliche Auffassung, dass die Welt etwas ist, das verändert und verbessert werden und man diese Veränderungen und Verbesserungen vernünftig begründen kann, der Utopia ihre immer wieder neue Aktualität.

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Eignung der Utopialektüre für den Schulunterricht

Der historisch-literarische Wert eines Werkes alleine garantiert noch nicht dessen Eignung für den Schulunterricht, hier speziell den lateinischen Lektüreunterricht. Es muss auch dem Fassungsvermögen und den Interessen der Schülerinnen und Schüler entsprechen.

In sprachlicher Hinsicht ist dies bei der Utopia mindestens so gut gewährleistet wie bei der Lektüre antiker Autoren, wobei eine von mir an exemplarischen Textauszügen der Utopia-Ausgabe Klowskis vorgenommene Schwierigkeitsanalyse ausweist, dass nach einer an einer Basisgrammatik ausgerichteten Spracherwerbsphase etwa 95 % der grammatikalischen Phänomene erfasst werden, so dass der Rest - etwa relativische Verschränkungen, Relativsätze im Konjunktiv, Supinum II, Imperativ Futur - leicht in lektürebegleitendem Grammatikunterricht geklärt werden kann. Hinsichtlich der Semantik ist es realistisch, etwa 80 - 85 % des Wortbestandes als potenziell bekannt vorauszusetzen, legt man herkömmliche Lehrbücher zugrunde. Der Rest des Vokabulars ist insbesondere Schülerinnen und Schülern der S II, die im Umgang mit dem Wörterbuch geschult sind, leicht zugänglich, im Übrigen leistet der Schülerkommentar Klowskis hier Wesentliches.
Insgesamt jedenfalls ist der humanistische Wortschatz der Utopia – und dies gilt entsprechend für die Grammatik – fast ganz antiken Ursprungs, Vokabeln und Grammatik sind fast ganz klassisch, wenn man das klassische Latein nicht nur auf Caesar und Cicero beschränkt. In der Form freilich richtet sich Morus nicht allein am klassischen Vorbild aus, vielmehr macht die Lektüre des Werkes deutlich, dass Morus mit der lateinischen Sprache, die für ihn eine langue vivante und, einem Intellektuellen des 16. Jh. gemäß, auch eine langue parlée war, kreativ umgegangen ist. Die Utopia ist durchaus eine originäre Sprachschöpfung, ein erhebliches Argument für eine Originallektüre.

Die Utopia und mit ihr die lateinische Literatur des Humanismus überhaupt stellt für die moderne Latinistik eine besondere Herausforderung dar. Dies gilt sicherlich auch, unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten didaktischer Reduktion, für den Lateinunterricht. Mit Blick auf den Lehrplan unseres Faches für die gymnasiale Oberstufe in NRW ist dabei herauszustellen, dass die Obligatorik vorsieht, dass die gelesenen Texte in einem Halbjahr überwiegend zur nachklassischen Latinität (Spätantike bis Neuzeit) gehören sollen. Die Humanisten schöpfen dabei ganz bewusst aus dem Fundus der antiken Klassiker – Morus etwa aus Platon, Cicero, Lukian. Mit Hilfe der historischen Kommunikation mit humanistischer Literatur kann folglich den Schülerinnen und Schülern der Zugang zu den antiken Klassikern vermittelt werden, umgekehrt können diese antiken Klassiker in den Werken der Humanisten aufgespürt werden.


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Gerade die Literatur des humanistischen Latein ermöglicht also Einsichten in die Inhalte und Methoden des Lernbereichs "Rezeption und Tradition". Dabei darf die Utopia in mehrfacher Hinsicht zu den klassischen Werken des humanistischen Latein gezählt werden. Von ihr leitet sich eine neue Literaturgattung, deren Prototyp sie ist, sowie ein neues politisches Denken her. Sie hat viele Nachahmer gefunden und weitere Literaturgattungen mit hervorgebracht, wie die Anti-Utopie/Dystopie und die Science fiction. Ihre Rezeption dauert bis auf den heutigen Tag an. Ihre zeitgenössische Entstehung und Frührezeption fand im Umfeld der intellektuell bedeutendsten Repräsentanten des 16. Jh. statt – man denke nur an die Rolle des Erasmus bei der Redaktion des Werkes – und ist ein exponiertes Beispiel für die Intellektualität des 16. Jh. als einer wesentlichen Epoche des abendländisch-europäischen Geisteslebens. Dass Morus zu den großen und vorbildlichen Persönlichkeiten der europäischen Tradition gehört, sei ebenfalls ausdrücklich hervorgehoben.

 

Didaktische Legitimation

Reicht der Appellwert eines Textes freilich noch so wenig aus wie die schlichte Tatsache seiner Latinität, um seine Originallektüre didaktisch zu rechtfertigen, so ist diese Legitimation jedoch gegeben, wenn die besondere lateinische Form als bewusster Stilwille des Autors hinzutritt, wovon man bei Morus’ Utopia sicher ausgehen darf. Freilich ist bezüglich der Utopia schon der Umstand für sich wichtig, dass Latein die originale Sprache der Schrift ist. Ein eigenes Urteil nämlich wird man sich nur dann machen können, wenn man den Text im Original liest, denn wie immer muss man damit rechnen, dass man sonst das Werk und Morus’ Intention mit den Augen des Übersetzers und Interpreten sieht, ein Missstand bei einem so vielschichtigen und polyvalent zu deutenden Werk wie der Utopia. Eben dies: sich ein eigenes Urteil bilden zu können, ist hinsichtlich der Utopia von besonderer Wichtigkeit, da die Interpretationen dieses Werkes recht stark divergieren.  Die Fülle der verschiedenen Interpretationsansätze ist beachtlich. Hinsichtlich der Absicht, das Werk für die Schullektüre zu erschließen, ist der Hinweis auf die Interpretabilität wichtig, die allein schon ein Kriterium für die didaktische Legitimation der Werklektüre ist, da sie ja die Mehrschichtigkeit und - deutigkeit, kurzum: die Multiperspektivität des Werkes impliziert.

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Ziele der Utopialektüre

Eine Zielsetzung der Beschäftigung mit der Utopia – und damit komme ich auf meine Eingangsäußerungen zurück – könnte in dem bestehen, was schon Klowski als Ziel der Lektüre dieses Werkes formulierte: Den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, in Utopien zu denken. Auch im heutigen Unterricht werden Utopien der unterschiedlichsten Art behandelt, sei es in Deutsch, Englisch, Politik, Geschichte. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler komplexe Wunschvorstellungen oder Alpträume kennen. Aber auch Allgemeineres vermag diese Beschäftigung zu vermitteln: Alles zu hinterfragen, eigene Wunschvorstellungen und die anderer an der Realität oder den historischen, gesellschaftlichen, subjektiven Realitäten zu messen.

