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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 96

Anhang 2: Texte zur Übersetzungstheorie


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1. Friedrich Schleiermacher(1)

„Jeder Mensch ist auf der einen Seite in der Gewalt der Sprache, die er redet; er und sein ganzes Denken ist ein Erzeugniß derselben. Er kann nichts mit völliger Bestimmtheit denken, was außerhalb der Grenzen derselben läge; die Gestalt seiner Begriffe, die Art und die Grenzen ihrer Verknüpfbarkeit ist ihm vorgezeichnet durch die Sprache, in der er geboren und erzogen ist, Verstand und Fantasie sind durch sie gebunden. Auf der andern Seite aber bildet jeder freidenkende geistig selbstthätige Mensch auch seinerseits die Sprache. […]

Aber nun der eigentliche Uebersetzer, der diese beiden ganz getrennten Personen, seinen Schriftsteller und seinen Leser, wirklich einander zuführen, und dem letzten, ohne ihn jedoch aus dem Kreise seiner Muttersprache heraus zu nöthigen, zu einem möglichst richtigen und vollständigen Verständniß und Genuß des ersten verhelfen will, was für Wege kann er hiezu einschlagen?
Meines Erachtens giebt es deren nur zwei. Entweder der Uebersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen. [...]

Der Unterschied zwischen beiden Methoden, und daß dieses ihr Verhältnis gegen einander sei, muß unmittelbar einleuchten. Im ersten Falle nämlich ist der Uebersezer bemüht, durch seine Arbeit dem Leser das Verstehen der Ursprache, das ihm fehlt, zu ersetzen. Das nämliche Bild, den nämlichen Eindrukk, welchen er selbst durch die Kenntniß der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen, sucht er den Lesern mitzutheilen, und sie also an seine ihnen eigentlich fremde Stelle hinzubewegen.
Wenn aber die Uebersezung ihren römischen Autor zum Beispiel reden lassen will wie er als Deutscher zu Deutschen würde geredet und geschrieben haben: so bewegt sie den Autor nicht etwa nur eben so bis an die Stelle des Uebersezers, denn auch dem redet er nicht deutsch, sondern römisch, vielmehr rükkt sie ihn unmittelbar in die Welt der deutschen Leser hinein, und verwandelt ihn in ihresgleichen; und dieses eben ist der andere Fall. [...]

Das Ziel, so zu übersezen wie der Verfasser in der Sprache der Uebersezung selbst würde ursprünglich geschrieben haben, ist nicht nur unerreichbar, sondern es ist auch in sich nichtig und leer; denn wer die bildende Kraft der Sprache, wie sie eins ist mit der Eigenthümlichkeit des Volkes, anerkennt,


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der muß auch gestehen daß jedem ausgezeichnetsten am meisten sein ganzes Wissen, und auch die Möglichkeit es darzustellen, mit der Sprache und durch sie gebildet ist, und daß also niemand seine Sprache nur mechanisch und äußerlich gleichsam in Riemen anhängt, und wie man leicht ein Gespann löset und ein anderes vorlegt, so sich jemand auch nach Belieben im Denken eine andere Sprache vorlegen könne, daß vielmehr jeder nur in seiner Muttersprache ursprünglich producire, und man also gar die Frage nicht aufwerfen kann, wie er seine Werke in einer andern Sprache würde geschrieben haben.“

 

Fragen an den Text:

  1. Wie charakterisiert Schleiermacher Sprache?
  2. Welche Arten des Übersetzens gibt es nach Schleiermacher? Erklären sie die Unterschiede mit Ihren eigenen Worten.
  3. Schleiermacher nimmt eine Bewertung der Übersetzungsarten vor. Erläutern sie diese und nehmen sie dazu Stellung.

 

2. Wilhelm von Humboldt(2)

„Welcher Mensch, auch ausser dem künstlerischen und genialischen Hervorbringen, hat sich nicht, oft schon in früher Jugend, Gebilde der Phantasie geschaffen, mit denen er hernach oft vertrauter lebt, als mit den Gestalten der Wirklichkeit? Wie könnte daher je ein Wort, dessen Bedeutung nicht unmittelbar durch die Sinne gegeben ist, vollkommen einem Worte einer andern Sprache gleich seyn? Es muss nothwendig Verschiedenheiten darbieten, und wenn man die besten, sorgfältigsten, treuesten Uebersetzungen genau vergleicht, so erstaunt man, welche Verschiedenheit da ist, wo man bloss Gleichheit und Einerleiheit zu erhalten sucht. [...]

