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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/2 (2007), 15

Henning Hufnagel

Pro L. Catilina oratio – antike Rhetorik im Selbstversuch


Auf den folgenden Seiten wird keine im engen Sinne wissenschaftliche Auseinandersetzung, kein Aufsatz über einen Aspekt der antiken Rhetorik zu finden sein, sondern eher eine Art praktischen Nachvollzugs derselben. Genauer gesagt: Im Anschluss ist eine Rede zu lesen, ein Text, der den Maßgaben der antiken Schulrhetorik folgt, und in ihr verteidige ich den Putschisten Catilina im Römischen Senat gegen Marcus Tullius Cicero.

Meine Rede antwortet also auf Ciceros vier sogenannte Catilinarien, und stützt sich als weiteren Referenztext auf Sallusts Darstellung des Putschversuchs in seiner Coniuratio Catilinae. Die Rede versucht, Cicero zu widerlegen - oder, wo nicht das möglich ist, zumindest einen rhetorischen Spielraum für eine alternative Darstellung zu gewinnen, indem sie sich Ungereimtheiten in Ciceros Bericht von Ausmaß und Ablauf der Verschwörung zunutze macht, Positives an der Gestalt Catilinas findet und gleichzeitig dunkle Punkte an Cicero, in seiner Biographie und in seinem Verhalten während der Affäre herausstellt. Die Rede soll jedoch nicht im luftleeren Raum der Hypothesen schweben, sondern – soweit soll die Fiktion getrieben sein - zu einem präzisen Zeitpunkt gehalten werden und sich in den zeitlichen Zusammenhang der catilinarischen Verschwörung einbetten. Doch das ist nur der erste Teil der Aufgabe: Darüber hinaus gilt es, auch wenn die Rede auf Deutsch geschrieben ist, die Argumentation auf ein römisches Publikum, deren Staatsverständnis und mythologischen Hintergrund abzustimmen. Es müssen kräftige Bilder gefunden werden, um echtes Pathos hervorzurufen, und die gesamte Rede muss in einer Sprache gestaltet sein, die wirklich sprechbar ist, deren Satzbau also der Maßgabe des Atems folgt.

Das System der antiken Rhetorik hat so eine Art Rede indessen bereits vorgesehen, erfasst und klassifiziert: Eine solche Rede post festum, die einen alternativen Gang der Geschichte imaginiert, ist eine declamatio, will heißen eine fiktionale Übungsrede über beliebige, auch unwahrscheinliche oder insbesondere moralisch fragwürdige Gegenstände.(1)

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In die Nähe der declamatio gehört dabei auch die paradoxe Lobrede, in der die Regeln des Enkomiums spielerisch auf niedrige oder tadelnswerte Gegenstände angewendet werden - so existiert beispielsweise nicht nur eine Lobrede auf Helena dafür, dass sie den Trojanischen Krieg ausgelöst habe, sondern auch ein „Lob der Fliege“ oder sogar ein „Lob der Krankheit“.(2) Wie eng die beiden Textsorten zusammengehören, wird schlagend durch Erasmus’ Lob der Torheit belegt -  galt es zum einen in der Renaissance doch als Paradigma des paradoxen Enkomiums und firmierte, wie das Titelblatt kundtut, doch zum anderen selbst unter der Gattungsbezeichnung declamatio.

Durch solche fiktionalen Übungsreden sollten einerseits Rhetorik-Schüler auf besondere geistige Wendigkeit trainiert werden. Sie sollten lernen, eine Causa von allen Seiten zu durchdenken, sollten Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit erlangen, um so für ihre Rednertätigkeit in Politik und insbesondere vor Gericht gewappnet zu sein. Andererseits hielten gerade auch Rhetoriklehrer solche fiktionalen Gerichtsreden, angefangen bei den griechischen Sophisten, sei es, um ihren Schülern die schier unbegrenzten Möglichkeiten der Redekunst praktisch vor Augen zu führen, sei es, um im öffentlichen Vortrag neue Schüler zu gewinnen, und schließlich scheint es in der Antike auch ein Publikum gegeben zu haben, das den Vortrag solcher Prunkreden wie Musik, wie ein Konzert zu schätzen und genießen wusste. Zahlreiche Werke Lukians etwa zählen zu dieser Kategorie. Zu ihr hat man wohl auch den zumeist in der Philosophiegeschichte angesiedelten Text des Sophisten Gorgias zu rechnen, der den paradoxen Titel trägt Über das Nichtseiende oder die Natur: Darin beweist er auf der Grundlage von Zenons Dialektik, dass erstens nichts existiert, zweitens, dass wenn etwas existieren würde, es unerkennbar wäre, und dass schließlich selbst für den Fall, dass etwas erkannt würde, diese Erkenntnis nicht mitteilbar wäre.(3)

Meine Verteidigungsrede für Catilina hatte, als ich sie 1997 schrieb, - ganz ähnlich wie die Prunkreden der griechischen Sophisten, könnte man sagen - einen praktischen Hintergrund: Sie war ein Beitrag zum altsprachlichen Wettbewerb der Stiftung „Humanismus heute“. „Humanismus Heute“ ist eine Stiftung des Landes Baden-Württemberg, die sich die Aufgabe gestellt hat, das kulturelle Erbe der Antike zu pflegen und seine Weitergabe zu fördern.(4) Dazu richtet sie jedes Jahr einen Wettbewerb aus, der allen Schülerinnen und Schülern der Oberstufe in Baden-Württemberg offensteht. Der Wettbewerb selbst geht über drei Runden. Auf jeder Stufe werden Preise vergeben, wobei ein erster Preis zusätzlich den Zugang zur nächsten Runde eröffnet. In seinem ersten Durchgang besteht der Wettbewerb in der Anfertigung einer Hausarbeit, wobei man unter mehreren jährlich wechselnden Themen wählen kann – vornehmlich Textvergleichen aus griechischer und römischer Antike sowie der Bibel, doch auch neuzeitlicher Literatur, meistens in Gestalt universitätsähnlicher Seminararbeiten, doch mitunter auch in Formen von creative writing. In meinem Fall war das die Verteidigungsrede für Catilina.