Das Lernziel, Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, in Utopien zu denken, kann nicht bedeuten, abfrag- und abprüfbares Wissen zu erwerben. Das Eigentliche dieses Zieles gehört ja gerade – in der Sprache der Lehrpläne – zum Anforderungsbereich III „Urteilen und Werten“. Bevor dies geleistet werden kann, muss aber ein eindeutig erfassbarer „Stoff“ erarbeitet worden sein. Abgesehen von den sprachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten gehört dazu zumindest in der gymnasialen Oberstufe vor allem das Wissen über die Hauptrichtungen der Interpretation der Utopia. Insbesondere werden die Schülerinnen und Schüler in einem pluralistisch angelegten Unterricht dann auch die meines Erachtens naheliegende Interpretation erfahren, die von dem Umstand ausgeht, dass Morus ein überzeugter Christ war und daher für ihn ein heidnischer, allein den Gesetzen der Vernunft unterworfener, den Wahrheiten der Offenbarung verschlossener Staat wie Utopia kein Ideal der Glückseligkeit darstellen konnte, sondern von ihm als eine Gemeinschaft voller Unvollkommenheiten, Torheiten und Absurditäten gesehen werden musste.
Das Unternehmen, die Utopia im unterrichtlichen Zusammenhang zu erschließen, sollte davon ausgehen, in Morus den offenen Humanisten zu sehen, der davon überzeugt ist, dass das menschliche Leben von der Vernunft geleitet werden sollte, zugleich jedoch weiß, dass nur dann Verbesserungen und Fortschritte erzielt werden, wenn man den Eingebungen der Vernunft mit genügend kritischer Distanz begegnet.

Darin wird die Ambivalenz der Utopia greifbar. Einerseits bedarf es der Zuversicht in die menschlichen Möglichkeiten, des Vertrauens in die Vernunft, der Faszination durch solche radikalen und in sich konsequenten Entwürfe, wie sie ein Verstandesmensch von der Art des Hythlodaeus hervorbringt. Andererseits lässt sich auch die These Poppers auf die Utopia anwenden, die besagt, dass, wer den Himmel auf Erden herzustellen versuche, die Hölle schaffe, also davon ausgeht, dass jeder Versuch, Staat und Gesellschaft von Grund auf umzugestalten und neu zu konstruieren, zum genauen Gegenteil führen kann, ja muss. Dialektisch kann aus beiden Ansätzen die Synthese abgeleitet werden, dass utopisches Denken auf die Möglichkeit partieller Korrekturen und substantieller Reformen verweist. Eben dies kann beim Lernen, in Utopien zu denken, erreicht werden: Zu erkennen, dass es eines Vorbehaltes, zumindest aber einer Vorsicht gegenüber jeder Totalkritik bedarf. Schülerinnen und Schüler sollen und können erkennen, dass der Umgang mit Utopien eine differenzierte Auseinandersetzung und skeptische Rationalität, und zwar sowohl gegenüber der Utopie als auch gegenüber der Realität, fordert.
Um dies Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, wird man je nach Alter und Vorbildung sehr verschieden vorgehen. Dafür lassen sich im Einzelnen schwer Ratschläge geben.

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Plant man, die Utopia in der S I – wohl frühestens aber in der Klasse 10 und hier wohl am ehesten in Klassen mit Latein ab 5 oder besseren Klassen mit Latein ab 7 – zu lesen, so wird man mit Gewinn die diesbezüglichen Ausführungen im NRW-Lehrplan lesen. Es empfiehlt sich, mit dem 2. Buch zu beginnen, sich ggf. sogar auf den übersichtlichen und gut gegliederten ersten Teil dieses Buches zu beschränken. Dieser Teil, durch Klowskis Ausgabe zugänglich, bietet eine anschauliche Schilderung von Utopia. Beschrieben werden die Geographie der Insel mit ihren Städten, die politischen Institutionen, das Leben auf dem Lande und in den Städten, ferner Arbeit und Muße der Utopier, ihre sozialen Beziehungen, ihr Wirtschaftsleben. Diese anschaulichen Inhalte ermöglichen genügend Anregungen zu Überlegungen und zu Diskussionen. Da gibt es den sechsstündigen Arbeitstag, die farblose Einheitskleidung, die Pflicht, alle zehn Jahre die Wohnungen zu tauschen. Neben der Lektüre dieses Teiles sollten Referate der Schülerinnen und Schüler einen Überblick über das Gesamtwerk bieten. Aus unterrichtlicher Erfahrung ist es interessant, die Auswahl und die Reihenfolge der Themen von der Richtung her zu bestimmen, in welche die Diskussionen der Schülerinnen und Schüler gehen. Nehmen sie den Einrichtungen von Utopia gegenüber eine negative Einstellung ein, so sollten Not und Elend, wie sie im ersten Buch angeprangert werden, vorzugsweise herausgestellt werden, damit die Schülerinnen und Schüler den Hintergrund kennenlernen, dem die utopische Vision entwachsen ist. Halten sie die Zustände in Utopia hingegen für ideal, könnte man auf das arrogante, ja in Teilen imperialistische Verhalten der Utopier den anderen Völkern gegenüber, immer unter dem Deckmantel des gerechten Krieges, hinweisen, aber auch auf die Kritik, die Morus an der Gütergemeinschaft übt, sicherlich sogar auf die superbia der Menschen, auf die Ursünde der Hoffart, auf diese bisher noch nicht geschlagene Konkurrentin der Vernunft.

Liest man die Utopia in der gymnasialen Oberstufe – ob nun als Erstlektüre oder nach einem Lektürevorlauf welchen Werkes oder welchen Autors auch immer –, dann kann man mit dem ersten Buch beginnen. Mit dem Dialog im Dialog lernt man den politisch-gesellschaftlichen Hintergrund kennen, der der Konzeption der Utopia zugrunde liegt. Der Unterschied von philosophia scholastica und civilior kann in seiner werkspezifischen Funktionalität besprochen, Pro und Contra einer am Gemeineigentum orientierten Verfassung können thematisiert werden. Wichtig werden die abschließenden Zusammenfassungen und Ausführungen sowohl des Hythlodaeus als auch des Morus sein, die auch einiges für die Frage hergeben, ob und inwiefern die Utopia ein libellus salutaris quam festivus, wie es im Titel des Werkes formuliert ist, sei.

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Den Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe kann die Vielschichtigkeit und Komplexität des Werkes weitgehend nahegebracht werden, ohne dass eine umfassende Interpretation des Werkes geleistet werden könnte. Die Schülerinnen und Schüler dürften jedenfalls erkennen, dass Morus eine menschliche Vernunft will, die nicht träumt, nicht schwärmerische Phantasmagorien erdenkt, sich nicht absolut setzt, sondern eine solche, die utopisch reflektieren kann: Die sich also gewiß wird bzw. bleibt, dass es unerlässlich ist, Utopien zu entwickeln, gleichzeitig aber das Bewusstsein für ihre Grenzen gewinnt, ohne die Zuversicht in ihre partielle Leistungsfähigkeit zu verlieren.
Natürlich kann die Utopia auch in ganz anderen thematischen Zusammenhängen gelesen werden, in denen dann das Ziel, utopisches Reflektieren zu lernen, eher im Hintergrund steht. So kann sie als eine Schrift gelesen werden, die sowohl in der Nachfolge als auch im Gegensatz zu Platons Staat konzipiert ist.