Eine Uebersezung kann und soll kein Commentar seyn. Sie darf keine Dunkelheit enthalten, die aus schwankendem Wortgebrauch, schielender Fügung entsteht; aber wo das Original nur andeutet, statt klar auszusprechen, wo es sich Metaphern erlaubt, deren Beziehung schwer zu fassen ist, wo es Mittelideen auslässt, da würde der Uebersezer Unrecht thun aus sich selber willkührlich eine den Charakter des Textes verstellende Klarheit hineinzubringen.“

 

Fragen an den Text:

  1. Warum geht v. Humboldt davon aus, dass Worte verschiedener Sprachen nicht dieselbe Bedeutung haben können?
  2. Weshalb stellt man beim Vergleich verschiedener Übersetzungen desselben Originaltextes Unterschiede fest?
  3. Was darf nach v. Humboldt eine Übersetzung, was darf sie nicht?



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3. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff(3)

„[Mein Lehrer] Moriz Haupt begann mein Doktorexamen damit, daß er mich, den er persönlich gar nicht kannte, eine lange Reihe von Versen des Lucretius lesen ließ. Dann sagte er, als ich anfangen wollte zu übersetzen: ‚es ist gut. Verstehen tun wir’s beide, und übersetzen können wir’s beide nicht’. Er pflegte auch im Kolleg nicht zu übersetzen, es sei denn ins Lateinische. [...]
Er hatte recht im einzelnen, aber im ganzen hatte er nicht recht. Es war ein gutes Teil seines Verständnisses, das er zurückbehielt, weil er nicht wie unvollkommen auch immer übersetzte. Und wenn wir den einen Ausdruck nicht wiedergeben können (in Wahrheit können wir ein einzelnes Wort fast nie übersetzen, weil abgesehen von technischen Wörtern niemals zwei Wörter zweier Sprachen sich in der Bedeutung decken), so kann man doch auch im Deutschen einen verhaltenen Vorwurf, der darum nur tiefer verwundet, zum Ausdruck bringen, kann also den Gedanken nicht nur, sondern auch das Ethos der Rede wiedergeben.
Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben.
Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.(4)

 

Fragen an den Text:

  1. Warum ließ der Lehrer von Wilamowitz-Moellendorff seine Studenten den lateinischen Text nicht übersetzen?
  2. Was meint Wilamowitz-Moellendorff mit „Gedanken“ und „Ethos“?
  3. Wie charakterisiert er das Übersetzen? Nehmen Sie zu seiner Meinung Stellung.

 

4. Wolfgang Schadewaldt(5)

„Über die Pflicht und Schuldigkeit des Übersetzers bestehen in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, zwei voneinander durchaus verschiedene Auffassungen. Beim Übersetzen von Dokumenten jeder Art, vor allem zwischenstaatlich-politischen, aber auch beim Übersetzen von naturwissenschaftlichen, medizinischen oder technischen Schriften erwartet man vom Übersetzer in der Wiedergabe des originalen Wortlauts die strikteste Sorgfalt und Genauigkeit. Würde er bei diesen Gegenständen sich einfallen lassen, in der Übersetzung mit beliebiger Freiheit zu verfahren, das allergrößte Unheil könnte daraus entstehen.


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Ganz anders im literarischen oder gar poetischen Bereich. Hier geht es darum, daß der Übersetzer nicht lediglich richtig, sondern daß er schön und ansprechend übersetzt, und so wird ihm nach der allgemeinen Meinung in seinem übersetzerischen Tun eine ansehnliche Bewegungsfreiheit zugestanden. Er darf, zumal bei poetischen Übersetzungen, um des Verses willen ebenso kürzen wie hinzufügen, darf die Vorstellungen, die Bilder ändern, wenn sie in der eigenen Sprache ungewöhnlich sind. Und tut er dies mit Geschick, so daß ein gut lesbares, ansprechendes Deutsch herauskommt, so kann er dafür des Lobs gewiß sein. [...]
Es ist eine Art des Übersetzens, bei der es also vor allem darauf ankommt, daß man als Übersetzer transponiert, und so sei diese Art des Übersetzens als das transponierende(6) Übersetzen bezeichnet und jenem anderen dokumentarischen(7)Übersetzen entgegengestellt. [...]