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Gewinner eines ersten Preises dürfen an einer Akademiewoche im Seminarzentrum des barocken Klosters Neresheim teilnehmen, in der anhand einer Vielzahl von Texten, doch auch Bildern und Musikstücken ein philosophisches Rahmenthema erarbeitet wird.

Die zweite Runde besteht in einer abitursähnlichen Klausur, und in der dritten Runde spricht man über ein frei aus dem Bereich der Alten Sprachen gewähltes Thema vor einer Jury auf Schloss Salem, wobei als erster Preis die Aufnahme in die Studienstiftung des Deutschen Volkes winkt, während zweite Preisträger einen Zuschuss für eine eigene, frei zu planende Studienreise erhalten.

Viele Schüler nutzen die Wettbewerbsarbeit auch als Ersatz für eine Leistungsverpflichtung an ihrer Schule bzw. können sie sich unter bestimmten Bedingungen als besondere Lernleistung im Fach Latein oder Griechisch anrechnen lassen. Doch auch ganz unabhängig vom Wettbewerb schiene es mir ein lohnendes Experiment, im altsprachlichen Unterricht einmal stärker auf eine Weise mit antiken Textformen und Themen umzugehen, wie ich dazu 1997 mit der Rhetorik Gelegenheit hatte. Nach der analytischen Aufarbeitung eines Themenkomplexes könnte, etwa im Rahmen von Projektarbeiten in der Oberstufe, dann der eigene schöpferische Umgang der Schüler mit den Textformen stehen. Vielleicht würden sie nicht unbedingt gleich Hexameter schreiben oder eine horazische Ode, aber eventuell doch einen Brief in der Art Senecas, ein Fragment eines platonischen Dialogs – oder eben eine Rede gegen Cicero.

 

Rede zur Verteidigung L. Catilinas, gehalten am 5.12.63 v.Chr. als Antwort auf Ciceros IV. Catilinarische Rede, unmittelbar bevor das Wort an Cato ergangen wäre

I. Bevor ihr, Männer des Senats,(5) überstürzt und beinahe vorschnell, wie mir scheint, eine Entscheidung trefft: lasst uns die Sache lieber noch einmal gemeinsam durchgehen ‑ ruhig und nüchtern; wenn die Donner der Worte des Konsuls verhallt sind, der uns Catilina ja in so grässlichen Farben ausgemalt ‑ und auch sich selbst dabei ins rechte Licht gerückt hat.

Wie lange noch, Cicero, willst du uns hier langweilen? Bis wann uns deine elende Ruhmredigkeit noch zumuten? Zu welchem Ende deine Prahlsucht treiben? Mich sollte es nicht wundern, wenn du demnächst ein Epos auf deine Taten schriebest!(6) Freilich rosshaarschimmernde Hexameter wie die eines Ennius, den du dir zum Vorbild nimmst, dürfen wir wohl nicht erwarten! Wie auch, ihr Senatoren? Dieser arme Tropf hielt ja die Regentropfen eines gewissen Aratos, einen Griechen, für übertragenswert!(7) Doch abgesehen davon, wie das Versemachen einem Staatsmann überhaupt zu Gesicht steht ‑ sollte er nicht solche Schminke lieber Weibern oder denen, die nicht zum Kriegsdienst noch zu den Ämtern taugen, überlassen?

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Oder ist Marcus Tullius letzen Endes gar selbst einer von ihnen? ‑ doch abgesehen davon, wie gesagt, schreit dieser Mann „Was zaudert ihr? Ihr habt sie doch verurteilt, den Lentulus, Cethegus und die andern!“ Er drängt auf einen schnellen Beschluss. Wie? Er drängt euch. Euch - die besten Männer Roms, deren Urteilskraft doch jenseits jeden Zweifels steht; wie stünde denn die Stadt sonst noch, und herrscht sie nicht über den gesamten Erdkreis?

II. Aber er meint, er müsse euch drängen. Für ihn ist der Fall ja klar. Er wusste es von Anfang an. Doch glaube ich ‑ und ich verbessere ihn nicht gern ‑, hier habe sich Cicero in der rhetorischen Gattung geirrt, Cicero, ‑ der beliebteste und gefürchtetste Redner Roms - beliebt wohl bei seinen Gegnern, die er zum Lachen bringt, wie neulich Cato,(8) gefürchtet aber bei seinen Mandanten, weil er ja jeden Moment wieder von den Peinlichkeiten seiner Taten anfangen könnte - indessen fällt die ganze Angelegenheit Catilinas unter das genus obscurum, sein Fall ist undurchsichtig, alles andere als eindeutig ‑ ganz gleich, was Cicero euch einreden will, wie einfach er sei!

Was ist eigentlich geschehen, was ist denn sicher? Wir wissen nur, dass sich Catilina im vorigen Jahr ebenso wie Cicero um das Konsulat bewarb, dass letzterer eine wüste Rede gegen ihn hielt.(9) In der er ihm sogar Mord vorwarf – woran Cicero jetzt  auch denkt –,(10) Catilina indessen glänzend freigesprochen wurde. Dennoch verfehlte er um nur wenige Stimmen, also völlig unverdientermaßen, das hohe Amt. Dadurch ließ er sich jedoch keineswegs entmutigen und beschloss, zum vierten Male für das folgende Jahr zu kandidieren. Wir wissen, dass er sich schon auf anderen Posten hervorragend bewährt hat(11) und sich unermüdlich weiter einbringen wollte, dass er ‑ welch ein Mensch! – die Sache der Enterbten zu der seinen machte,(12) wohl wissend, dass man dabei keinen Ruhm ernten könne. Spötter sagen ja, er tat das nur, weil er selber verschuldet war. Und warum? Weil er großzügig einen jeden seiner vielen Freunde unterstützte, wenn er in Not geriet, weil er lieber den letzten goldenen Becher seinem Freunde gab, als selbst daraus zu trinken. Das wird euch sogar Cicero bestätigen:(13) Catilina hörte die Vergessenen, während Cicero nur sich selbst hörte; Catilina wollte denen, durch die du, o Rom, groß geworden bist, weil sie als Soldaten für dich kämpften, Land zum Leben geben und ihre Schulden tilgen,(14) während Cicero, dessen Purpurtoga jene mit ihrem Blut bezahlt haben, alles derartige zusammen mit Catilinas Wahl verhinderte. Zudem wurde er misstrauisch; ein Mann, der sich zum vierten Mal um das Konsulat bewirbt, kann nur nach der Alleinherrschaft streben. Aber wer es nach der ersten Wahl ohne ein Programm gleich erhält,(15) den bewegen nur die lautersten Motive, nicht wahr, Cicero? Und weil es unserem Konsul weder an Witz noch an Phantasie mangelt, glaubte er gleich sein Leben bedroht ‑ und spazierte bei der Abstimmung in Rüstung, wie ein Theaterheld!, über das Marsfeld. Er verkehrte damals auch mit einer, nun, sagen wir, besseren Dirne, mit der er „Beweise“ in der Hand, in den Armen zu halten glaubte. - Nein, keine Beweise seiner Manneskraft, ihr Männer des Senats, sondern einer „Verschwörung“  ‑ mit Catilina an der Spitze. Einer, ihr Väter, jener griechischen Philosophen, die Marcus Tullius ja so schätzt, wurde zum Tode verurteilt, weil er andauernd eine Gehörs-Halluzination(16) für wahr hielt. Ciceros Phantasien dagegen nahmen sogar reale Gestalt an in Form von Briefen, anonymem Gekritzel, das angeblich vor angeblichen Mordplänen Catilinas warnte. Cicero meint wohl, immer alle übertreffen zu müssen.