Eine andere Möglichkeit ist es, im Bereich der lateinischen Staatsschriften zu bleiben, die Utopia in Verbindung mit Ciceros De re publica oder auch Augustins De civitate Dei zu lesen.

Das Teilkapitel der Utopia über die ethica Utopiensium, etwa die Frage des Verhältnisses von voluptas und virtus, der Richtungsstreit zwischen Epikureismus und Stoizismus, kann im Zusammenhang mit Auszügen aus den einschlägigen Werken Ciceros und Senecas behandelt werden.
Der Abschnitt de re militari wiederum kann im Rahmen einer Reihe über Krieg und Frieden als Grundbedingungen menschlicher Existenz zusammen mit Texten von Cicero, Augustinus und Erasmus erarbeitet und diskutiert werden.

Bei all diesen thematischen Reihen, die deutlich machen, dass der Utopia gesellschaftliche Schlüsselprobleme bleibender Aktualität immanent sind und sie deshalb existentiellen und kategorialen Lernzielen im Sinne Maiers und Klafkis genügt, lässt sich sicher in hervorragender Weise das Prinzip der Fachübergreifung bzw. Fächerverbindung – man denke an die Fächer Griechisch, Philosophie, Geschichte, Sozialwissenschaften, Politik, aber auch Deutsch, Englisch und Kunst – auch im Rahmen thematisch orientierter Projekte realisieren, wobei die Utopia jeweils der Ausgangspunkt sein kann. Dass aus der Utopia-Lektüre substantielle Facharbeiten entstehen können, belegt der Aufsatz einer Schülerin im schon genannten AU-Heft von 1987 eindrucksvoll.

"Schlechte Zeiten für die Zukunft" - diese eingangs erwähnte pessimistisch-resignative Prognose in der TAZ verliert ihre Gültigkeit, wenn junge Leute ihre Zukunft auf der Fähigkeit aufbauen, in kritischen Alternativen, also in Utopien, zu denken. Die Auseinandersetzung mit der Utopia des Thomas Morus kann ihnen dabei gute Dienste leisten, sie könnte Schülerinnen und Schülern als Prototyp einer moralisch verantwortbaren Zukunftsgestaltung dienen, denn sie vermittelt in ihrer Elementarität Anregungen dafür, in Utopien zu denken, eine Fähigkeit, die für eine am Besten aller ausgerichtete, universale Zukunftskonzeption unerlässlich ist.

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VI. Literaturverzeichnis

Zur Diskussion um die Neulateinische Philologie


Ausgaben der Utopia


Hilfsmittel


Übersetzungen (deutschsprachig)


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Ausgewählte Sekundärliteratur

a. Sammelbände mit Beiträgen zur Utopia

 

b. Monographien und Aufsätze


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Fachdidaktische Literatur


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Die Utopia des Thomas Morus im Lateinunterricht

Materialien zu einer Unterrichtsreihe in der Jahrgangsstufe 12 (B II-Kurs)

Lernen, in Utopien zu denken
oder:
Von der Kunst, die Zukunft zu gestalten -
Die Utopia des Thomas Morus im Lateinunterricht.
Bildungsgehalt und didaktische Bedeutsamkeit

 

Thomas Morus: Utopia

Unterrichtsreihe in einem B II-Kurs in 12/1
Halbjahresthema: Staatsdenken - Staatstheorie - Staatswirklichkeit
Sequenzthema: Staat und Gesellschaft in der Reflexion: Utopia - Eine ideale Welt?


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Lektürevoraussetzungen:

Spracherwerbsphase

9/1 - 10/2

Ianua Nova Neubearbeitung

Übergangslektüre

11/1

Carmina Burana / Gesta Francorum

Erstlektüre

11/1

Caesar, Bellum Gallicum

Autorenlektüre

11/2 

Cicero, Ausgewählte Briefe

 

Autoren-/Werklektüre       12/1          Morus, Utopia

Textstelle (Klowski-Ausgabe)

Reihentext

Thema

Funktion

Wort-
anzahl

 II 86,12-24

1 a

Epilog: Kritisch wertende Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Hythlodaeus (negativ)

Einführung/Erarbeitung werkerschließender Fragestellungen

73

II 87,6-9

1 b

Epilog: wie 1 a à aber: partielle Übernahme positiver Aspekte / Ambivalenz der utopischen Verhältnisse

wie 1 a / Wecken einer kritischen Lesehaltung

37

I 12,27-13,15

2 a

Todesstrafe für Diebe

Darstellung der realen Verhältnisse in England als Maßstab für den Vergleich mit Utopia

165

I 14,1-23

2 b

Herkunft der Diebe

wie 2 a

149

I 15,5-9+15,11-16,16

2 c

Einhegungspolitik

wie 2 a

268

1. Klausur (aus I 16,16-17,5+17,11-15)

 

Teuerungen als Folge der Einhegungspolitik

 

 

I 27,16-28,25

3 a

Hythlodaeus’ Lobrede auf den Gemeinbesitz

Aufweis der Ursachen und einer möglichen Lösung der gesellschaftlichen Probleme Englands / Europas

321

I 29,18-30,3

3 b

Morus’ Gegenposition

Kontroverse Sicht als notwendige Überleitung zur Darstellung Utopias

147

II 41,6-42,25+43,1-13

4 a

Arbeitsverteilung auf Utopia

Darstellung der Idealität Utopias

517

II 43,15-44,14

4 b

Gesellschaftsordnung, Bevölkerungspolitik

wie 4 a

251

2. Klausur (aus II 67,21-68,18)

 

Utopisches bellum iustum

 

 

II 75,16-25

5 a

Religiöse Toleranz

wie 4 a

96

II 76,9-29+77,1-2

5 b

Religiöse Toleranz

wie 4 a

162

II 82,14-27

6 a

Lob der utopischen Verfassung

Idealität Utopias als Gegenbild zur Realität

139

II 86,2-11

6 b

Lob der utopischen Verfassung

wie 6 a

82

II 84,13-85,4+85,15-21

6 c

Kritik an den bestehenden Verhältnissen

Ursachen und Ausprägung der realen Missstände als Gegenbild zur anzustrebenden Verfassung (h.: Rückbezug zu 1a / 1  b / 3 b à Ist U. eine bessere Welt?

 

Werktitel

7

Mögliche Absichten von Morus

Intention der Utopia

28

 

 

 

 

ges.: 2646


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 18
linie

Der folgenden Textauswahl liegt die Ausgabe von Klowski in vierter Auflage (41991) zugrunde. Die Zählung der Texte erfolgt nach Buchangabe, Seitenzahl und Zeilennummer der Seite der Klowski-Ausgabe. Beispiel: T 1 I 10, 16 - 11 = Text 1 der Reihe, Klowski-Ausgabe S. 10, Z. 16 - S. 11, Z. 15.

