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Die Homerforschung ist ein bemerkenswertes Phänomen der klassischen Philologie, denn sie enthält so viele heterogene Forschungsbereiche, dass sie beanspruchen kann, eine eigene Philologie darzustellen. Sie beschäftigt gegenwärtig Sprachwissenschaftler, Historiker, Komparatisten, Soziologen, Archäologen, Religionswissenschaftler, Philosophen, Psychologen und schlussendlich sogar Philologen. Dass bei dieser Aufzählung die Philologie an den Schluss gesetzt wurde, ist kein Zufall, denn große Interpreten vor allem deutschsprachiger Provenienz wie Karl Reinhardt, Wolfgang Schadewaldt, Albin Lesky, Uvo Hölscher und Alfred Heubeck bestimmen die Homerforschung heute nicht mehr. Eine Ausnahme stellt Joachim Latacz dar, der aber immer wieder auch im Bereich der Realien forscht, um die Basis für die interpretatorische Arbeit abzusichern. Es scheint in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung, als dürfe man sich Homer erst dann interpretierend nähern, wenn man den gesamten Bereich der Realien aufgearbeitet hat. Die Schule tut sich da etwas leichter, dennoch kommt auch sie an den homerischen Realien nicht gänzlich vorbei; die folgenden Anmerkungen werden dies, wie ich hoffe, deutlich machen.
Die Realienbereiche, die heute die Forschung bestimmen, sind folgende:
Man mag nun sagen, dass diese Fragestellungen für die Philologen in der Schule entbehrlich seien, aber so einfach sollte es sich eine Griechischlehrkraft nicht machen. Nehmen wir etwa die bei einer schulischen Behandlung der Ilias mit Sicherheit zu thematisierende Frage nach der Selbstbestimmtheit der homerischen Menschen. Entscheiden sie weitgehend frei oder sind sie – und das scheint die sehr viel mehr verbreitete Deutung zu sein – Marionetten der Götter? Wie fremdbestimmt oder selbstständig Achilleus etwa in der Situation im A der Ilias ist, als er überlegt, den Agamemnon wegen dessen Beleidigungen zu erschlagen, kann man erst dann beurteilen und in den Unterricht einbringen, wenn man sich näher mit der homerischen Psychologie befasst hat.
Ein anderes Beispiel ist die oral poetry: Da werden in Interpretationen bestimmte Stellen oder einzelne Formulierungen besonders gelobt, die möglicherweise nur Wiederholungen von Formeln darstellen, die im Traditionsvorrat des Epos bereit lagen. Dem Originalgenius Homer, als der er gegenüber Vergil immer gefeiert wurde, ist damit sehr schwer auf die Spur zu kommen. Natürlich kann man solche Fragen bei einer Schullektüre ausblenden und sich weitestgehend auf das Übersetzen beschränken, aber eine solche Vorgehensweise widerspräche nachdrücklich dem wissenschaftspropädeutischen Ziel der Oberstufe, in der Homer ja gelesen wird.
Auch ein zweiter Aspekt spricht dafür, die Realien in die Behandlung der homerischen Gedichte einzubeziehen. Die Historizität des Kriegs um Troia dürfte für Schülerinnen und Schüler eine durchaus spannende Frage sein; sie setzt freilich, will man sie nicht mit mystischem Geraune von Urzeitwissen nach der Art von terra x konfrontieren – was man angesichts eines wissenschaftspropädeutischen Anspruchs des Oberstufenunterrichts doch vermeiden sollte – einige Kenntnisse auf Seiten der Lehrkraft voraus.
Zusammenfassend gesagt: mehr denn je gleicht heute die Homerphilologie einem schwer durchdringbaren Urwald, und das gilt auch, wenn man sich Ilias oder Odyssee unter schuldidaktischen Fragestellungen nähert. Mit den folgenden Anmerkungen wird dieser Urwald zwar nicht in einen leicht begehbaren und wohlaufgeräumten Park verwandelt – dafür wäre erstens die Zeit hier viel zu kurz, und man darf ohnehin daran zweifeln, ob ein einzelner heutzutage dazu noch in der Lage sein kann, solch eine Übersicht zu schaffen – , wohl aber sollen einige Pfade durch das Gestrüpp der Forschung anlegt werden. Dies wird hier durch eine Besprechung ausgewählter Literatur geschehen; es handelt sich hierbei ausschließlich um Monographien. Auswahlkriterium ist, in welchem Maße eine Darstellung Möglichkeiten für Lehrkräfte eröffnet, sich im Interesse seiner Schülerinnen und Schüler eigene Wege zu bahnen.
Die ausgewählte Literatur bezieht sich zum größeren Teil auf Arbeiten mit einer allgemeinen Thematik und umfasst die Bereiche ‚Homertext‘‚ ‚Übersetzungen‘, ‚Kommentare‘, ‚Überblicksdarstellungen‘ und ‚Forschungsberichte‘. Ergänzend kommen hinzu Arbeiten zu der gegenwärtig besonders intensiv diskutierten Frage nach der Historizität des Ilias-Mythos sowie interpretierende Darstellungen, die für den schulischen Bereich besonders geeignet erscheinen.
1. Homeri Ilias, recognovit H. van Thiel, Hildesheim/Zürich 1996 (Bibliotheca Weidmanniana 2)
2. Homeri Ilias, recensuit, testimonia congessit M. L. West, Stuttgart 1998-2000, 2 vols. (Bibliotheca Teubneriana)
3. Homeri Odysseia, recognovit P. von der Mühll, München/Leipzig 1993
4. Homeri Odyssea, recognovit H. van Thiel, Hildesheim/Zürich 1991 (Bibliotheca Weidmanniana 1)
Der Text der Ilias und der Odyssee ist ein extrem diffiziles philologisches Problem, das sich nur dadurch angehen lässt, dass man im Vorfeld von bestimmten Prämissen ausgehen muss. Die wohl wichtigste Prämisse besteht in der Einsicht, dass wir von einem Konsens in der Frage, wie aus der Überlieferung eine zumindest in den grundsätzlichen Daten allgemein akzeptierte Ausgabe erstellt werden kann, weiter entfernt sind als je zuvor. Das klingt negativ, ist es aber eigentlich nicht, denn der Dissens der Herausgeber zeigt, dass es doch zu etlichen neuen Erkenntnissen bezüglich des Homertexts und seiner Überlieferung gekommen ist. Auch von der Schule sollten die neuen Ergebnisse nicht ignoriert werden; immerhin ist der Text die Basis, von der alle Arbeit ausgeht und auf den auch alle Arbeit wieder zurückläuft.