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Als er die Briefe dem Senat vorlegte, glaubte prompt ein anderer, dass er von Murren und Unruhe unter den etrurischen Siedlern gehört habe. Er hätte gerechte Empörung hören müssen! War jenen hochverdienten Veteranen doch nicht nur durch die Raffgier einiger Weniger Habe und Ehre genommen worden, sondern auch die Hoffnung auf einen Konsul Catilina - durch die Missgunst dieses Cicero. Darauf beschloss der Senat, die beiden Konsuln, das heißt Cicero mit den Vollmachten eines Dictators auszustatten ‑ obgleich noch gar nichts geschehen war. Doch leider werden häufig ja die gehört, die am lautesten schreien, und nicht diejenigen, die sich durch den nüchternsten Blick hervortun. Dann erkoren jene Empörten Gaius Manlius zu ihrem Wortführer, der sie - als alter Offizier - militärisch organisierte, um Ausschreitungen zu vermeiden. Doch kaum hört Cicero dies, hört, dass Manlius und Catilina unter Sulla gedient haben, macht er sie beide zu „Catilinariern“, die am liebsten den Himmel noch umstürzten. Wie, Cicero, bist du vielleicht selbst ein „Catilinarier“, weil ihr zusammen unter Strabo dientet? Und stürzt du den Himmel etwa nicht um, wenn du dich über den heiligen Gründer dieser ewigen Stadt erhebst? Denn das hat er getan, dieser Romulus aus Arpinum,(17)  indem er sagte, über die Rettung ‑ Roms durch ihn ‑ empfinde man Freude, die Geburt Roms ‑ durch den Sohn des Mars ‑ aber erlebe man ohne Empfindung. Doch bist du ja für deine treffenden und übertreffenden Vergleiche bekannt, du hast ja recht, da du tatsächlich von einer „Wölfin“(18) gesäugt wurdest!

Ihr seht, Männer des Senats, wie mühsam ich meine Empörung über den Mann nur zügeln kann, der Catilina anklagen ließ, weil irgendwer irgendeinen Einbruch versuchte,(19) der ihn solange beschimpfte und bedrohte, bis Catilina alle Luft zum Atmen wie vergiftet war, obwohl er sich, seiner Unschuld sicher, anerbot, bis zur völligen Klärung des Vorfalls in freiwilligem Gewahrsam zu bleiben. Freilich hätte er heftig alles abgestritten, hätte Marcus Tullius gesagt „Seht, wie er rot wird ‑ nicht aus gerechtem Zorn, doch aus Scham. Wie er wütet ‑ wie wütete er erst, wenn er Konsul wäre“. Doch auch die philosophische Gleichmut, die Catilina übte, legte ihm dieser Wortverdreher von einem Advokaten noch übel aus. Cicero beschwor die Despotie ‑ dabei herrschte sie bereits in Rom! Er befahl nämlich einem freien Mann aus altem Adel, die Stadt zu verlassen. O Cicero, glaubst du etwa, wenn du deine Tyrannengewänder einem anderen umhingst, ändertest du dich? O Cicero, wärest du Tuchreiniger geblieben wie dein Vater(20) und beschmutztest nun nicht die Konsulntoga!

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Jedenfalls machte sich Catilina auf ins freiwillige Exil, nach Massilia. Wenn es denn nur dem Staate helfe, sagte er sich. Als er auf seiner Reise aber notwendigerweise durch Etrurien kam, liefen ihm die Menschen mit hoffnungschimmernden Augen entgegen, nannten ihn ihren Retter und rechtmäßigen Konsul. Und wer, ihr Männer des Senats, wäre so hart geblieben und weitergezogen, da ihre Sache ja gerecht ist und Catilina doch ein so weiches und mildes Herz hat. Doch Cicero lässt ihn zum Staatsfeind erklären. Zum Staatsfeind! Als ob man ihm damit keine Ehre erwiese, gehört es doch für einen großen Politiker heute fast schon zum guten Ton, einmal Staatsfeind gewesen zu sein. Catilina stellt er mit Marius, den wir gerade noch als den größten Soldaten Roms rühmten,(21) und Sulla, dessen Reformen er so bewundert, in eine Linie!(22) Doch war dieser Akt eigentlich gar nicht rechtskräftig, hätte die Volksversammlung ja noch zustimmen müssen, doch lassen wir das.(23) In Rom wäre wieder Normalität eingekehrt, hätte Cicero nicht weiter Gespenster gesehen ‑ und nicht Murena verteidigt, den designierten Konsul, wegen Wählerbestechung belangt, der Catilina um Stimmen und Amt gebracht hatte - und den man nur freisprach, weil Cicero sagte, ein, d.h. sein, „Staatsfeind“ sei noch nicht besiegt. Aber er sann ja schon auf etwas Neues, auf die Gesandtschaft der Allobroger. Freunde des Catilina, Männer aus dem höchsten Adel, seien sie nämlich angegangen, um sie angeblich ‑ jawohl, ich sage angeblich! ‑ zum Aufstand gegen Rom zu überreden. Darüber sitzt ihr jetzt zu Gericht.