 

Texte 1 (a – b): Epilog von Morus - Kritik und Wertung der Ausführungen des Hythlodaeus

T 1 a (II 86, 12 - 24)

Am Ende seiner Schrift fasst Morus die Ergebnisse seines Dialogs mit Raphael Hythlodaeus über die Insel Utopia zusammen und gelangt zu folgender Einschätzung:

 1

Haec ubi Raphael recensuit, (…) haud pauca mihi succurrebant, quae in eius populi

 2

moribus legibusque perquam absurde videbantur instituta, non solum de belli gerendi

 3

ratione et rebus divinis ac religione aliisque insuper eorum institutis, sed in eo

 4

quoque ipso maxime, quod maximum totius institutionis fundamentum est: vita scilicet

 5

victuque communi sine ullo pecuniae commercio. Qua una re funditus evertitur omnis

 6

nobilitas, magnificentia, splendor, maiestas: vera, ut publica est opinio, decora atque

 7

ornamenta rei publicae (…). (73 W.)

 

T 1 b (II 87, 6 - 9)

 1

Interea quemadmodum haud possum omnibus assentiri, quae dicta sunt – alioqui ab

 2

homine citra controversiam eruditissimo simul et rerum humanarum peritissimo –,

 3

ita facile confiteor permulta esse in Utopiensium re publica, quae in nostris

 4

civitatibus optarim verius, quam sperarim. (37 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 19
linie

Texte 2 (a – c): Die Zustände im zeitgenössischen England als Folie für die Situation in Utopia

T 2 a (I 12, 27 - 13, 15)

 1

Forte fortuna, cum die quodam in eius mensa essem, laicus quidam legum vestratium peritus

 2

aderat. Is (…) coepit accurate laudare rigidam illam iustitiam, quae tum illic exercebatur in

 3

fures, quos passim suspendi narrabat nonnumquam viginti in una cruce. Atque eo vehementius

 4

dicebat se mirari, cum tam pauci elaberentur supplicio, quo malo fato fieret, uti tam multi

 5

tamen ubique grassarentur.

 6

Tum ego: (…) `Nihil mireris`, inquam, `nam haec punitio furum et supra iustum est et non ex

 7

usu publico. Est enim ad vindicanda furta nimis atrox, nec tamen ad refrenanda sufficiens.

 8

Quippe neque furtum simplex tam ingens facinus est, ut capite debeat plecti, neque ulla poena

 9

est tanta, ut ab latrociniis cohibeat eos, qui nullam aliam artem quaerendi victus habent. Itaque

10

hac in re non vos modo, sed bona pars huius orbis imitari videtur malos praeceptores, qui

11

discipulos verberant libentius quam docent. Decernuntur enim furanti gravia atque horrenda

12

supplicia, cum potius multo fuerit providendum, uti aliquis esset proventus vitae, ne cuiquam

13

tam dira sit furandi primum, dehinc pereundi necessitas. (165 W.)

 

T 2 b (I 14, 1 - 23)

 1

Tantus est (…) nobilium numerus, qui non ipsi modo degant otiosi tamquam fuci

 2

laboribus aliorum, quos - puta suorum praediorum colonos - augendis reditibus ad

 3

vivum usque radunt! Nam eam solam frugalitatem novere homines alioquin ad

 4

mendicitatem usque prodigi. Verum immensam quoque otiosorum stipatorum turbam

 5

circumferunt, qui nullam umquam quaerendi victus artem didicere.

 6

Hi, simulatque herus obierit aut ipsi aegrotaverint, eiiciuntur ilico; nam et otiosos

 7

libentius quam aegrotos alunt et saepe morientis heres non protinus alendae sufficit

 8

paternae familiae. Interim illi esuriunt strenue, nisi strenue latrocinentur. Nam quid

 9

faciant, siquidem, ubi errando paululum vestes ac valetudinem attriuere, morbo iam

10

squalidos atque obsitos pannis neque generosi dignantur accipere neque audent

11

rustici: non ignari eum, qui molliter educatus in otio ac deliciis solitus sit accinctus

12

acinace ac caetra totam viciniam vultu nebulonico despicere et contemnere omnes prae

13

se, haudquaquam idoneum fore, qui cum ligone ac marra maligna mercede ac victu

14

parco fideliter inserviat pauperi. (149 W.)



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 20
linie

T 2 c (I 15, 5 - 9 + 15, 11 - 16, 16)

Schließlich kritisiert Hythlodaeus die Einhegungen des Ackerlandes und dessen Umwandlung in Schafweiden als eine weitere Ursache der Diebstähle:

 1

Neque haec tamen sola est furandi necessitas. Est alia magis, quantum credo, peculiaris vobis.

 2

(…) Oves (…) vestrae, quae tam mites esse tamque exiguo solent ali, nunc (…) tam

 3

edaces atque indomitae esse coeperunt, ut homines devorent ipsos, agros, domos, oppida

 4

vastent ac depopulentur. Nempe quibuscumque regni partibus nascitur lana tenuior, atque ideo

 5

pretiosior, ibi nobiles et generosi atque adeo abbates aliquot, sancti viri -  non his contenti

 6

reditibus, fructibusque annuis, qui maioribus suis solebant ex praediis crescere, nec habentes

 7

satis, quod otiose ac laute viventes, nihil in publicum prosint, nisi etiam obsint - arvo nihil

 8

relinquunt, onmia claudunt pascuis, demoliuntur domos, diruunt oppida templo dumtaxat

 9

stabulandis ovibus relicto. (…)

10

Ergo ut unus helluo inexplebilis ac dira pestis patriae continuatis agris aliquot milia iugerum

11

uno circumdet saepto, eiiciuntur coloni. Quidam suis etiam aut circumscripti fraude aut vi

12

oppressi exuuntur aut fatigati iniuriis adiguntur ad venditionem. Itaque quoquo pacto

13

emigrant miseri, viri, mulieres, mariti, uxores, orbi, viduae, parentes cum parvis liberis et

14

numerosa magis quam divite familia, ut multis opus habet manibus res rustica; emigrant,

15

inquam, e notis atque assuetis laribus nec inveniunt, quo se recipiant; supellectilem omnem

16

haud magno vendibilem, etiam si manere possit emptorem, cum extrudi necesse est, minimo

17

venundant. (…)

18

Id cum brevi errando insumpserint, quid restat aliud denique, quam uti furentur, et pendeant -

19

iuste scilicet - aut vagentur atque mendicent, quamquam tum quoque velut errones

20

coniiciuntur in carcerem, quod otiosi obambulent? Quorum operam, nemo est, qui conducat,

21

cum illi cupidissime offerant. Nam rusticae rei, cui assueuerunt, nihil est, quod agatur, ubi

22

nihil seritur, siquidem unus opilio atque bubulcus sufficit ei terrae depascendae pecoribus, in

23

cuius cultum (…) multae poscebantur manus. (268 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 21
linie

Texte 3 (a – b): Gemein- oder Privatbesitz? - Kontroverse über Nutzen und Nachteil des Privateigentums vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität des zeitgenössischen Englands

T 3 a (I 27, 16 - 28, 25)

Angesichts der gesellschaftlichen Krise Englands reflektiert Hythlodaeus die zeitgenössische Eigentumsverfassung:

 1

Quamquam profecto, mi More, mihi videtur, ubicumque privatae sunt possessiones, ubi omnes

 2

omnia pecuniis metiuntur, ibi vix umquam posse fieri, ut cum re publica aut iuste agatur aut

 3

prospere, nisi vel ibi sentias agi iuste, ubi optima quaeque perveniunt ad pessimos, vel ibi

 4

feliciter, ubi omnia dividuntur in paucissimos, nec illos habitos undecumque commode, ceteris

 5

vero plane miseris.