Die bis 1990 gängigen Ausgaben waren für die Ilias die von Ludwich (BT 1902; nachgedruckt 1995), Munro-Allen (OCT, editio minor; 1920) und von Mazon, Collart, Chantraine und Langumier (Budé), für die Odyssee ebenfalls Ludwich (BT), Allen (OCT), Bérard (Budé) sowie von der Mühll (Editiones Helveticae 1942, 1984 BT). Hinzu gekommen sind seitdem die Ausgaben, die Helmut van Thiel für die Odyssee (1991) und die Ilias (1996) veranstaltet hat, sowie die Iliasausgabe von West (2000/01). Beide Herausgeber haben ihre Ausgaben mit entsprechenden Anmerkungen bzw. Publikationen begleitet, in denen sie ihre editorischen Prinzipien niedergelegt haben.
Zunächst zu den Ausgaben van Thiels, die beide bereits im äußeren Bild auffällige Neuerungen bieten. Diese sind:
Demgegenüber ist das Erscheinungsbild bei West traditioneller (aber auch hier mit Iota adscriptum) von einem sehr ausführlichen Apparat geprägt, der unter den jüngeren Ausgaben das reichste Material bietet, nicht zuletzt wegen der intensiven Berücksichtigung der antiken Homerscholien. Wodurch sich die West'sche Ausgabe weiterhin auszeichnet, ist das besondere Augenmerk, das der Orthographie und den Akzenten geschenkt wird. Aus seiner glänzenden Kenntnis der einschlägigen Literatur heraus vermag West einige Dinge zu klären, die zuvor in den Ausgaben anders dargestellt waren. Zu nennen ist hier etwa die enklitische Partikel ταρ (sonst als τ' ἄρ' aufgefasst; so aber auch schon bei Ludwich), die Restitution der Lautgruppe –εο– statt der jüngeren Kontraktion -ευ-, die Form τέσσερες (statt bisher τέσσαρες) oder – besonders auffällig – ὤι μοι statt ὤ μοι. Hinzu kommt auch ein sehr ausführlicher Similienapparat, in dem die uns erhaltene antike Homerkommentierung vollständig berücksichtigt ist.
Das sind Aspekte, die dem Benutzer unmittelbar ins Auge fallen, die aber für den eigentlichen Wert einer Ausgabe wenig aussagen. Den Ausgaben der beiden Verfasser wird man mit Sicherheit einen hohen wissenschaftlichen Wert zusprechen. Zunächst zu van Thiels Ausgaben, die beide einem neuen editorischen Prinzip für die Bewertung der Homerüberlieferung folgen. Dieses Prinzip liegt in einer ausdrücklich betonten Bescheidenheit in der Auswahl der zugrunde gelegten Handschriften: van Thiel konstituiert seinen Text konsequent aus den besten ca. 10 Handschriften. Demgegenüber hat Allen in seiner editio maior der Ilias 139 Handschriften herangezogen, allerdings mehr oder weniger willkürlich entschieden, wann er welcher Handschrift den Vorzug gegeben hat. Mit van Thiels Neuansatz werden Varianten in jüngeren Handschriften, aber auch in antiken Papyri zu Konjekturen. Letztlich bedeutet diese Vorgehensweise den Verzicht darauf, eine konkret definierte antike Ausgabe, sei es der Homervulgata, des Aristarch oder des Didymos herzustellen.
Die Verschlankung auf die besten Handschriften hin ist eine konsequente Reaktion auf das ungelöste Problem, in welchem Maße Aristarch gegenüber der ihm vorliegenden handschriftlichen Überlieferung persönliche Kriterien hinsichtlich der homerischen Poesie zur Grundlage seiner diorthosis gemacht hat bzw. in welchem Maße er sich an die ihm vorliegenden Handschriften gehalten hat. Dieser Rekurs auf eine sichere Basis ist eine sehr bedenkenswerte Lösung.
West hat sich in seiner Ausgabe anders entschieden. Auch er nimmt ein hohes Maß von Eingriffen Aristarchs an, weicht aber nicht auf die besten Handschriften aus, sondern sieht wie Ludwich in Didymos die entscheidende Figur, aus dessen Arbeit ein voraristarchischer Homer entwickelt werden könne (bes. praef. VIII). Dass die Position nicht unproblematisch ist, hat G. Nagy in einer ausführlichen Rezension zu Wests Ilias-Ausgabe betont(3).
Nagy selbst geht einen anderen Weg, indem er in Zusammenarbeit mit dem Center of Hellenic Studies in Washington die gesamte Überlieferung zu Homer zu einer sog. Multitext-Ausgabe zusammentragen will. Dieser Multitext ist geplant als Kombination aus alexandrinischer Ausgabe (d.h. Aristarch) und der Königin der Homerhandschriften, dem Venetus A. Die vollständige Ausgabe wird darüber hinaus alle bekannten Varianten von Papyri, Scholien, mittelalterlichen Handschriften und Zitaten enthalten, ein gewaltiges Unternehmen, dessen Sinn allerdings skeptisch zu bewerten ist. Der sichtende und prüfende Editor wird immer eine Notwendigkeit bleiben, um einen praktikablen Text zu haben.
Für die Odyssee hat – ebenfalls basierend auf der editorischen Arbeit von Ludwich – P. von der Mühll schon 1946 einen Text herausgebracht, der nur einen knappen Apparat enthält, was angesichts der Tatsache, dass diese Ausgabe ursprünglich für die Schule geschaffen wurde, nicht überraschend ist. Der Apparat ist hier zwar noch nicht so konsequent aus wenigen Handschriften entwickelt wie bei van Thiel, aber der Weg, mit Hilfe nur weniger, aber verlässlicher Textzeugen eine sichere Textbasis zu gewinnen und nicht die gesamte Breite der Handschriften heranzuziehen, um sich einmal bei der einen, dann bei einer anderen zu bedienen, hat hier bereits seinen Anfang genommen. Diese Ausgabe wird seit 1984 von der Bibliotheca Teubneriana nachgedruckt und ist gegenwärtig die zweite Standardausgabe.
Gegenwärtig scheinen mir van Thiels Ausgaben die zu sein, auf die man sich am ehesten stützen sollte. Was an ihnen noch besonders hervorzuheben ist: man kann sie, wenn auch ohne Akzente, aus dem Internet herunterladen(4). Ebenfalls im Internet findet sich eine von P. Roth erstellte Liste der Abweichungen zwischen van Thiel und Allen (zur Ilias) bzw. von der Mühll (zur Odyssee)(5).