III. Es scheint ja alles klar zu sein, doch bleibt manches dunkel in der Argumentation des Konsuls oder zeigt allzu deutlich seine Zweifelhaftigkeit. Zuerst schenkt Cicero den Allobrogern, Galliern, Barbaren, Feinden mehr Glauben als einem Publius Cornelius Lentulus Sura, der sich wie schon seine Vorfahren große Verdienste um das Gemeinwesen erworben hat. Dabei hat der Konsul doch unlängst den Galliern überhaupt jede Glaubwürdigkeit abgesprochen.(24) Dann sagte er, diese Freunde Catilinas seien so verschuldet, dass sie nicht einmal ihre Zinsen zahlen könnten, seien also zu allem fähig, um eine Tilgung zu erwirken. Sind die Allobroger denn nach Rom gekommen, um Cicero zu sehen? Nein, sondern weil sie unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen, weil sie unter allen Umständen auf Tilgung sinnen! Aber man traut eher einem Römer Umsturzpläne zu als Barbaren eine Lüge! Zudem der Konsul eine hohe Belohnung ausgelobt hatte, jedoch kein Römer Aussagen zu einer „Verschwörung“ machen konnte. - Cicero schreit: „Aber die Briefe!“

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Ja, die Briefe, von denen nur die Prätoren an der Milvischen Brücke wussten, die sie lieber in dein Privathaus als in einen unantastbaren Tempel brachten. Die Briefe, bei deren Inhalt du dir ja so sicher warst - oder sein konntest -, obwohl jeder dir riet, sie vor aller unnötiger Aufregung zu prüfen. Zuletzt ist ihr Inhalt selbst ‑ nichtssagend!, so dass es gleich ist, wer sie geschrieben hat. Man versichert sich darin nur der gegenseitigen Versprechungen. Cethegus könnte weitere Klingen für seine Sammlung, könnte Land für einen Gutshof kaufen,(25) könnte sogar einen Handel über blondes Frauenhaar abschließen, um Perücken für seine Familie aufzuputzen. Schließlich gilt bei den Barbaren ja kein geschriebenes Marktgesetz, sondern nur das Wort eines Mannes. Und was jener dahergelaufene Volturius vorbringt, den Cicero erstaunlicherweise jetzt als einzigen laufen lässt, entbehrt jeder Raffinesse, ist geradezu eines Catilina unwürdig, wenn dieser, Marcus Tullius, in solcher Reinheit alle Laster in sich vereinigt, wie du es darstellst. Wen hassten die Römer nicht, wenn er ihre Häuser niederbrannte, ihre Sklaven aufwiegelte? Ist doch Spartacus noch nicht so lange ans Kreuz geschlagen! Und dann ist es geradezu absurd, wenn Cicero einmal sagt, Catilina wolle die Allobroger mit ihren Fürsten auf den rauchenden Firsten Roms ansiedeln, und dann wieder, Catilina strebe nach der Alleinherrschaft über Rom. Ebenso absurd, wie dein „Trumpf“, auf den du wartest, Lentulus’ Brief.

 

Wie sollte er denn erst schreiben „Wer ich bin, erfährst du von dem, den ich zu dir schicke“, dann nicht unterzeichnen, um ihm schließlich sein wohlbekanntes Siegel aufzudrücken? Sagst du, er sei eben dumm, dieser alte Adlige, sage ich, wie sollte seine Verschwörung dann so gefährlich sein, wie du ja nicht müde wirst zu behaupten. Du weichst aus, er habe ja den Allobrogern die Prophezeiungen erläutert, nach denen er zum König bestimmt sei; ich erwidere, Prophezeiungen sind doch deine Sache,(26) und außerdem kennst du doch den Witz in der Rede des Lentulus. Und wie will man Barbaren Ironie verständlich machen, wenn er sich bei deinem aufgeregten Treiben, womit du das Vaterland zuschanden machst, wohl bald auf einen Hilferuf der Patria einstellen müsste? Da sagst du jetzt, er habe geschwiegen und sei ganz bleich geworden. Wie auch nicht! Blieb doch bei der rasenden Dummheit, die niemanden zu Wort kommen ließ,(27) bloß Raum für den physischen Ekel. Ausspucken hätte Lentulus wollen! Aus Trotz, sarkastisch bekannte er sich schuldig, weil er nicht glauben wollte, dass seine nächsten Anverwandten, ihr Männer des Senats, sich würden täuschen lassen! Und selbst, wenn euch nicht einmal jetzt die Augen offenstehen, was ist denn überhaupt geschehen? Cicero rühmt sich doch, seine „Verschwörung“ ohne Blutvergießen zerschlagen zu haben, und das einzige Feuer, das sich in Rom nicht löschen lässt, ist das im wohlbehüteten Tempel der Vesta. Lasst also Milde walten, wenn ihr über euer eigenes Blut urteilt, und sprecht jene, die kein Schwert gegen Römer geführt haben und Fackeln nur den Hochzeitszügen voran, von jeder Schuld nun frei. Cicero hat ja sein Dankfest bekommen. Und wenn ihr meint, ihr könntet jetzt nicht mehr zurück, dann schickt sie auf eine griechische Insel in Verbannung. Denn die Rechtslage ist eindeutig. Gaius Caesar hat an die Lex Sempronia erinnert, ihr könnt nur das Volk einen Gerichtshof einsetzen lassen, ihr müsst ihnen das Leben lassen.(28)

IV. Auch Catilina lebt und soll am Leben bleiben, wie du selbst es sagst, Cicero, da ich ihn verteidige.(29) Ihr kennt doch Catilina, Männer des Senats. Gesprochen habe ich schon von seinem ungebrochenen Eifer für den Staat, seine freundliche Freigiebigkeit habe ich schon erwähnt. Hinzufügen will ich, dass niemand sich seiner Höflichkeit und Liebenswürdigkeit entziehen kann; dass er sich als Soldat weder Kälte noch Nachtmärschen zu entziehen braucht, ist allgemein bekannt. Jetzt heißt es, Catilina strebe nach der Macht und habe schlechten Umgang. Bitte, ihr Väter, kennt ihr den Lebenswandel aller eurer Klienten?