 6

Quamobrem, cum apud animum meum reputo prudentissima atque sanctissima instituta

 7

Utopiensium, apud quos tam paucis legibus tam commode res administrantur, ut et virtuti

 8

pretium sit et tamen aequatis rebus omnia abundent omnibus. Tum ubi his eorum moribus ex

 9

adverso comparo tot nationes alias, semper ordinantes nec ullam satis ordinatam umquam

10

earum omnium, in quibus, quod quisque nactus fuerit, suum vocat privatum; quorum tam

11

multae in dies conditae leges non sufficiunt, vel ut consequatur quisquam vel ut tueatur vel ut

12

satis internoscat ab alieno illud, quod suum invicem quisque privatum nominat: id quod facile

13

indicant infinita illa tam assidue nascentia quam numquam finienda litigia.

14

Haec (…) dum apud me considero, aequior Platoni fio minusque demiror dedignatum illis

15

leges ferre ullas, qui recusabant eas, quibus ex aequo omnes omnia partirentur commoda.

16

Siquidem facile praevidit homo prudentissimus unam atque unicam illam esse viam ad

17

salutem publicam, si rerum indicatur aequalitas, quae nescio an umquam possit observari, ubi

18

sua sunt singulorum propria. Nam cum certis titulis quisque, quantum potest, ad se convertit,

19

quantacumque fuerit rerum copia, eam omnem pauci inter se partiti, reliquis relinquunt

20

inopiam; fereque accidit, ut alteri sint alterorum sorte dignissimi, cum illi sint rapaces, improbi

21

atque inutiles, contra hi modesti viri ac simplices et cotidiana industria in publicum quam in

22

semet benigniores.

23

Adeo mihi certe persuadeo res aequabili ac iusta aliqua ratione distribui aut feliciter agi cum

24

rebus mortalium, nisi sublata prorsus proprietate, non posse; sed manente illa, mansuram

25

semper apud multo maximam multoque optimam hominum partem egestatis et aerumnarum

26

anxiam atque inevitabilem sarcinam. Quam ut fateor levari aliquantulum posse, sic tolli plane

27

contendo non posse. (321 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 22
linie

T 3 b (I 29, 18 - 30, 3)

Morus äußert seine Einwände gegen Hythlodaeus’ Vorstellungen:

 1

At mihi, inquam, contra videtur ibi numquam commode vivi posse, ubi omnia sint communia.

 2

Nam quo pacto suppetat copia rerum, uno quoque ab labore subducente se, utpote quem neque

 3

sui quaestus urget ratio et alienae industriae fiducia reddit segnem? At cum et stimulentur

 4

inopia neque, quod quisquam fuerit nactus, id pro suo tueri ulla possit lege, an non necesse est

 5

perpetua caede ac seditione laboretur, sublata praesertim auctoritate ac reverentia

 6

magistratuum? Cui quis esse locus possit apud homines tales, quos inter nullum discrimen

 7

est, ne comminisci quidem queo.

 8

Non miror, inquit, sic videri tibi, quippe cui eius imago rei aut nulla succurrit aut falsa.

 9

Verum si in Utopia fuisses mecum moresque eorum atque instituta vidisses praesens, ut ego

10

feci, qui plus annis quinque ibi vixi neque umquam voluissem inde discedere, nisi ut novum

11

illum orbem proderem, tum plane faterere populum recte institutum nusquam alibi te vidisse

12

quam illic. (147 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 23
linie

Texte 4 (a – b): Die „kommunistische“ Verfassung Utopias - Arbeitsverteilung, Gesellschaftsordnung, Bevölkerungspolitik

T 4 a (II 41, 6 - 42, 25 + 43, 1 - 13)

 1

Sed hoc loco, ne quid erretis, quiddam pressius intuendum est. Etenim quod sex dumtaxat

 2

horas in opere sunt, fieri fortasse potest, ut inopiam aliquam putes necessariarum rerum sequi.

 3

Quod tam longe abest, ut accidat, ut id temporis ad omnium rerum copiam - quae quidem ad

 4

vitae vel necessitatem requirantur vel commoditatem - non sufficiat modo, sed supersit etiam.

 5

Id quod vos quoque intelligetis, si vobiscum reputetis, apud alias gentes quam magna populi

 6

pars iners degit: primum mulieres fere omnes, totius summae dimidium; aut, sicubi mulieres

 7

negotiosae sunt, ibi, ut plurimum, earum vice viri stertunt; ad haec, sacerdotum ac

 8

religiosorum, quos vocant, quanta quamque otiosa turba! Adiice divites omnes, maxime

 9

praediorum dominos, quos vulgo generosos appellant ac nobiles! His adnumera ipsorum

10

famulitium, totam videlicet illam caetratorum nebulonum colluviem! Robustos denique ac

11

valentes mendicos adiunge, morbum quempiam praetexentes inertiae! Multo certe pauciores

12

esse, quam putaras, invenies eos, quorum labore constant haec omnia, quibus mortales utuntur.

13

Expende nunc tecum, ex his ipsis quam pauci in necessariis opificiis versantur. Siquidem ubi

14

omnia pecuniis metimur, multas artes necesse est exerceri inanes prorsus ac superfluas, luxus

15

tantum ac libidinis ministras. Nam haec ipsa multitudo, quae nunc operatur, si partiretur in tam

16

paucas artes, quam paucas commodus naturae usus postulat, in tanta rerum abundantia,

17

quantam nunc esse necesse sit, pretia nimirum viliora forent, quam ut artifices inde vitam tueri

18

suam possent.

19

At si isti omnes, quos nunc inertes artes distringunt, ac tota insuper otio ac desidia languescens

20

turba, quorum unus quivis earum rerum, quae aliorum laboribus suppeditantur, quantum duo

21

earundem operatores, consumit, in opera universi atque eadem utilia collocarentur, facile

22

animadvertis, quantulum temporis ad suppeditanda omnia, quae vel necessitatis ratio vel

23

commoditatis efflagitet (adde voluptatis etiam quae quidem vera sit ac naturalis), abunde satis

24

superque foret.