Was die Homerscholien betrifft, so hat Hartmut Erbse sein monumentales Werk für die Ilias 1988 zum Abschluss gebracht (Scholia Graeca in Homeri Iliadem [Scholia vetera], rec. Hartmut Erbse, I-VII, Berlin 1969-1988); es bedarf hierzu keiner weiteren Würdigung mehr. Die Arbeit an den jüngeren Scholien hat in neuester Zeit Helmut van Thiel weitergeführt; auch sie sind im Internet verfügbar.
Das wichtigste sprachliche Hilfsmittel der Homerforschung ist zweifellos das Lexikon des frühgriechischen Epos. 1947 begonnen, war man bis zur Mitte der 70er Jahre 'nur' bis zum Ende des Buchstabens A gelangt (angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen in Hamburg und des sehr hohen Niveaus allerdings verständlich), und es war nur schwer abzusehen, wie dieses Projekt noch zu einem sinnvollen Ende gebracht werden könnte, ohne dabei die Qualität (und den Umfang) vollständig aufzugeben.
1976 kamen größere Finanzierungsschwierigkeiten hinzu, so dass das Ende dieses Lexikons unmittelbar bevorstand, nicht zuletzt auch deswegen, weil es an der Universität in Irvine (Kalifornien) ebenfalls zur Gründung eines Archivs für griechische Literatur kam, welches freilich ganz andere Ziele verfolgte, als sie im Lexikon des frühgriechischen Epos vorgesehen waren. Eine Unterschriftenaktion trug wesentlich dazu bei, dass das Lexikon weitergeführt wurde, wenn auch mit einer wesentlichen Straffung, was den Umfang der einzelnen Artikel betraf. Damit konnte das Lexikon in der Tat weiterbestehen, wenn auch nicht in der Finanzierung durch die DFG, sondern durch die Akademie der Wissenschaften in Göttingen. So bedauerlich es auch ist, dass einige wenige Artikel weitgehend aus Verweisen auf einschlägige Sekundärliteratur bestehen, ist man doch dem Prinzip einer ausdifferenzierten Deutung der einzelnen Worte generell treu geblieben. Jeder, der die Bedeutung und das Verwendungsspektrum einer bestimmten Homervokabel überblicken möchte, wird zunächst einmal zu diesem Lexikon greifen, und das nicht nur, weil man den sprachlichen Befund schnell zu seiner Verfügung hat (einschließlich dessen, was die Antike an Deutungsmaterial bereitgestellt hat), sondern auch, weil man umfassende lexikalische Ausdeutungen in Abstimmung mit dem jeweils neuesten Forschungsstand erhält. Inzwischen ist klar, dass im Jahr 2009 oder 2010 das Lexikon des frühgriechischen Epos zu einem vollständigen Abschluss kommen wird (das zuletzt erschienene Lemma ist τέκτων). Dann wird die Homerforschung über ein einzigartiges Arbeitsmittel verfügen, welches ein umfassendes Verständnis der homerischen Sprache und des homerischen Stils (zumindest auf der Basis der Lexik) ermöglicht.
Leider ist das Lexikon nur in großen Bibliotheken vorhanden und kann als Referenzwerk wohl auch nirgendwo ausgeliehen werden, so dass dieses Werk für Lehrkräfte nicht leicht zugänglich ist. Für ein Privat-Abonnement ist der Preis wohl zu hoch, bei 23 Lieferungen ca. 100 € pro Lieferung.
Sowohl für die Ilias als auch für die Odyssee sind in den letzten 25 Jahren einige neue Kommentare entstanden. Neben etlichen Einzelkommentaren zu verschiedenen Büchern der homerischen Epen, die vor allem im englischsprachigen Raum für Studierende konzipiert sind (zur Ilias etwa P. A. Draper oder S. Pulleyn zum ersten Buch, Th. Seymour zu den Büchern 4-6 oder C. McLeod zum 24. Buch) sind an größeren Kommentaren zu nennen:
1. G.S. Kirk (general editor), The Iliad: A Commentary (6 volumes), Cambridge 1985-1993
2. A. Heubeck, S. West, J. B. Hainsworth, A. Hoekstra, J. Russo, M. Fernandez-Galiano, A Commentary on Homer's Odyssey (3 volumes), Oxford 1990-1993
3. M. Kretschmer, Ilias (Text und Kommentar), Münster 1991 (Aschendorff; 268 & 496 S.)
4. J. Latacz (Hrsg.), Homers Ilias. Gesamtkommentar. Auf der Grundlage der Ausgabe von Ameis-Hentze-Cauer (1868-1913), München - Leipzig 2000ff. (bisher erschienen: Prolegomena, Gesang 1 und 2 [Text, Übersetzung, Kommentar])
5. I. de Jong, A Narratological Commentary on the Odyssey, Cambridge 2001
1: The Iliad. A Commentary, General editor: G. S. Kirk
Entsprechend der chronologischen Reihenfolge wird hier mit dem englischsprachigen Ilias-Kommentar begonnen. Hauptherausgeber ist Geoffrey S. Kirk, der zugleich auch die beiden ersten Bände (zu Buch Α-Δ und Ε-Θ) erstellt hat; die weiteren stammen von J. B. Hainsworth (Ι-Μ), von R. Janko (Ν-Π), M. Edwards (Ρ-Υ) und von N. Richardson (Φ-Ω).
Obwohl dieser Kommentar, anders als die älteren Kommentare wie etwa Ameis-Hentze, Leaf oder Willcock, ohne Text und Übersetzung auskommt und leider auch ohne Angabe von Parallelstellen, hat er doch einen beträchtlichen Umfang, der über die bedeutendsten früheren Gesamtkommentare hinausgeht.
Kirk beschreibt in seinem ersten, 1984 erschienenen Band die Zielsetzung folgendermaßen: er will an Erklärungen das zur Verfügung stellen, „was von ernsthaften (‚serious‘) Lesern benötigt wird“, und das sind für ihn offenbar vor allem Erläuterungen zur Sprache, zur Metrik und zum Stil der Gedichte. Bei einer solchen Schwerpunktsetzung ist klar, wie sehr der Einfluss der oral-poetry-Theorie die Kommentierung beeinflusst hat.