Man hat dieses transponierende Übersetzen für literarische und poetische Zwecke auch theoretisch gerechtfertigt. Und so hat der englische Dichter John Dryden schon vor bald dreihundert Jahren das Wort gesprochen: Vergil müsse in einer englischen Übersetzung so sprechen, wie er als Engländer zu Engländern gesprochen hätte. Dieses Wort ist in Deutschland seit dem Zeitalter des Klassizismus viel nachgesprochen worden. [...]
Um von mir zu sprechen, so haben mir diese Dinge, als ich mich vor zwei Jahrzehnten ernsthaft dem Übersetzen griechischer Dichtung zuwandte, viel Kopfschmerzen gemacht. Es gelang mir beim besten Willen nicht einzusehen, warum der Übersetzer eines politischen oder wissenschaftlichen Dokuments zur größeren Genauigkeit verpflichtet sein soll, dem Übersetzer eines Dichtwerks aber eine Freiheit zugestanden wird, die bis zur Willkür geht.
Wenn Dryden gesagt hat, daß Vergil in der Übersetzung so sprechen müsse, wie er als Engländer gesprochen hätte, so erschien mir dies als bare Unmöglichkeit. Denn wäre Vergil nicht Römer, sondern Engländer gewesen, so wäre er vermutlich auch nicht Vergil gewesen und hätte auch keine ‚Aeneis’ verfaßt. Wenn Wilamowitz sagte, die Übersetzung sei ein Umkleiden, das Kleid werde neu, der Leib aber bleibe bestehen, so erschien mir diese Trennung von Form und Inhalt doch gar zu gewaltsam. Und wie nun gar bei wechselndem Leibe die Seele dieselbe bleiben solle, erschien mir gänzlich unerfindlich, da Leib und Seele doch eine Einheit bilden. [...]

Unleugbar allerdings, daß das transponierende Übersetzen unter gewissen Umständen sein sachliches Recht hat. Es ist überall dort am Platz, wo die Sprache des Originals den Charakter des Redensartlichen hat. [...] In solchen Fällen ist es nur im Sinne des dokumentarischen Übersetzens, daß man die abgegriffene oder elegante Redensart des Originals in eine entsprechende Redensart der eigenen Sprache umsetzt. [...]


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Was aber ist zu tun jener großen, ernsten Dichtung gegenüber, in der das Wort in seinem Wesen nicht konventionell alltäglich, sondern ungewöhnlich, einzigartig, ursprünglich im höchsten Sinne ist, wo es mit höchster Eigenständigkeit die originalen Vorstellungen des Dichters ausdrückt, die ihm eigentümlichen originalen Visionen, in denen ihm die Welt vor Augen kommt?
Mir scheint, in solcher, im höchsten Sinne originalen Dichtung sind die Worte wie Vorstellungen von höchster dichterischer Relevanz, und wenn man sie in andere Worte und Vorstellungen umsetzt, so bewahrt man nicht den Geist der Dichtung, sondern zerstört ihn. Davon abgesehen, daß die Umsetzung nur zu oft zur Trivialität führt, kann die Umsetzung nur das ungefähr Gemeinte festhalten, jenes Allerwelts-Gemeinte, das der Dichter in dem ihm eigenen ursprünglichen Wort doch gerade auf einzigartige Weise verleiblicht.
Mir scheint, einer solchen Dichtung gegenüber – ich denke an Homer, Sappho, Pindar, Aischylos, Sophokles, Dante, Shakespeare, Racin – ist nur eine Übersetzungsart angebracht, die sich wie jenes zuerst erwähnte dokumentarische Übersetzen mit größter Verantwortlichkeit an die originalen Worte und Vorstellung des Dichters bindet.
Wir lesen diese Dichterwerke ja keineswegs nur ihres ästhetischen Wertes wegen. Auch diese großen Dichtwerke haben für uns die Bedeutung und den Charakter von Dokumenten: Dokumente des historischen Lebens einer vergangenen Zeit, des Menschlichen, Gesellschaftlichen, Seelischen, des Denkens wie vor allem auch des Glaubens, und auch der naive Leser nimmt und versteht sie als Dokumente. [...]

Die Gefahr alles transponierenden Übersetzens beruht mithin darauf, daß dieses Übersetzen in dem Bestreben, das Fremdartige dem eigenen Landesüblichen ‚nahezubringen’, falsche Assoziationen erregt. Eine solche ‚verdeutschende’ Übersetzung mag als glatt und ansprechend, ja als glanzvoll erscheinen, aber ihr Glanz ist ein falscher Glanz, und die Übersetzung handelt sich selbst zuwider, indem sie das Original nicht erschließt, sondern es verdeckt. [...]

Konkret gesprochen, habe ich mich im Sinne dieses dokumentarischen, wort-adäquaten Übersetzens vor allem an drei Forderungen gehalten. Erstens die Forderung, vollständig zu übersetzen, nichts wegzulassen und nichts hinzuzufügen. Zweitens die Forderung, die genuinen(8) Vorstellungen des Dichters, die ihm eigentümlichen Ideen und seine Bilder in ihrer Reinheit und Eigentümlichkeit zu bewahren. Und drittens die Forderung, die Abfolge der Vorstellungen des Dichters bis auf die Wortstellung im Satz soweit wie nur irgend möglich auch im Deutschen einzuhalten. [...]