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Jetzt heißt es, Catilina strebe nach der Macht und habe Africa schon damals skrupellos ausgepresst. Ihr Väter, das waren die Beschwerden von Provinzlern, von Unterworfenen. Außerdem handeln sich ja diejenigen, die ihn verwerfen, selbst solche Vorwürfe ein.(30) Und wer von euch säße jetzt hier, hätte er nicht nach Macht gestrebt, wenn er auch aus noch so einer alten Familie wie Catilina stamme. Freilich muss dieses Gesetz des Adels,(31) nämlich Einfluss zu gewinnen, jemandem wie Marcus Tullius völlig fremd sein. Doch bleibt die Frage noch offen, wozu einer Einfluss gewinnen will. Da gibt es jedoch niemanden, der eine bessere Sache als Catilina verficht.(32) Denn unser Gemeinwesen ist krank. Catilina wird abgewiesen, ihm wird die Stelle vorenthalten, die ihm durch Leistung und Abstammung darin zukäme, während andere, Unwürdige, sich ehren lassen, während diese sich bereichern. —— Während sich einer zum „Führer und Gebieter“(33) unseres Staates aufwirft, der wie ein Gockel auf- und abstolziert und seine Redefiguren tänzelt, die übrigen indes in ihren weißen Togen, verzeiht mir, Senatoren, sich wie verschüchterte Hühner in eine Ecke drängen. Nur Catilina sitzt diesem Manne gegenüber. Catilina, der Freiheit und Gerechtigkeit nach Rom heimführen will. Wie, Cicero? Du sagst, der Staat, wie er jetzt sei, sei der gerechteste auf Erden? Das hätte auch Tarquinius Superbus von dem seinen gesagt, bis man ihn vom Thron stürzte und die Freiheit feierte! Die Freiheit, jenes höchste Gut eines Römers, sich nicht von einem Tyrannen befehlen zu lassen. Jene Freiheit, von der auch Manlius in Etrurien sprach. Denn das einfache Volk stöhnt unter den Ketten der Wucherer! Aber lange wird es nicht mehr leiden. Es hat ja außer seinen Ketten nichts mehr zu verlieren!(34) Ihr, Senatoren, habt dagegen nichts mehr zu gewinnen ‑ außer dem höchsten Ruhm, Rom jene Freiheit wiedergegeben zu haben. Allerdings, einen Tadel der Patria müsst ihr euch gefallen lassen. Ihr habt lange gezaudert, Cicero hat gegen die Vorschläge des Rullus gehetzt, ohne selbst etwas vorzubringen;(35) er ist gefühllos geblieben gegen die Not des Volkes,(36) und ihr seid ihm gefolgt. Bedenkt also, ob ihr jetzt alles behalten wollt, um alles zu verlieren, wenn die Plebejer demnächst nicht ausziehen, sondern euch hinauswerfen, oder ob ihr Weniges teilen und die ganze Herrschaft dadurch behalten wollt! Dankt Catilina, dass er auch ohne offiziellen Auftrag diese gefährliche Aufgabe übernommen hat, das Volk sanft, aber entschieden zu führen. Rom hat nach außen hin neue Grenzen bekommen, lasst uns auch im Innern die Felder neu abstecken, lasst uns das Gemeinwesen neu ordnen! Macht den Zug unter Manlius und Catilina zu einem Einzug der Plebejer unter dem Banner der Einigkeit!

 

V. Doch Cicero sagt, das zerstöre den Staat. Von was für einem Staat redet er da eigentlich immer? Er sieht ihn ernsthaft von einem einzigen Manne bedroht, und die neun, die er hat verhaften lassen, reichten aus, um sieben Hügel einzuebnen. Wahrlich ‑ ein jämmerlicher Staat, lohnte der die Verteidigung?

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Zudem spielt Cicero andauernd mit dem Feuer: Er rühmt sich, seine Wachen hätten jede Aktion Catilinas verhindert, ohne sich zu fragen, ob dieser überhaupt etwas tun wollte. Dann erklärt er Catilina den Krieg, obwohl er ihm doch gegenüber im Senat sitzt. Cicero ist selbst schuld an diesem „Krieg“, den er jetzt beschwört.(37) Cicero dreht alles um, er verwechselt Ursache und Wirkung. Wo es bisher hieß ohne Verbrechen keine Strafe, heißt es jetzt ohne Strafe kein Verbrechen. Und wo das Gemeinwesen noch keinen Schaden genommen hat, will er ihm jetzt Schaden zufügen. Beseitigt Cicero nämlich Lentulus, Cethegus und die anderen, beseitigt er damit den Rechtsstaat, für den er zu streiten doch vorgibt.(38) Indessen, wie will er Blutvergießen denn in einem Staat verhindern, der sich doch selbst auf Blut und Proskriptionen gründet?(39) Cicero sitzt in einem brennenden Haus ‑ und sagt, er trüge das Feuer für euch hinaus! Lasst ihn allein, nehmt keine Rücksicht auf ihn, wie er selbst sagt! Lasst lieber uns gemeinsam das Gemeinwesen neu ordnen! Und selbst, wenn du gegen jede bessere Einsicht Catilina vernichtetest, - Cicero, du spieltest doch nur anderen in die Hände, die im Zwielicht noch warten.(40) Du vergeudest deine Kräfte, und über dich Entkräfteten werden sie herfallen. Erinnerst du dich? Tiberius Gracchus war mächtig, als Rom seine Krähe in Spanien verbrauchte; sein Bruder Gaius, als man die Bundesgenossen in Fregellae erst neulich besiegt hatte; Saturnius nutzte die Stunde, als es bei Iugurtha nicht weiterging.(41) Wer wird hier nun hervortreten?