Die Art, wie Kirk die Funktion der oral poetry für die Textdeutung sieht, ist leider für ein vertiefendes inhaltliches Verständnis der Ilias wenig hilfreich. Das wird bereits im Vorwort deutlich, wo es auf S. xviii heißt: „Ein anderes offenkundiges Beispiel zu den Auswirkungen, die eintreten, wenn man den mündlichen Hintergrund und die spezielle Art der Komposition der Ilias ignoriert, ergibt sich für die Interpretation sowohl von Charakteren als auch von Sitten und Gebräuchen. Agamemnon entsteht aus dem Text als sehr komplexe und manchmal in hohem Maß erratische Figur; aber es ist wahrscheinlich, dass sich zumindest im Bereich dieser erratischen Beschaffenheit einiges aus einer nicht vollendeten Verbindung ursprünglich getrennter Elemente mündlicher Tradition ableiten lässt. […] Es ist mehr als wahrscheinlich, dass der Charakter des Agamemnon in der Ilias ein Amalgam von Haltungen und tatsächlichen Beschreibungen ist, das bereits in früheren Gedichten existierte und Teil des Vorrats an Themen, Phrasen, Versen und Passagen des mündlichen Sängers war. Solche Elemente können mit mangelnder Perfektion herausgegriffen und neu zusammengesetzt werden, wenn man eine monumentale Komposition durchführt.“ Diese Aussage bedeutet nichts anderes als eine Absage an Homers Fähigkeit, in sich konsistente und kohärente Charaktere zu entwerfen; vielmehr sei der Eindruck eines Amalgams von vorgeprägten Darstellungen, die dem mündlichen Dichtungsvorrat entnommen sind, unabweisbar. Eine solche Annahme erlaubt es, jegliche Form anspruchsvoller Interpretation, die sich um den Text bemüht, zu vermeiden. Wo immer nämlich ein Erklärungsproblem auftaucht, kann man nach diesem Erklärungsmodell sagen, die Homer vorliegende Tradition sei eben nicht einheitlich gewesen.
Und doch muss es ja nicht zwangsläufig so sein, dass angebliche Ungereimtheiten und mangelnde Kohärenz dem Dichter zuzuschreiben sind, möglicherweise liegt die Einschätzung als Ungereimtheit ja am Interpreten selbst, wenn er nämlich dem Verfasser weniger poetische Intelligenz zuschreibt als sich selbst. Hätte Kirk mit diesem interpretatorischen Ansatz recht, wären jedenfalls sowohl die antike Hochschätzung Homers als auch die Ergebnisse der modernen Homerinterpretation philologische Phantasie.
Natürlich ist Kirk Recht zu geben, wenn er auf die Komplexität der Agamemnon-Gestalt in der Ilias verweist, doch wenn immer dort, wo auf Grund eben dieser Komplexität hermeneutische Präzision und interpretatorische Feinfühligkeit gefragt sind, statt dessen mit dem Argument heterogener und vom Dichter nicht zum Ausgleich gebrachter Traditionen argumentiert wird, lässt sich die Frage, worin denn eigentlich die Hochschätzung der Ilias als Dichtung begründet ist, eigentlich gar nicht mehr beantworten. Gerade Agamemnon ist ein Musterbeispiel für die homerische Kunst, einheitliche (aber nicht simple!) Charaktere darzustellen. Mit einem Aufweis der „brilliance“ (p. XV) der homerischen Dichtung tut sich dieser Kommentar dementsprechend in den beiden ersten Bänden sehr schwer.
Die Stärken dieses Kommentars liegen in den Sacherklärungen, den sprachlichen Erläuterungen und der Einbeziehung der Scholien; das gilt im Besonderen für die Bände 3, 4 und 5. Wichtig sind auch die einführenden Artikel zu bestimmten Problemen der Homerforschung, die in der Summe eine Art Forschungsbericht ergeben. Besonders hervorzuheben sind hier die Beiträge von R. Janko in Band 4 zur homerischen Kunstsprache und zur Textüberlieferung.
2: A Commentary on Homer's Odyssey, edd. A. Heubeck et all.
Gegenüber dem Kirk‘schen Kommentar spielt im Odysseekommentar der Oxford University Press (ursprünglich in Italienisch bei Mondadori erschienen) die Homerbetrachtung des deutschsprachigen Raums eine sehr viel größere Rolle, da unter den Bearbeitern neben Stefanie West, Arie Hoekstra, John Bryan Hainsworth, Joseph Russo, Manuel Fernandez-Galiano auch Alfred Heubeck war (von ihm stammen die allgemeine Einführung sowie Einführung und Kommentar zu Buch 9-12 und 23-24). Auch für diesen Kommentar ist die Zielsetzung zunächst einmal auf die Wort- und Sacherklärungen abgestellt, so dass sich der Großteil der Anmerkungen auf Semantik, Worterklärungen, metrische Hinweise und Erklärungen zur Sprachgeschichte bezieht. Dennoch kommen auch interpretatorische Aspekte zum Tragen, besonders ausgeprägt in der allgemeinen Einführung. Ein weiterer Vorteil dieses Odysseekommentars ist die Tatsache, dass in ihm auch reichlich auf Sekundärliteratur verwiesen wird.
So gehört dieser Kommentar auch in die Hand der Griechischlehrer, denen an den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung zur Odyssee der letzten dreißig Jahre gelegen ist und die diese Erkenntnisse in ihren Unterricht einbringen möchten.
3: M. Kretschmer, Kommentar zur Ilias-Schulausgabe
Dieser Kommentar ist in Verbindung mit der Ilias-Schulausgabe von Manfred Kretschmer im Aschendorff-Verlag erschienen. Sowohl Text- als auch Kommentarteil haben einen stattlichen Umfang: Der Textband umfasst 267 Seiten (davon 85 Seiten Einleitung einschließlich einer Inhaltszusammenfassung, einer Homergrammatik und einem Abriss zur Metrik sowie 45 Seiten Register und Literaturverzeichnis), der Kommentar 496 (!) Seiten.
Die im Textteil abgedruckten 3870 Verse erfassen ein Viertel des gesamten Iliastextes; die Auswahl ist konsequent am Ablauf des Konflikts Achill-Agamemnon orientiert: Die Bücher A (ganz), B (die Peira), Γ (Zweikampf Paris-Menelaos; Teichoskopie), Z (Hektor und Andromache), I (die Gesandtschaft und Achills Absage), Π (Patroklie), Σ (ohne Schildbeschreibung), T (Versöhnung), X (Hektors Tod), Ψ (Bestattung des Patroklos), Ω (Priamos und Achill). Mit dieser Textauswahl können bei jeder denkbaren Kursform die entscheidenden Aspekte einer Iliaslektüre ‒ Konzentration des Troia-Mythos auf ein bestimmtes Ereignis und Geschehensentwicklung durch die individuelle Persönlichkeit der Protagonisten ‒ abgedeckt werden. Es hätte sich höchstens noch die Berücksichtigung einer kurzen Passage zur Illustrierung troianischer Überlegenheit angeboten, durch die die Aussage im Proöm von der μῆνις ... οὐλομένη, ἣ μυρί' Ἀχαιοῖς ἄλγε' ἔθηκε stärker konkretisiert würde. Dafür gut geeignet wären etwa die Verse M 175—264, in denen zugleich deutlich wird, wie diese Überlegenheit auch den sonst so besonnenen Hektor zu einem entscheidenden Fehler verführt.