Wie sich von selbst versteht, ist dieses dokumentarische Übersetzen nicht durchführbar ohne Opfer auf der anderen Seite. Jedes Übersetzen, im striktesten Sinne, ist unmöglich. Es ist praktisch aber zugleich notwendig, und das heißt, alles Übersetzen ist problematisch. Als problematische Operation verlangt das Übersetzen Verzicht und Opfer. Das Original läßt sich auf keine Weise erschöpfend in seiner Ganzheit übersetzen. Die Übersetzung, welcher Art sie sei, vermag nur einen Aspekt des Originals wiederzugeben. Das ist nicht anders. Man mag deswegen die Kunst des Übersetzens geradezu als eine Kunst des Opferns definieren [...] oder, um es genauer zu präzisieren: als die Kunst des richtigen Opferns.“



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Fragen an den Text:

  1. Welche Arten des Übersetzens nennt Schadewaldt? Worin liegen ihre jeweiligen Schwierigkeiten und Vorteile? Charakterisieren sie diese mit eigenen Worten.
  2. Wie bewertet Schadewaldt diese Arten? Wann sind sie angemessen, wann nicht?
  3. Wie soll nach Schadewaldt Dichtung übersetzt werden? Warum?
  4. Erklären sie, was Schadewaldt meint, wenn er sagt, dass „die Kunst des Übersetzens als eine Kunst des Opferns“ zu definieren sei.

 

5. Manfred Fuhrmann(9)

„Normale oder Sachprosa sowie Kunstprosa: diese beiden Textbereiche sollen nunmehr auf die Frage hin erörtert werden, was dort jeweils als ‚gute Übersetzung’ gelten kann. Die Untersuchung bedient sich hierbei einer ähnlichen Alternative wie Schadewaldt: sie bezeichnet das dokumentarische Übersetzen als ‚ausgangssprachenorientiert’ und das transponierende Übersetzen als ‚zielsprachenorientiert’.
Unter der erstgenannten Kategorie wird ein Übersetzungsverfahren verstanden, das die Wortwahl, die Wortstellung und die syntaktischen Strukturen des Originals zu kopieren sucht, soweit dies die Zielsprache zuläßt, selbst um den Preis einer ungewohnten oder gar schroffen Diktion; die andere Kategorie zielt auf Übersetzungen, die – um den Preis des Verzichts auf rigorose Genauigkeit – ein glattes, gefälliges Deutsch anstreben.

Das Ergebnis der Betrachtung sei vorweggenommen; es scheint paradox zu klingen. In den beiden Bereichen gelten je verschiedene Regeln, so daß dort auch je verschiedene Übersetzungen als ‚gut’ angesehen zu werden verdienen. Im Bereich der normalen Texte ist die zielsprachenorientierte Übersetzung im allgemeinen die angemessene Lösung: hier kommt es auf eine exakte Wiedergabe der Wortstellung oder der syntaktischen Strukturen weniger an als auf eine möglichst eingängige Vermittlung des Inhalts; ausgangssprachenorientierte Übersetzungen können allerdings bei philosophischen oder stark mit Termini durchsetzten fachwissenschaftlichen Texten als Hinführung zum Original den Vorzug verdienen.
Im Bereich der Kunstprosa wiederum ist, insbesondere was die dort verwendeten künstlerischen Mittel angeht, zielsprachenorientiertes Übersetzen nicht einmal als Ausnahme möglich; je stärker ein Prosatext künstlerisch geformt ist, desto mehr muß sich die Übersetzung in Diktion, Wortstellung und Satzstruktur an das Original anzuschmiegen suchen. [...]