25

Atque id ipsum in Utopia res ipsa perspicuum facit. Nam illic in tota urbe cum adiacente

26

vicinia vix homines quingenti ex omni virorum ac mulierum numero, quorum aetas ac robur

27

operi sufficit, vacatio permittitur. In iis syphogranti; quamquam leges eos labore solverunt,

28

ipsi tamen sese non eximunt, quo facilius exemplo suo reliquos ad labores invitent. Eadem

29

immunitate gaudent hi, quos commendatione sacerdotum persuasus populus occultis

30

syphograntorum suffragiis ad perdiscendas disciplinas perpetuam vacationem indulget.

31

Quorum si quis conceptam de se spem fefellerit, ad opifices retruditur; contraque non rarenter

32

usu venit, ut mechanicus quispiam subcisivas illas horas tam gnaviter impendat litteris,

33

tantum diligentia proficiat, ut opificio suo exemptus in litteratorum classem provehatur.

34

Ex hoc litteratorum ordine legati, sacerdotes, tranibori ac ipse denique deligitur princeps (…).

35

Reliqua fere multitudo omnis, cum neque otiosa sit, nec inutilibus opificiis occupata, proclivis

36

aestimatio est, quam paucae horae quantum boni operis pariant.

37

Quamobrem, cum et omnes utilibus sese artibus exerceant et ipsarum etiam opera pauciora

38

sufficiant, fit nimirum, ut abundante rerum omnium copia interdum in reficiendas (…) vias

39

publicas immensam multitudinem educant, persaepe etiam, cum nec talis cuiuspiam operis

40

usus occurrat, pauciores horas operandi publice denuntient. Neque enim supervacaneo labore

41

cives invitos exercent magistratus, quandoquidem eius rei publicae institutio hunc unum

42

scopum imprimis respicit, ut, quoad per publicas necessitates licet, quam plurimum temporis

43

ab servitio corporis ad animi libertatem cultumque civibus universis asseratur. In eo enim

44

sitam vitae felicitatem putant. (517 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 24
linie

T 4 b (II 43, 15 - 44, 14)

Im Folgenden beschreibt Hythlodaeus Gesellschaftsordnung und Bevölkerungspolitik der Utopier:

 1

Sed iam, quo pacto sese mutuo cives utantur, quae populi inter se commercia quaeque sit

 2

distribuendarum rerum forma, videtur explicandum.

 3

Cum igitur ex familiis constet civitas, familias ut plurimum, cognationes efficiunt. Nam

 4

Feminae, ubi maturuerint, collocatae maritis in ipsorum domicilia concedunt. At masculi filii

 5

ac deinceps nepotes in familia permanent et parentum antiquissimo parent, nisi prae senecta

 6

mente parum valuerit. Tunc enim aetate proximus ei sufficitur.

 7

Verum ne civitas aut fieri infrequentior aut ultra modum possit increscere, cavetur, ne ulla

 8

familia (quarum milia sex quaeque civitas, excepto conventu, complectitur) pauciores quam

 9

decem pluresve quam sexdecim puberes habeat. Impuberum enim nullus praefiniri numerus

10

potest. Hic modus facile servatur transcriptis iis in rariores familias, qui in plenioribus

11

excrescunt. At si quando in totum plus iusto abundaverit, aliarum urbium suarum

12

infrequentiam sarciunt.

13

Quodsi forte per totam insulam plus aequo moles intumuerit, tum ex qualibet urbe descriptis

14

civibus in continente proximo, ubicumque indigenis agri multum superest et cultu vacat,

15

coloniam suis ipsorum legibus propagant, ascitis una terrae indigenis, si convivere secum

16

velint. Cum volentibus coniuncti in idem vitae institutum eosdemque mores facile

17

coalescunt, idque utriusque populi bono. Efficiunt enim suis institutis, ut ea terra utrisque

18

abunda sit, quae alteris ante parca ac maligna videbatur. Renuentes ipsorum legibus vivere

19

propellunt his finibus, quos sibi ipsi describunt. Adversus repugnantes bello confligunt. Nam

20

eam iustissimam belli causam ducunt, cum populus quispiam eius soli, quo ipse non utitur, sed

21

velut inane ac vacuum possidet, aliis tamen, qui ex naturae praescripto inde nutriri debeant,

22

usum ac possessionem interdicat. (251 W.)

       


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 25
linie

Texte 5 (a – b): Religiöse Toleranz

T 5 a (II 75, 16 - 25)

Hythlodaeus berichtet über die Einstellung der Utopier zur Religion und über ihr Verhältnis zum christlichen Glauben:

 1

Quin hi quoque, religioni Christianae,qui non assentiunt, neminem tamen absterrent,

 2

nullum oppugnant imbutum, nisi quod unus e nostro coetu me praesente coercitus est.

 3

Is cum recens ablutus nobis contra suadentibus de Christi cultu publice maiore

 4

studio quam prudentia dissereret, usque adeo coepit incalescere, ut iam non nostra

 5

modo sacra ceteris anteferret, sed reliqua protinus universa damnaret, profana ipsa,

 6

cultores impios ac sacrilegos, aeterno plectendos igni vociferaretur. Talia diu

 7

contionantem comprehendunt ac reum non spretae religionis, sed excitati in populo

 8

tumultus agunt peraguntque; damnatum, exilio mulctant. Siquidem hoc inter

 9

antiquissima instituta numerant, ne sua cuiquam religio fraudi sit. (96 W.)

 

T 5 b (II 76, 9 - 29 + 77, 1 - 2)

Hythlodaeus schildert, welche Maßnahmen der Staatsgründer der Insel, Utopus, ergriff, um religiöse Auseinandersetzungen zu vermeiden:

 1

(Utopus) sanxit, uti quam cuique religionem libeat sequi, liceat (sc. eam sequi; PH), ut vero

 2

alios quoque in suam traducat, hactenus niti possit, uti placide ac modeste suam rationibus

 3

astruat, non ut acerbe ceteras destruat; si suadendo non persuadeat, neque vim ullam adhibeat

 4

et conviciis temperet. Petulantius hac de re contendentem exilio aut servitute mulctant.

 5

Haec Utopus instituit non respectu pacis modo, quam assiduo certamine atque inexpiabili odio

 6

funditus vidit everti, sed quod arbitratus est, uti sic decerneretur, ipsius etiam religionis

 7

interesse. De qua nihil est ausus temere definire, velut incertum habens, an varium ac

 8

multiplicem expetens cultum deus aliud inspiret alii. Certe vi ac minis exigere, ut, quod tu

 9

verum credis, idem omnibus videatur, hoc vero et insolens et ineptum censuit. Tum si maxime

10

una vera sit, ceterae omnes vanae, facile tamen praevidit (cummodo ratione ac modestia res

11

agatur) futurum denique, ut ipsa per se veri vis emergat aliquando atque emineat (…).