Während im Textband der beträchtliche Umfang durchaus Sinn ergibt, hat Kretschmer im Kommentar zu dieser Textauswahl doch wohl etwas zu viel des Guten getan. Die großzügigen Vokabelangaben sind sicherlich notwendig (vorausgesetzt ist lediglich der Grundwortschatz aus der Griechisch-Wortkunde von Steinthal/Meyer), doch der Umfang an sprachlichen Erläuterungen zu den einzelnen Vokabeln sprengt das für eine Schulausgabe sinnvolle Maß, zumal die sprachlichen Hilfen noch um einen Realien- und Interpretationskommentar (gelegentlich sogar mit Blick auf die Linear B-Befunde) erweitert sind. Dieser ist allerdings separat unten auf den Seiten gesetzt und dehnt insofern den rein sprachlichen Teil optisch nicht noch weiter aus(6).
Schülerinnen und Schüler dürften dieser enormen Menge an sprachgeschichtlichem Material etwas hilflos gegenüberstehen; die Reduktion auf das für sie erst einmal Wichtige (Entschlüsselung der Wortbedeutungen und Formen als Hilfe zur Erarbeitung einer Übersetzung) ist dementsprechend schwierig. Wie so etwas straffer gemacht sein kann, lässt sich etwa an der ebenfalls bei Aschendorff erschienenen Ilias-Wortkunde von H. Widmann ablesen, in der Etymologie und sprachgeschichtliche Entwicklungen nur in besonderen Fällen angegeben werden. Auch im Sinne einer günstigeren Preisgestaltung (trotz des erstaunlich niedrigen Gesamtpreises) hätte daher ein substantiell auf die Übersetzungsarbeit ausgerichteter Schülerkommentar ausgereicht; dagegen könnten die darüber hinausgehenden Informationen, vor allem der Realienkommentar, eine ausgezeichnete Basis für ein Lehrer- oder Begleitheft bilden. Es wäre jedenfalls schade, hätte der Verlag auf das hier Gebotene generell verzichtet, es ist allerdings eher für den geeignet, der über den Kampf mit der Sprache und der Übersetzung hinaus ist, also für Studierende im Grundstudium oder Griechischlehrkräfte, speziell solche, die in Homericis nicht über die weitgefächerten Kenntnisse verfügen, wie sie offensichtlich der Herausgeber hat. Leider ist die Ausgabe samt Kommentar gegenwärtig nahezu vergriffen.
4: Der Neue Ameis-Hentze (Kommentar zur Ilias)
Besonderes Augenmerk verdient der von Joachim Latacz begonnene, jetzt zusammen mit Anton Bierl von ihm fortgeführte Iliaskommentar 'Der neue Ameis-Hentze'. Der Titel ist etwas irreführend, denn vom alten Ameis-Hentze ist auf den ersten Blick nicht viel zu erkennen. Auch wenn einige Kommentierungsprinzipien des Ameis-Hentze noch fassbar sind, scheint es mir sinnvoller, ihn einfach als den Basler Homerkommentar zu bezeichnen. Mit diesem Kommentar hat man in Basel eine wahre Herkulesarbeit begonnen, denn hier wird versucht, die Prinzipien eines Schulkommentars mit denen eines Studienkommentars und eines wissenschaftlichen Kommentars zu verbinden. Jedes Iliasbuch – in der Kommentarterminologie: Iliasgesang – ist als Text (im Prinzip der West'sche Text mit einzelnen geringfügigen Ausnahmen) und Übersetzung, die speziell von Latacz in jambischer Form erstellt wurde, in einem jeweils eigenen Band erschienen; erschließend vorbereitet ist das Werk durch ausführliche Prolegomena.
Der Kommentar wird durch das Druckbild in vier Bereiche geteilt und macht so die jeweiligen Adressaten von vornherein kenntlich, ein höchst verdienstvolles Unterfangen, das es in dieser Konsequenz und Ausführlichkeit nicht nur in der Homerforschung, sondern auch in der Gräzistik generell wohl noch nicht gegeben hat. Die vier adressatenspezifisch gestalteten Bereiche sind:
Abgerundet wird das Ganze durch eine höchst intensive Berücksichtigung der Forschungsliteratur: man kann diesen Kommentar ohne weiteres auch als Forschungsbericht lesen.
Noch eine Anmerkung zur Übersetzung: sie ist wie schon gesagt, in Jamben gehalten, wirkt damit poetisch, ohne sich dem für das Deutsche problematischen Korsett des Hexameters zu unterwerfen. In den Rezensionen wurde immer wieder einmal Kritik an dieser Übersetzung geübt. Diese Kritik kann ich nicht teilen. Persönlich finde ich die Übersetzung ausgezeichnet, weil sie bereits – wie die von Schadewaldt – sehr vieles von der profunden Homerkenntnis des Verfassers enthält. Dennoch sieht man der Übersetzung diese Gelehrsamkeit nicht an; vielmehr kommt sie ausgesprochen expressiv daher. Sie vermag damit etwas vom emotionalen Gehalt, den ein Grieche beim Hören gespürt haben mag, auch heute wieder lebendig zu machen und ist insofern eine bedenkenswerte Alternative zu Schadewaldts Prosaübersetzung.
Man sieht also, was für eine Arbeit in Basel geleistet wird, und man wird nicht überrascht sein, dass bisher nach den Prolegomena nur die Bücher 1 und 2 in dieser Kommentierung vorliegen. Glücklicherweise ist man in Basel dazu übergegangen, die Last der Kommentierung auf mehrere Schultern zu verteilen;
gegenwärtig darf man hoffen, dass in absehbarer Zeit gleich sechs Bücher zugleich erscheinen werden, und zwar die interpretatorisch besonders wichtigen Gesänge Γ, Z, Ι, Τ, X und Ω. Ihr Erscheinen steht für 2009 auf dem Programm. Damit wäre ein Drittel der Ilias bearbeitet, und zwar die Bücher, die in der Schule bei einer Iliaslektüre eine Rolle spielen.