Armer Marcus! Falsche Schritte ringsum, welchen auch immer du tun willst. Zieh’ dich auf dein Gut zurück, werde philosophischer Schriftsteller, da kannst du nicht viel falsch machen! Geh’ zu deiner Familie, zu deiner Tochter vor allem, die du auf andere Arten liebst als die, welche schicklich sind.(42) Geh’ zu deiner Gattin, die deine Gedanken oft zu sich nach Hause ruft, wie du sagst.(43) Wie könntest du denn sonst wissen, was du tun sollst!(44)  - Hast du dich in deinem Gedicht vom Pantoffelhelden etwa nicht selbst dargestellt?(45)

Ihr Männer des Senats, Cicero und Catilina kennen einander schon lange. Einmal hat Marcus Tullius sogar daran gedacht, Catilina vor Gericht zu verteidigen.(46) Doch wer hat es ihm ausgeredet? Und warum verfolgt der Konsul seinen ehemaligen Kameraden jetzt so voller Hass? Nun, die Sache ist ein wenig pikant, und ich zöge sie nicht ans Licht, wenn sie nicht ein eben völlig neues solches auf unsre Fragen würfe. Jene Terentia, die Gattin des Konsuls, hat eine Halbschwester namens Fabia. Die Schwüre dieser Vestapriesterin seien allerdings einmal deutlich schwächer gewesen als der Charme unseres Catilina, ging es von Mund zu Mund.(47) - Wie? Eine umgekehrte Lucretia? Und Cicero als Brutus, den seine Frau zur Rache treibt? Nun gut - ,der Name mit seiner Bedeutung passt ja zu ihm! Doch hat Cicero noch ein anderes Motiv zur Rache, denn Catilina richtete auf Befehl Sullas den Marius Gratidianus hin, einen Vetter von Cicero Vaters. Das hat Marcus Tullius sein Bruder Quintus eingeschärft.(48) Aber der Konsul missbraucht doch wohl nicht sein Amt, um persönliche Rache zu nehmen?

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O Cicero, schüttle deinen Kopf nicht, sondern schlage die Hände vors Gesicht. Ich fürchte, er wird dir noch herunterfallen ‑ wie der Kopf des Marius Gratidianus.(49) Was tut Cicero aber, wenn er einmal Frau und Rachegedanken entflieht? Ach, er erholt sich bei höchst suspekten griechischen Geheimkulten, über die man nichts Genaues weiß.(50) Cato ‑ was ist da mit der kurvenlosen Klarheit der Vorfahren? Und mit einem solchen Manne pflegst du Umgang? Doch weiter; was tut Cicero noch? Ihr erinnert euch doch, dass er über jene „Verschwörung“ so genau Bescheid zu wissen behauptete, als sei er selbst ein Verschwörer, den man dann letztlich abgewiesen habe, weil er weder eine Nachtwache im Freien, noch eine wache Nacht beim Feiern durchstand. Indessen verschweigt Cicero schamhaft, woher er seine angeblichen Informationen bezog – aus dem Munde einer gewissen Fulvia nämlich, wie ich schon andeutete, deren ehebrecherischer Geliebter von Zeit zu Zeit bei Catilina mit am Tische saß. Zu diesem Galan gesellte sich jetzt auch Cicero, der sich dabei nichts vorzuwerfen hatte, war seine politische Meinung im Stehen ja schon immer eine andere als im Sitzen(51) ‑ und er im Liegen offenbar auch seine sittliche Einstellung ändert. Anscheinend merkte Vulvia(52) aber bald, dass Ciceros Zunge besser zum Reden als zu anderen Dingen zu gebrauchen ist, weshalb sie ihm allerhand vorschwatzte - was von einem solchen Frauenzimmer auch nicht anders zu erwarten ist -, und der Phantasie des Konsuls überließ sie den Rest. „Lasst nicht zu, Senatoren, dass er meine Ehre in den Schmutz zieht,“ greint Cicero. Meinst du, es schütze dich vor Schimpf, dass du keine alte Familie hast? Du suhlst dich doch geradezu in den Lastern, die du an deinen „Catilinariern“ zu entdecken glaubst. „Nur an Mord, Brand und Raub denken sie ... Wenn sie bloß nach Wein- und Spielgelagen und Dirnen verlangten..., wer aber könnte dulden, dass untätige Menschen den tapfersten Männern, die Dümmsten den Klügsten, Betrunkenen den Nüchternen, Schlafende den Wachenden nachstellen, die bei Gastmählern herumliegen, in den Umarmungen schamloser Weiber, von Wein schläfrig, vollgestopft mit Speisen, mit Kränzen umwunden, von Salben triefend und durch Unzucht geschwächt, rülpsend von der Ermordung der Guten... reden?“(53)  So. Unser Konsul scheint nichts und niemanden vergessen zu haben, seine Umsicht ist zu loben. Doch wer wollte solche Verschwörer für gefährlich halten? Sind sie doch auch für dich, Cicero, einmal der Unrat der Stadt, und dann wieder tragen sie adlige Namen; sind sie einmal versoffene Verschwender und dann die listigsten Mordgesellen; sind sie geschickte Anwärter der Macht und doch gleichzeitig verblendete Dummköpfe. Sagst du doch, dass mit den Verhaftungen alle Hoffnungen Catilinas zerbrochen sind, ebenso aber, wie hilflos diese ohne jene waren. In einem Atemzug dankst du den Göttern, dass sie dir eine solch große Verschwörung entdeckt hätten, und hältst deren „Dirnenheer“ doch für ungefährlich. Du weißt nicht, was du willst! Zudem verdammst du sie, als Mann der Toga, in Bausch und Bogen, entstammen sie indessen ebenso wie du der Zeit des Bürgerkriegs, der ihnen noch im Mark steckt, sind Kinder Sullas, dessen Staat du verteidigst.