12

Itaque hanc totam rem in medio posuit et, quid credendum putaret, liberum cuique reliquit. (162 W.)



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 26
linie

Texte 6 (a – c): Fazit - Lob der utopischen Verfassung und Kritik der bestehenden Staaten

Text 6 a (II 82, 14 - 27)

Abschließend fasst Hythlodaeus noch einmal die wesentlichen Vorzüge des utopischen Staatswesens zusammen (T 6 a und 6 b):

 1

Descripsi vobis, quam potui, verissime eius formam rei publicae, quam ego certe non

 2

optimam tantum, sed solam etiam censeo, quae sibi suo iure possit rei publicae

 3

vindicare vocabulum. Siquidem alibi de publico loquentes ubique commodo

 4

privatum curant; hic, ubi nihil privati est, serio publicum negotium agunt, certe

 5

utrobique merito. Nam alibi quotusquisque est, qui nesciat, nisi quid seorsum

 6

prospiciat sibi, quantumvis florente re publica semet tamen fame periturum? Eoque

 7

necessitas urget, ut sui potius quam populi, id est aliorum, habendam sibi rationem

 8

censeat.

 9

Contra hic, ubi omnia omnium sunt nemo dubitat (curetur modo, ut plena sint horrea

10

publica) nihil quicquam privati cuiquam defuturum. Neque enim maligna rerum

11

distributio est neque inops neque mendicus ibi quisquam. Et cum nemo quicquam

12

habeat, omnes tamen divites sunt.

13

Nam quid ditius esse potest quam adempta prorsus omni solicitudine laeto ac

14

tranquillo animo vivere? (139 W.)

 

T 6 b (II 86, 2 - 11)

 1

(…) Hanc rei publicae formam, quam omnibus libenter optarim, Utopiensibus saltem

 2

contigisse gaudeo. Qui ea vitae sunt instituta secuti, quibus rei publicae fundamenta

 3

iecerunt non modo felicissime, verum etiam (…) aeternum duratura.

 4

Exstirpatis enim domi cum ceteris vitiis ambitionis et factionum radicibus nihil

 5

impendet periculi, ne domestico dissidio laboretur, quae res una multarum urbium

 6

egregie munitas opes pessum dedit. At salva domi concordia et salubribus institutis,

 7

non omnium finitimorum invidia principum (quae saepius id iam olim, semper

 8

reverberata, tentavit) concutere illud imperium aut commovere queat. (82 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 27
linie

T 6 c (II 84, 13 - 85, 4 + 85, 15 - 21)

Seiner Lobrede auf die Zustände in Utopia schließt Hythlodaeus eine zusammenfassende Kritik der bestehenden Staaten an:

 1

Itaque omnes has, quae hodie usquam florent, res publicas animo intuenti ac versanti

 2

mihi nihil (sic me amet deus) occurrit aliud quam quaedam conspiratio divitum de suis

 3

commodis rei publicae nomine tituloque tractantium. Comminiscunturque et

 4

excogitant omnes modos atque artes, quibus, quae malis artibus ipsi congesserunt, ea

 5

primum ut absque perdendi metu retineant, post hoc ut pauperum omnium opera ac

 6

labores quam minimo sibi redimant eisque abutantur. Haec machinamenta ubi

 7

semel divites publico nomine, hoc est etiam pauperum, decreverunt observari, iam

 8

leges fiunt.

 9

At homines deterrimi, cum inexplebili cupiditate, quae fuerant omnibus suffectura, ea

10

omnia inter se partiuerint, quam longe tamen ab Utopiensium rei publicae felicitate

11

absunt? E qua cum ipso usu sublata penitus omni aviditate pecuniae, quanta moles

12

molestiarum recisa, quanta scelerum seges radicitus evulsa est! Quis enim nescit

13

fraudes, furta, rapinas, rixas, tumultus, iurgia, seditiones, caedes, proditiones, veneficia

14

- cotidianis vindicata potius quam refrenata suppliciis - interempta pecunia commori,

15

ad haec metum, sollicitudinem, curas, labores, vigilias eodem momento, quo pecunia

16

perituras? Quin paupertas ipsa, quae sola pecuniis visa est indigere, pecunia prorsus

17

undique sublata, protinus etiam ipsa decresceret. (…) Neque mihi quidem dubitare

18

subit, quin vel sui cuiusque commodi ratio vel Christi servatoris auctoritas (…) totum

19

orbem facile in huius rei publicae leges iamdudum traxisset, nisi una tantum belua,

20

omnium princeps parensque pestium, superbia, reluctaretur. (211 W.)

 

Text 7: Die Utopia - Ein libellus nec minus salutaris quam festivus? Oder: Über die möglichen Absichten des Morus

 1

De optimo rei publicae statu

 2

deque nova insula Utopia

 3

Libellus vere aureus

 4

nec minus salutaris quam festivus

 5

clarissimi disertissimique viri Thomae Mori

 6

inclutae civitatis Londinensis civis

 7

et Vicecomitis (28 W.)

 

Text 8

1. Klausur 12/1 (dreistündig, 150 Min.; Textstelle aus I 16, 16 - 17, 15; Thema: Teuerungen als Folge der enclosure-policy; Klausur nach T 2 c)

In dem Gespräch bei Kardinal Morton zählt Hythlodaeus zahlreiche Missstände auf, die er im zeitgenössischen England auszumachen meint. Dabei kritisiert er auch die Einhegungspolitik, die viele Bauern in den Ruin und in die Kriminalität getrieben hat. Auf die Folgen dieser Politik geht er genauer ein:

 1

Atque eadem ratione fit, ut multis in locis annona multo sit carior. Quin lanarum

 2

quoque adeo increvit pretium, ut a tenuioribus, qui pannos inde solent apud vos

 3

conficere, prorsus emi non possint. (…) Quodsi maxime increscat ovium numerus,

 4

pretio nihil decrescit tamen. (…) Reciderunt enim fere in manus paucorum divitum,

 5

quos nulla necessitas urget ante vendendi, quamlibet, nec ante libet, quam liceat,

 6

quanti libet. (…)

 7

Ita qua re vel maxime felix haec vestra videbatur insula, iam ipsam paucorum improba

 8

cupiditas vertit in perniciem. Nam haec annonae caritas in causa est, cur quisque quam

 9

possit plurimos e familia dimittat: quo, nisi mendicatum aut (…) latrocinatum?      (101 W.)