Die Anschaffung dieses Werks ist für jede Schule, an der eine Homerlektüre in Frage kommt, nachdrücklich zu empfehlen; immerhin bezieht die Arbeit, die man sich hier gemacht hat, ganz bewusst auch den schulischen Bereich ein.
5: I. de Jong, A Narratological Commentary on the Odyssey
Als letztes ist in dieser Liste der narratologische Odysseekommentar von Irene de Jong aufgeführt. Er dürfte für die Arbeit im Schulunterricht eher geringe Impulse geben, stellt aber in der konkreten Anwendung für die Odyssee die Ergebnisse einer Forschungsrichtung dar, die dem Verständnis der homerischen Texte weiter voran hilft: der Narratologie. Irene de Jong, Gräzistin an der Universität Amsterdam, hat diese Forschungsrichtung selbst an erster Stelle in die Homerforschung eingebracht(7). Mit der Frage, inwieweit die Sprache der im Epos redenden Menschen von der Sprache der erzählenden Teile abweicht, hat sie wesentliche neue Impulse für die Homerdeutung gegeben. Durch solch eine Fragestellung lässt sich nämlich einiges darüber erkennen, wo Homer besonderen Nachdruck auf bestimmte Formulierungen legen wollte. Damit werden Wege zu einer methodisch gut fundierten Interpretation gebahnt, da man nun innerhalb des Epos den erzählenden Stil mit dem dramatischen vergleichen kann.
An einem Beispiel in deutscher Übersetzung soll gezeigt werden, wie de Jongs Kommentar aussieht. Sie merkt zum 19. Vers im ersten Gesang der Odyssee zu dem Wort φίλος folgendes an:
φίλος 'vertrauter, Freund' (engl. 'dear') gehört zur Charakter-Sprache(8): 132-mal in einer Rede, zweimal in eingebetteter Fokalisierung (13.192; Il. 19.378) und zweimal im einfachen Erzähler-Text. Das Wort steigert das Pathos, mit dem der Erzähler Odysseus' Notlage beschreibt: alle anderen sind zuhause, frei von den Mühen des Kriegs und der Reise, aber Odysseus, als für ihn das Jahr kam heimzukehren, ist nicht einmal dann frei von Mühen, wenn er unter seinen philoi zurück ist.
Leider liegen für die homerische Narratologie umfassendere deutschsprachige Publikationen noch nicht vor. Dieser Kommentar wäre es freilich wert, ins Deutsche übersetzt zu werden. Wer sich also für neue Erkenntnisse der Erzählforschung interessiert, sollte diesen Kommentar einmal in die Hand nehmen. Es ergeben sich auch Impulse für die Behandlung der Odyssee in der Schule daraus.
1. (s. unter: Kommentare, J. Latacz)
2. R. Schrott, Ilias, München 2008
Bisher sind für die Ilias die Übersetzungen von Voß, Schadewaldt, Rupé und vielleicht auch Scheibner, für die Odyssee die von Voss, Schadewaldt, Weiher und Hampe gebräuchlich. Die Zahl hat sich jetzt weiter vermehrt und wird sich in absehbarer Zeit noch weiter vergrößern.
Bereits gedruckt liegt die eben erwähnte Ilias-Übersetzung von Joachim Latacz vor, die aber bislang nur die Iliasgesänge 1 und 2 erfasst; im nächsten Jahr sollen die Gesänge 3, 6, 9, 19, 22 und 24 in Verbindung mit dem Basler Kommentar folgen. Für den Herbst dieses Jahres wird die Übersetzung von R. Schrott erwartet, sie war aber schon über Weihnachten 2007 im Deutschlandfunk zu hören. Es dürfte aufschlussreich sein, einmal zum gleichen Textstück die beiden Übersetzungen nebeneinander zu hören. Ausgewählt sind die Verse aus dem 2. Buch, V. 243-264. Der Zusammenhang ist der, dass unmittelbar zuvor Thersites den Agamemnon nach dessen völlig missglückter Ansprache an das Heer mit Worten massiv angegriffen hat:
1: J. Latacz
So also sprach, beschimpfend Agamemnon-des-Kriegsvolkes-Hirten,
Thersites. Neben den trat aber rasch der göttliche-Odysseus,
und fuhr, von unten blickend, hart ihn an mit scharfer Rede:
„Thersites, Mann der wirren Worte! Klangvoll zweifellos als Redner -
halt ein und untersteh dich, ganz allein zu streiten mit den Fürsten!
Denn keinen schlecht'ren Sterblichen als dich, behaupt' ich,
keinen andern, gibt's unter allen, die mit den Atriden her nach Ilios gekommen!
Drum wirst du schwerlich hier über die Fürsten dir das Maul zerreißen
und ihnen Schmäh vortragen und der Heimkehr Hüter spielen!
Noch wissen wir ja nicht genau, wie's werden wird mit diesen Dingen:
ob wir im Glück, ob unglücklich heimkehren werden, wir Achaiersöhne.
Und da musst du jetzt den Atriden- Agamemnon-des-Kriegsvolkes-Hirten
hierhockend schwer beschimpfen, weil ihm reichlich geben
die Herrn der Danaer?! Doch du schwingst große Lästerreden?!
Nun denn! heraus sag' ich's dir - und das wird vollendet werden -:
Wenn ich bei solchem Unsinn dich nochmal erwischen sollte wie jetzt eben –
ja, dem Odysseus soll dann nicht der Kopf mehr auf den Schultern sitzen,
und nicht mehr Vater Telemachs soll ich dann heißen,
wenn ich dich dann nicht packe und dir auszieh deine hübschen Sachen –
den Mantel und das Hemd dazu und was die Scham umhüllet –,
und nackt und bloß dich heulend zu den schnellen Schiffen schicke,
fortprügelnd dich vom Sammelplatz mit schmählichem Geprügel!“
2: R. Schrott
Derselbe Abschnitt bei Schrott (nach dem Text, der im Deutschlandfunk übertragen wurde):
und diese flut von beleidigungen hätte sich noch weiter
über den kriegsherrn ergossen, wäre da nicht odysseus
zu thersites hingetreten und hätte ihn hart angeschnauzt:
ah - was bist für ein blendender redner - du maulheld du!
halt endlich deine klappe - der einzige, der sich auflehnt
gegen die obrigkeit, der bist du - für wen hältst du dich?
ich sags dir - der fieseste kerl von allen hier, der bist du!
hör auf, dich lang und breit über unsre führer auszulassen
und sie am schmäh zu führen unter dem billigen vorwand
du setzt dich für den rückzug ein! wir wissen ja gar nicht
ob wir am ende als sieger oder verlierer dastehen werden.
du regst dich darüber auf, daß wir unserem befehlshaber
zukommen lassen, was ihm zusteht - aber das was du tust
ist bloß polemisch große reden zu schwingen! ich sags dir
jetzt noch im guten - aber ich gebe dir mein wort darauf:
wenn du dir noch einmal soviel herausnimmst wie eben -
so wahr mir der kopf auf den schultern sitzt und telemach
mein sohn ist - dann pack ich dich, reiß dir deine kleider -
auf die du gar soviel gibst, du schönling du! - vom leib
den mantel, das hemd und den fetzen über deinen eiern -
und prügle dich dann nackt und winselnd vor schmerz
vom sammelplatz hier hinüber bis zu deinem schiff!