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Das Lateinische und Deutsche kennen – wie alle Sprachen – zwei Grundtypen von Normen: (1) zwingende Regeln, d.h. Gebote oder Verbote, die keine oder kaum eine Ausnahme zulassen; (2) Regeln des ‚guten Stils’, d.h. allerlei Konventionen, die fast immer oder meist befolgt werden, von denen man jedoch auch, und sei es um den Preis einer unbeholfenen oder sonstwie befremdlichen Ausdrucksweise, von Fall zu Fall abweichen kann.
Die jeweiligen Normen aber sind in den beiden Sprachen nicht deckungsgleich: einem zwingenden Gebot im Lateinischen kann ein zwingendes Verbot im Deutschen gegenüberstehen (eine im Lateinischen obligatorische Konstruktion z.B. ist dem Deutschen gänzlich fremd), und vieles, was im Lateinischen fast immer oder meist befolgt wird, ist im Deutschen gerade eben noch zulässig, wenn auch unter der Verletzung des ‚guten Stils’. Und exakt diese verschiedenen Grade von Inkongruenzen, von sei es stets, sei es in aller Regel erforderlichen Abweichungen sind die Voraussetzung dafür, daß man beliebige Texte sei es ausgangssprachen-, sei es zielsprachenorientiert übersetzen kann. Denn die ausgangssprachenorientierte Übersetzung nimmt lediglich auf die Inkongruenzen des ersten Typs, auf die Differenzen im Bereich der zwingenden Normen bedacht; die zielsprachenorientierte Übersetzung hingegen trägt darüber hinaus noch der Tatsache Rechnung, daß in den beiden Sprachen auch die Regeln des ‚guten Stils’, des Üblichen und Gewöhnlichen, voneinander abweichen. [...]

Es wurde bereits angedeutet, daß bei rhetorischen Texten, die ihre Form gleichsam zur Schau tragen und durch ihre auffällige Stilisierung eine besondere Absicht zu erkennen geben, zielsprachenorientiertes Übersetzen nicht in Betracht kommt. [...]
Was der Autor eines relativ kunstvollen, eines manierten, pathetischen oder sonstwie markant vom Alltäglichen abweichenden Textes frei, d.h. unbeengt durch zwingende Regeln oder durch Konventionen seiner Sprache ausgewählt hat, um seinem besonderen Stilwillen, seiner besonderen Wirkungsintention Ausdruck zu verleihen, ist für den Übersetzer in dem Sinne verbindlich, daß er nicht nach einer analogen Wiedergabe suchen darf, sondern einzig und allein eine möglichst ähnliche Wiedergabe anstreben muß. Er ist also überall dort, wo sich der Autor des Originals unter mehreren Möglichkeiten für eine Formulierung entschieden hat, die nicht am nächsten lag, zu rigoroser Wörtlichkeit verpflichtet, und zwar gerade dann, wenn sein Produkt das Original ersetzen soll, wenn es also dieselben Wirkungen erzielen sucht, wie sie das Original beim ursprünglichen Publikum erzielt haben mag. Denn Stilistika zielen stets auf bestimmte künstlerische Wirkungen, und um der Wirkungsäquivalenz willlen darf der Übersetzer die Stilmittel, die seine Vorlage verwendet, nicht verwischen und nicht einebnen.“



                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 103
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Fragen an den Text:

  1. Wie benennt Fuhrmann die Arten des Übersetzens? Stellen sie die Besonderheiten dieser Arten zusammen.
  2. Erläutern Sie mit eigenen Worten, wann Fuhrmann welche Art des Übersetzens angewendet sehen möchte.
  3. Wovon hängt es ab, ob eine Übersetzung ‚gut’ ist oder nicht?
  4. Erklären Sie die unterschiedlichen Arten von Sprachnormen, die Fuhrmann beschreibt. Nennen Sie ein Beispiel für unterschiedliche Sprachnormen des Deutschen im Gegensatz zum Lateinischen.
  5. Warum sollen Texte, die auffällig stilistisch strukturiert sind, nach dem dokumentarischen Verfahren übersetzt werden?
  6. Wo sehen Sie Schwierigkeiten dieser Forderung?



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(1) Theologe und Philosoph, lebte 1768-1834, Auswahl aus: Methoden des Übersetzens, zitiert nach: H. J. Störing (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, S. 38-70.

(2) Preußischer Politiker, Schulreformer, Sprachforscher und Philosoph, lebte 1767-1835. Auswahl aus: Einleitung zu „Agamemnon“, in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, S. 71-96.

(3) Altphilologe, lebte 1848-1931. Auswahl aus: Was ist übersetzen?, in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, S. 139-169.

(4) Metempsychose: (griechisches Fremdwort) Seelenwanderung.

(5) Altphilologe, lebte 1900-1974, übersetzte vor allem griechische Theaterstücke und Homer. Auswahl aus: Antikes Drama auf dem Theater heute, in: ders., Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Bd. II : Antike und Gegenwart, Zürich/Stuttgart 1970, S. 650-671.

(6) Transponierend: abgeleitet aus trans + ponere.

(7) Dokumentarisch: abgeleitet von docere beziehungsweise documentum (= Beweis, Probe, Zeugnis).

(8) Genuin: (von lat. genus) echt, unverfälscht.

(9) Altphilologe, lebte 1925-2005. Auswahl aus: Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts?, in: Der Altsprachliche Unterricht 35/1 (1992), S. 4-20.