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 28
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Hilfen:

Z. 1

eadem ratione: bezieht sich auf die vorher besprochene Einhegungspolitik
annona, ae f. = Getreide

Z. 2

increvit: Form von increscere, -crevo, -crevi (= crescere, cresco, crevi)

Z. 3

prorsus (Adv.) = überhaupt, ganz und gar
maxime = h.: noch so sehr
increscat: Form von increscere (s. Z.2)   

Z.4

decrescit: Form von decrescere (Gegenteil von increscere)
reciderunt: recidere = fallen, gelangen; Subjekt: die Schafherden

Z.5

urget: urgere, urgeo = drängen

Z.5/6

quam liceat, quanti libet = als bis es möglich ist, sie so teuer wie möglich zu verkaufen

Z.7

iam = h.: ferner, gerade

Z.8

in causa est: in causa esse = (der) Grund sein

Z.9

latrocinatum: latrocinari = rauben

Aufgaben:

 

Erwartete/Gewünschte Lösung (Klausur 1, Morus):

zu 1):
Aus demselben Grund ist auch an vielen Orten das Getreide teurer geworden. Ja sogar der Preis der Wolle ist so gestiegen, dass sie von den Minderbemittelten, die bei euch daraus Tuch weben, nicht mehr bezahlt werden kann. (…) Wenn aber die Menge der Schafe auch noch so sehr anwächst, so sinkt der Preis dennoch nicht (…) Er ist nämlich fast ganz in die Hände weniger reicher Leute geraten, die keine Notwendigkeit drängt, sie früher zu verkaufen, als sie wollen; und sie wollen nicht früher, als bis sie beliebig teuer verkaufen können. (…) So hat die verruchte Habgier einiger weniger gerade das, was das größte Glück eurer Insel darzustellen schien, in Unheil verwandelt. Denn diese Verteuerung der Lebensmittel ist der Grund, warum ein jeder so viel Gesinde entlässt. Wohin, wenn nicht zur Bettelei oder zur Räuberei?

zu 2):

zu 3):
Lösung muss Textbelege (Zeilenangaben) enthalten


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 29
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zu 4):
T 2 a - 2 c sind heranzuziehen

zu 5):
Entwicklung (vertere i. S. eines Umschlagens, einer gleichsam katastrophalen Wendung) von felix insula zu pernicies durch cupiditas als Schlüsselbegriff für die gesellschaftlichen Missstände; dabei: felix insula konnotiert mit normalem Volk, cupiditas und pernicies mit den Reichen à Widerspigelung des Gesellschaftsbildes des Hythlodaeus; demnach hat Satz zentrale Bedeutung für die Textaussage

 

Text 9

2. Klausur 12/1 (dreistündig, 150 Min.; Textstelle aus II 67, 21 - 68, 18; Thema: Utopisches bellum iustum; Klausur nach T 4 b; inhaltliche Voraussetzung: Schülerreferat über ausgewählte Theorien des gerechten Krieges)

Hythlodaeus beschreibt die Einstellung der Utopier zum Krieg:

 1

Bellum utpote rem plane beluinam summopere abominantur (…). Non temere

 2

capessunt, nisi quo aut suos fines tueantur aut amicorum terris infusos hostes

 3

propulsent aut populum quempiam tyrannide pressum miserati - quod humanitatis

 4

gratia faciunt - suis viribus tyranni iugo et servitute liberent. Quamquam auxilium

 5

gratificantur amicis non semper quidem, quo se defendant, sed interdum quoque illatas

 6

retalient atque ulciscantur iniurias. (…)

 7

Hoc unum illi in bello spectant, uti id obtineant, quod si fuissent ante consecuti,

 8

bellum non fuerant illaturi; aut si id res vetet, tam severam ab his vindictam expetunt,

 9

quibus factum imputant, ut idem ausuros in posterum terror absterreat. (98 W.)

        
Hilfen:

Z. 1

utpote = als
beluinus,a,um: Adj. zu belua, -ae f.
abominantur: abominari = verscheuchen  

Z.2

capessunt: capessere = arma capere
nisi quo = außer damit; außer um zu

Z.5

gratificantur: gratificari = leisten, gewähren
se: eos

Z.6

retalient: retaliare = (wieder)vergelten

Z.7

quod si fuissent: si id essent

Z.8

fuerant illaturi: intulissent
vindictam: vindicta, ae f. = Strafe, Buße

Z.9

imputant: alcui aliquid imputare = jm. etw. zuschreiben, jn. für etw. verantwortlich machen


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Aufgaben:

 

Erwartete/Gewünschte Lösung (Klausur 2, Morus):

zu 1):
Den Krieg verabscheuen sie aufs Äußerste als etwas einfach Bestialisches (…). Sie greifen nicht leichtfertig zu den Waffen, sondern nur dann, wenn es heißt, die Grenzen zu schützen oder Feinde, die in das Gebiet ihrer Freunde eingedrungen sind, zu vertreiben, oder um aus Mitleid ein von Tyrannei bedrücktes Volk mit ihrer Macht von Tyrannenjoch und Knechtschaft zu befreien; das tun sie aus reiner Menschlichkeit. Indessen gewähren sie ihren Freunden ihre Hilfe nicht immer nur zur Verteidigung, sondern zuweilen auch, um erlittenes Unrecht zu vergelten und zu rächen. (…) Ihr einziger Zweck im Krieg ist, das Ziel zu erreichen, das den Krieg überflüssig gemacht hätte, wenn sie es schon vorher durchgesetzt hätten, oder, wenn das der Sachlage nach möglich ist, an denen, welchen sie die Schuld zuschreiben, so strenge Rache zu nehmen, dass sie der Schrecken hindert, künftig noch einmal dasselbe zu wagen.

zu 2):
Schutz der eigenen Insel; Unterstützung angegriffener Freunde; Befreiungskrieg für unterdrückte Völker; Rachekrieg im Interesse befreundeter Staaten; dazu (bekannt aus T 4 c): Kolonialkrieg; Gesamtziel: Bedingungen dafür zu schaffen, Krieg überflüssig zu machen

zu 3):
zu denken ist etwa an den Vergleich mit Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Erasmus (je nach vorangegangener Lektüre bzw. ausgewählten Schwerpunkten des diesbezüglichen Schülerreferates); wesentlich: Anzahl der berechtigten Kriegsgründe in Utopia ist größer, oberste Legitimation ist humanitas

zu 4):
severa vindicta (Z.8) à Hervorhebung durch Hyperbaton; terror absterreat (Z.9) à Stilisierung durch figura etymologica: unnachgiebige, grausame Kriegsführung

zu 5):
zu bedenken: Kolonialkrieg (s. T 2 c); ferner: Hilfe für andere nach dem Gebot der Humanität ist je nach Definition der Begriffe interpretabel; aber: es geht nie um Erweiterung von Macht, Gewinn an Gütern oder Erwerb von Kriegsruhm, sondern immer um Wiederherstellung von verletztem Recht; auch Kolonialkrieg nicht wegen wirtschaftlicher Interessen à Krieg als Akt der Gerechtigkeit



PD Dr. Peter Hibst
Studienseminar für Lehrämter an Schulen – Siegen
Augärtenstr. 15
57074 Siegen
peter.hibst@studienseminare.nrw.de

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(1) Vgl. R. Misik, Über den Nutzen der Utopie für das Leben, in: TAZ vom 21.10.2006, S. 11 und H. Schuh, Es gibt ein Leben nach Tschernobyl, in: Die Zeit, Nr. 14, 30.3.2006, S. 15.