Es sei jedem, der sich mit Homer befasst, selbst überlassen, in welcher deutschen Form er die homerischen Texte seinen Schülerinnen und Schülern vorstellen möchte.
1. M. W. Edwards, Homer. Poet of the Iliad, Baltimore 1987
2. H. Bannert, Homer. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1992 (überarb. Auflage)
3. J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, Düsseldorf - Zürich 42003
4. B. Patzek, Homer und seine Zeit, München 2003
5. G. A. Seeck, Homer. Eine Einführung, Stuttgart 2004
1: M. W. Edwards, Homer. Poet of the Iliad
Mark W. Edwards, ein renommierter Homerforscher aus Berkeley, hat mit diesem Buch ein gut lesbares Werk vorgelegt, das knapp und konzise in die zentralen Gebiete der Homerforschung einführt. Der erste Teil befasst sich mit den Charakteristika des homerischen Stils, und zwar als Produkt mündlicher Dichtung. Hinzu kommen Erklärungen zur Sprache und Metrik sowie zu bestimmten stereotypen Formen des Erzählens. Auch Poetisches wie Gleichnisse oder die Funktion von Selbstgesprächen werden umsichtig und mit klaren Stellungnahmen besprochen, ebenso wie die Themen ‚Mythologie‘, ,Geschichte‘ und ,Gesellschaft‘. Im Ganzen erhält der Leser mit diesem Buch einen guten Einblick in den Stand der Ilias-Forschung (natürlich mit Konzentration auf den englischsprachigen Bereich, aber durchaus auch mit Berücksichtigung deutschsprachiger Publikationen) am Ende der 80er Jahre. Im zweiten Teil wird auf 143 Seiten das Iliasgeschehen in beträchtlicher Ausführlichkeit nacherzählt und kommentiert. Die Nacherzählung verläuft entlang der sogenannten Achill-Linie, ist also vor allem auf das Geschehen der Bücher 1, 9, 16, 18, 22 und 24 konzentriert. Dieser Teil ist sehr gut lesbar und kann für den Unterricht nicht nur empfohlen werden, um den Handlungsablauf der Ilias auch in einigem Detail transparent zu machen, sondern auch um die Textoberfläche ein Stückweit interpretierend zu durchdringen. Schülerinnen und Schüler auch im altsprachlichen Unterricht einmal mit englischsprachigen Beiträgen zu konfrontieren ist unter wissenschaftspropädeutischem Aspekt ohnedies wünschenswert.
2: H. Bannert, Homer
Bannert zeichnet im ersten Teil dieses Buches, das in der Reihe der rororo-Biographien erschienen ist und daher auch Bildmaterial zu Homer und seiner Epoche enthält, den Stand der Forschung in der Homerischen Frage sowie in der Frage nach der Person Homers und der Identität von Ilias- und Odysseedichter nach. Die Frage nach der inhaltlichen und stilistischen Einheit stellt sich freilich durch die oral-poetry-Forschung und die sog. Neoanalyse(9) gegenwärtig in veränderter Form. In der Problematik der Verbindung zwischen Ilias und Odyssee sieht Bannert mehr Trennendes als Gemeinsames zwischen Ilias und Odyssee, verwirft also die Annahme eines gemeinsamen Verfassers.
Im zweiten Teil geht Bannert auf die Homertexte selbst ein. Hier ist im Abschnitt zur Komposition und dichterischen Intention viel Gewinnbringendes zu finden, speziell die Bemerkungen zur einheitlichen Struktur von Ilias und Odyssee (S. 65-68 bzw. 68-69). Weiterhin werden die wichtigen Kompositionsmittel wie formelhafte Sprache, typische Szenen und Gleichnisse erläutert. Auch die Rolle der Götter in den homerischen Epen wird umsichtig diskutiert, wenn auch die Frage der Autonomie des Menschen nicht ausführlicher beleuchtet wird.
Auch diese Einführung ist also für den Einsatz in der Schule durchaus geeignet; speziell durch das Bildmaterial dürfte sich eine besondere Motivation für die Schülerinnen und Schüler ergeben.
3: J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlandes
Dieses Buch, zuerst 1985 erschienen, liegt inzwischen in vierter Auflage vor. Schon dies und die Tatsache, dass es ins Englische, Italienische, Neugriechische, Türkische und Holländische übersetzt wurde, zeigt, wie sehr Latacz mit seiner Darstellung auch bei einem breiteren Publikum einen Nerv getroffen hat.
Schon die Forschungsgeschichte zur Person Homers und zu seinen Epen ist hier souverän und überaus verständlich zusammengefasst, aber die am meisten beeindruckenden Teile sind die interpretierenden Durchgänge durch die Ilias und die Odyssee. Sie zeigen diese Texte als wirkliche poetische Kunstwerke, denn durch sie wird deutlich, worin die poetische Qualität dieser Epen liegt, auf die schon Aristoteles in seiner Poetik hingewiesen hat.
Dieses Buch kann, ja sollte man Schülerinnen und Schülern an die Hand geben. Dazu trägt zum einen der expressive, ja fast suggestive Stil und die geschickte Vermeidung von zu viel Fachterminologie bei, zum anderen stellt es nicht, wie es von der angloamerikanischen Raum Forschung häufig gemacht wird, vor allem die ungelösten Fragen in den Vordergrund. Stattdessen gibt Latacz in der Tradition der deutschen Forschung Antworten und fügt seine Deutungen zu einem kohärenten Gesamtbild zusammen. Dabei ist dieses Gesamtbild durchaus differenziert und an den problematischeren Stellen mit der notwendigen Vorsicht dargestellt. So ist dieses Buch gegenwärtig dasjenige, welches philologisch und von der Darstellungsart her den besten Einstieg in Homer bietet.