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Wünschst du sie tot samt Catilina, müsstest du wirklich die Allobroger hier ansiedeln, um jemanden beherrschen zu können. Und das Agrarproblem wird keine deiner Moralpredigten lösen. Werden die Schulden davon weniger, dass einer zu den „Guten“ zählt? Kann einer, den du als „Schlechten“ brandmarkst, sich deshalb weniger zu Essen kaufen? Nein, mit bloßen Änderungen in der Wortwahl änderst du noch nicht die Gegebenheiten! Und keiner, den du gut nennst, wird dadurch zu einem besseren Menschen; keiner, der deine Parole „Vaterland und Freiheit“(54) hört, wird dadurch zum freien Mann auf eignem Boden. Auch dein Wunschbild von der Einigkeit aller Stände hat nur solange Bestand, wie du die Augen schließt und den Mund aufreißt (Hat dir diese Schauspieler-Redeweise etwa Archias beigebracht, der sich nicht nur anmaßt, ein Dichter, sondern auch ein römischer Bürger zu sein?). Wirklich, Cicero, wir kichern(55) dabei, und die heiligen Gänse schnattern. Nicht einmal unter euch Senatoren findet Marcus Tullius ja seinen Traum erfüllt. Als Catilina hier saß, beschwor jener euer Einvernehmen und sah doch Leute, die mit Catilina die Nachtstunden verbracht hatten – in der Sichelmachergasse, bei Laeca, ‑ beim Wein! Als er sagte, ihr habet Catilina einmütig verurteilt, und dieser antwortete, dann solle er doch abstimmen lassen, erwiderte Cicero nur, das widerstrebe seiner Gesinnung. Er verschwieg, dass es seinen Absichten widerstrebte, da keine Zustimmung, geschweige denn Einigkeit unter euch herrschte. Eben hat er ja erneut die Eintracht beschworen ‑ im Tempel der Concordia, wo es ja etwas nützen sollte ‑, und er hat kleinlich aufgezählt, welche Schreiber und Aerartribunen, welche Freien, welche Sklaven angetreten seien, um sein Gemeinwesen zu „retten“. Alle Stände stünden hinter Cicero ‑ wie auch Catilina Vertreter des Adels, der Ritter, der Freien und der anderen bei Manlius gesammelt hat ‑ durch Disziplin wohl eher einmütig als deine Budenbesitzer, die am meisten ihre Ruhe lieben, wie du sagst. Cicero, du bewahrst das alte Rom? Mit diesen Leuten - dem Bauche und dem Gelde hörig! - ist kein Staat zu machen. Und steht die Schläue eines Händlers bei dir bald höher im Kurs als die Vortrefflichkeit eines Mannes - dann ist das der Untergang der Aristokratie, ihr Männer des Senats! Dann wirf die Ahnenbilder weg, mein Cicero! Dann hält mich nichts mehr. Ich geh’ zu Catilina!

VI. Zu Catilina, den Cicero nur aus Rachedurst verfolgt, wie ihr nun wisst. - Oder aus Neid; denn Catilinas Soldatentugenden gehen dem Cicero mit seiner schwachen Brust ja völlig ab. Der wäre gern ein Held - hat er sich doch eben mit den Scipionen, mit Paullus und Pompeius verglichen. Freilich ist er nur so groß, wie sein Gegner es ist. Und er wird immer größer, je größer er seinen Gegner - macht! Also hält er Catilina einen Hohlspiegel vor die Nase, der diesen ungeheuer wachsen lässt ‑ und ihn grotesk verzerrt. Da stellt er ihn nun hin, als Monstrum,(56) voll kranker Anlagen. Ein schöner Arzt bist du, Marcus Tullius, wenn du sagst, die Krankheit sei schon geheilt, wenn du deinen Patienten nur umbringst! Doch spiegelt Cicero die männlichen Tugenden Catilinas, die er erst so grässlich entstellt hat, jetzt mit einem zweiten Spiegel auf sich selbst! Und steht da - als Retter des Vaterlands! -

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Als Retter seiner Machtposition, der dieser Emporkömmling alles zu opfern bereit ist - die Zukunft unseres Gemeinwesen, euch, ihr Väter, und eure Kinder - wenn er nur seine Stellung erhält! Catilina indessen will den Staat erhalten, indem er Vertrocknetes wegschneidet, dadurch frischen Trieben Platz zum Wachsen gibt und den Boden lockert, damit die alten Wurzeln gedeihen. Dieser Weinstock wird euch und euren Kindern reichlich Frucht tragen, ihr Männer des Senats, - und eure Vorfahren mit Stolz erfüllen. Öffnet die Tore also für Catilina, für die Freiheit! Senatoren, Mitbürger, Männer - macht ihm den Weg frei für diese hohe Aufgabe! Begrüßt ihn als Konsul!

 

Bibliographie

Texte

- Cicero, Marcus Tullius, Die politischen Reden, Bd. 1, hg. v. Manfred Fuhrmann, München 1993.
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- Ibsen, Henrik, Sämtliche Werke, hg. v. Georg Brandes, Julius Elias, Paul Schlenther, Band 1, Berlin 1903.
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- Sallust, Werke, hg. v. Werner Eisenhut u. Josef Lindauer, München/Zürich 1985.
- Ders., Die Verschwörung des Catilina/Der Krieg mit Jugurta, hg. v. Georg Dorminger, München o.J.
- Ders., Die Verschwörung des Catilina, hg. v. Karl Büchner, Stuttgart 1967.
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- Sallustius Crispus, De Catilinae coniuratione, hg. u. komm. v. Karl Vretska, 2 Bde.,  Heidelberg: Winter, 1976.

 

Forschungsliteratur

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- v. Albrecht, Michael, Geschichte der Römischen Literatur, Band 1, Bern 1992.
- Alföldy, Geza, Römische Sozialgeschichte, Wiesbaden  31984.

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- Christ, Karl, Römische Geschichte, Darmstadt 31980.
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- Störig, Hans Joachim, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 2002.
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Henning Hufnagel, M.A.
Sfb „Kulturen des Performativen“
Freie Universität Berlin
Grunewaldstr. 35
12165 Berlin



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(1) Vgl. W. Stroh, Declamatio, in: B.-J./J.-P. Schröder (Hg.), Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit (Joachim Dingel zum 65. Geburtstag), München/ Leipzig 2003, 5-34, v.a. 6 und 8.

(2) Vgl. U. Schulz-Buschhaus, Vom Lob der Pest und vom Lob der Perfidie: Burleske und politische Paradoxographie in der italienischen Renaissance-Literatur, in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a.M. 1991, 259-273 sowie H. Hufnagel, Von Hippozentauren, Silenen und Pedanten. Lukian, Giordano Bruno und dessen Cena de le ceneri, Pegasus VI/1 (2006), 44-59, v.a. 50.

(3) Vgl. H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, 162-163.

(4) Vgl. die Internetpräsenz der Stiftung unter www.humanismus-heute.de.

(5)I. principium
Übersetzung für Patres conscripti, von W. Eisenhut gewählt, vgl. Sallust, Werke, hg. v. W. Eisenhut u. J. Lindauer, München/Zürich 1985, 351.

(6) Anspielung auf das tatsächliche Gedicht Ciceros De consulato suo, vgl. Sonderdruck aus Paulys Realenzyklopädie, Studentenausgabe, Art. M. Tullius Cicero, hg. v. M. Gelzer u.a., Stuttgart o.J., 1245.

(7)II. narratio
Cicero übersetzte das Lehrgedicht Phainomena, Himmelserscheinungen des hellenistischen Dichters Arat, vgl. M. Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, München/Zürich 1994, 44.

(8) Anspielung auf den Prozess gegen Murena, vgl. Fuhrmann (1994), 101.

(9) Vgl. M. Gelzer, Cicero, Ein biographischer Versuch, Wiesbaden 1969, 68: Rede In toga candida.

(10) Justizmord an den Catilinariern.

(11) Legatus – Praetor – Proproaetor in Afrika; vgl. Der Kleine Pauly, hg. v. K. Ziegler u. W. Sontheimer, Band 1, München 1979, 1084.

(12) Vgl. Gelzer (1969) 73, 81.

(13) Anspielung auf Cic. Cael. 13.

(14) Er meint die Sullanischen Veteranen.

(15) Vgl. Gelzer (1969), 82.

(16) Anspielung auf Sokrates. In dieser Formulierung bei Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1999, 69.

(17) Diese Titulierung so bei Sallust, Invectiva in M. Tullium Ciceronem, §4.

(18) ‚Lupa’ verwandte man auch für die Straßen‑ oder Hurenhausdirnen, ‚Lupanare’ für die Bordelle, vgl. P. Frischauer, Knaurs Sittengeschichte der Welt, Bd. 1, München/Zürich 1974, 125.

(19) Anspielung auf den Vorfall in Praeneste.

(20) Ciceros Vater besaß eine Walkerei, vgl. Fuhrmann (1994), 18f.

(21) Referenz an Gn. Pompeius.

(22) Beide wurden im Laufe ihrer Karriere zu hostes publici erklärt, vgl. W. Dahlheim, Die griechisch-römische Antike, Bd. 2, Paderborn/München/ Wien/Zürich, 21994, 132, 184.

(23) Vgl. ebd. 119: Dies zumindest war der populare Standpunkt.

(24)III. egressio
  So in der Rede für Fonteius, 65 v. Chr. (Cic. Font.), vgl. auch M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Zürich 41995, 92, sowie M. v. Albrecht, Geschichte der römischen Literatur Bd. 1, Bern 1992, 480.

(25) In Ibsens Drama Catilina will Catilina sich (im zweiten Akt) noch vor der Verschwörung ‑ aller Politik entsagend ‑ nach Gallien als Bauer zurückziehen.

(26) Vgl. Cic. Catil. I, 3, 7 und Cic. Catil. III, 8,18-20.

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(27) Tatsächlicher, später gegen Cicero erhobener Vorwurf, vgl. Gelzer (1969), 103.

(28) Vgl. ebd., 23, 98.
IV. argumentatio mit Ankündigung des Beweiszieles (propositio)

(29) Cic. Catil. I, 2,6.

(30) Anspielung auf Sallust, der sich ebenfalls an einer afrikanischen Provinz bereicherte, vgl. Sallust (1985), 373; Sallust verschweigt Catilinas Propraetur interessanterweise.

(31) Vgl. Dahlheim (1994), 139, „Sie wurden hineingeboren in das Gesetz dieses Lebens: Politik und Krieg“.

(32) Paraphrase von Cic. Cael. 13: „Quis civis meliorum partitium aliquando“, vgl. die Übersetzung von M. Fuhrmann in Cicero, Sämtliche Reden, Band VI, hg. v. M. Fuhrmann, Zürich/München 1980: „Welcher Bürger hatte ursprünglich eine bessere Sache verfochten?“

(33) Tendenziöse Übersetzung von „duce et imperatore“, Cic. Catil. III 10, 23.

(34) Anspielung auf die marxistische Catilina-Deutung.

(35) Fuhrmann (1994), 88.

(36) So in Cic. Catil.II, 10, 21; auch nach Gelzer (1969), 88.
V. refutatio

(37) Tatsächlicher Vorwurf, vgl. Gelzer (1969), 89f.

(38) Dahlheim (1994), 141f.

(39) D. h. in dem aus Sullas Diktatur hervorgegangenen Staat, vgl. Dahlheim (1994), 135f.

(40) Anspielung auf Caesar und Crassus; Catilina ist allerdings aus taktischen Gründen nicht offen zu ihrem „Agenten“ zu erklären, der Geld für seinen Wahlkampf von ihnen genommen hat. Vgl. Fuhrmann (1994),  93.

(41) Vgl. G. Alföldy, Römische Sozialgeschichte, Wiesbaden 31984, 74.

(42) nach Sallust, Invectiva, §2.

(43) Cic. Catil. IV, 2, 3.

(44) Ciceros Gattin Terentia hat ihren Mann laut Plutarch beherrscht, vgl. Fuhrmann (1994), 58.

(45) Ein verschollenes Jugendgedicht mit dem Titel Uxorius, vgl. Sonderdruck aus Paulys Realenzyklopädie, Studentenausgabe, Art. M. Tullius Cicero, 1237.

(46) Vgl. Fuhrmann, (1994), 86.

(47) Vgl. ebd. 58.

(48) Vgl. ebd. 87.

(49) Prophezeiung von Ciceros eigenem Ende: Sein Kopf und seine Hände wurden abgeschlagen auf dem Forum zur Schau gestellt, vgl. M. v. Albrecht (1992), 415.

(50) Laut Cic. leg. 11, 36, war Cicero in die eleusinischen Mysterien eingeweiht.

(51) Vgl. Sallust, Invectiva, §7.

(52) Obszöne Verdrehung ihres Namens.

(53) Cic. Catil. II, 5,10.

(54) Vgl. Fuhrmann (1994), 110.

(55) Anspielung auf Ciceros cognomen, von ‚cicer’ = Kichererbse, nach Fuhrmann (1994), 16.
VI. conclusio

(56) Vgl. Cic. Cael. 12: „Neque ego umquam fuisse tale monstrum in terris ullum puto“.