4: B. Patzek, Homer und seine Zeit
Dieses Homerbuch wurde von einer Historikerin verfasst, wodurch sich ein etwas anderer Fokus als bei den übrigen Einführungen ergibt. Die historische Sichtweise wird besonders in der Frage der Stoffgeschichte, der Diskussion historischer Ausdeutungen des Mythos und der Analyse der homerischen Gesellschaft erkennbar; dennoch fehlen natürlich auch die philologischen Aspekte nicht.
Am Beginn des Buches stehen zwei kurze Inhaltsangaben zur Ilias und zur Odyssee. Anschließend entwirft Patzek eine Geschichte des Stoffes, speziell zum Mythos vom Kampf um Troia. Sie spannt hier den Bogen von einem historischen Krieg um 1200 v.Chr., der Entwicklung des Sagenstoffes mit einer immer stärker werdenden Fokussierung auf einzelne Episoden bis etwa 700 bis zur spätestens 650 v.Chr. erfolgten Abfassung der Großepen. Hiermit schließt sich Patzek der gegenwärtig immer stärker vertretenen Spätdatierung der Ilias an, die allerdings ausgesprochen zweifelhaft ist.(10) Der Verweis auf die Tatsache, dass homerische Szenen vor 630 in der griechischen Vasenmalerei nicht vorkommen, schlägt nicht durch; dafür ist die Überlieferungslage zu schlecht. Auch Patzek setzt Ilias- und Odysseedichter als zwei verschiedene Personen an.
Das nächste Kapitel ist der Forschungsdiskussion gewidmet. Hier werden auf der Basis der von Milman Parry inaugurierten oral-poetry-Forschung die Rolle des Sängers und seines Publikums und die Tradition der Heldendichtung im frühen Griechenland behandelt. Deren für die homerischen Epen entscheidende Ausprägung setzt Patzek in die vorliterarische Zeit des 9. und 8. Jahrhunderts. Direkte Reminiszenzen sowohl an die mykenische Zeit als auch an die dark ages, insbesondere die in Lefkandi auf Euböa um 950 nachweisbaren Bestattungsriten, sieht Patzek nicht(11); sie vermutet bei diesen Aspekten eher orientalischen Einfluss des 7. Jahrhunderts und bei den Verfassern der Epen eine Tendenz zum Archaisieren.
Die beiden folgenden Abschnitte über die homerische Zeit und die homerische Gesellschaft führt die argumentative Tendenz der Entstehungsgeschichte fort. Auch hier kann Patzek wenige Erinnerungen an frühere Zeiten ausmachen. Sie hat sicherlich recht, wenn sie davor warnt, die Ilias als Geschichtsbuch zu lesen, aber in der von ihr kritisierten radikalen Form geschieht dies in der Homerforschung heute ohnehin nicht und ist auch selten geschehen. Mit dieser Warnung ist jedenfalls nicht bewiesen, dass in der Ilias und der Odyssee nur wenige Erinnerungen an frühere Zeiten in Griechenland enthalten sind.
Anmerkungen über die homerische Religion runden das Bild, welches hier zu den homerischen Epen entworfen wird, ab. Patzek sieht erneut weniger die griechische als die orientalische Tradition als bestimmend an. Diese Tradition ist in manchen Szenen wie etwa der Διὸς ἀπάτη im 14. Buch sicherlich vorhanden, aber dies können Einzelfälle sein; einige Namen des späteren olympischen Götterhimmels, nämlich Zeus, Hera, Poseidon, Artemis, Dionysos und Hermes, sind bereits auf kretischen und pylischen Linear B-Täfelchen von Pylos genannt (speziell auf Tafel PY Tn 316).
Zusammenfassend zeigt sich so immer wieder eine eher historische als philologische Herangehensweise an Homer. Das Hauptproblem dieser Darstellung ist die Spätdatierung der homerischen Epen ins 7. Jahrhundert, woraus sich einige Verschiebungen in der Frage nach der Genese dieser Texte ergeben. Der Dichter Homer tritt dadurch kaum mehr als Individuum hervor, sondern eher als jemand, der einen tradierten Mythos mit kontemporären orientalischen Kulturphänomenen verbunden hat. Wenn man in der Schule mit diesem Buch arbeitet, sollte klar werden, dass die Forschung die homerischen Epen auch anders datiert und betrachtet.
5: G. A. Seeck, Homer. Eine Einführung
Seecks Einführung ist von einem philologisch-literarisch orientierten Zugang zu den homerischen Epen geprägt. Die Fragen nach der Stoffgeschichte und den Produktionsbedingungen werden im ersten Teil knapp und konzise dargestellt, wobei schon hier im Gegensatz zu anderen Einführungen immer wieder Bezüge zu moderner, vor allem deutscher Literatur gesucht werden. Insofern stellt dieser Teil eine Einbettung des homerischen Epenstoffs in die Literaturgeschichte allgemein dar. Da Seeck eine solche Einbettung natürlich theoretisch begründet und dazu eine entsprechende Begrifflichkeit unverzichtbar ist, eignet sich dieser Teil auf Grund seines Voraussetzungsreichtums nur bedingt für die Schule, es sei denn, die Schülerinnen und Schüler sind mit kontemporären Literaturvorstellungen vertraut.
Abschnitt II, 120 Seiten lang, ist der Ilias gewidmet. Seeck stellt an den Anfang grundsätzliche Überlegungen zum Thema des Zorns und seiner inhaltlichen Durchführung, stellt anschließend das epische Personal vor, um dann in wenigen Strichen den Handlungsablauf zu präsentieren. Erweitert wird diese Darstellung um kurze Betrachtungen zu einzelnen Szenen wie dem Zweikampf zwischen Aias und Hektor oder der Schildbeschreibung; diese Betrachtung orientiert sich an der Frage, wie diese Szenen in den Gesamtkontext passen. Hier spielen noch analytische Deutungsansätze hinein, ohne dass allerdings die Einheit der Ilias grundsätzlich bestritten wird. Es folgt der Hauptteil dieses Abschnitts, eine Beschreibung des Iliasgeschehens mit kurzen erläuternden Anmerkungen.
In Abschnitt III, dem geringeren Umfang der Odyssee im Vergleich zur Ilias entsprechend kürzer gehalten, verfährt Seeck grundsätzlich auf dieselbe Weise, um das zweite große homerische Epos vorzustellen. Vor allem der ‚doppelte Anfang‘ der Odyssee zur Exposition der Themenstränge ‚Ithaka‘ bzw. ‚Odysseus‘ in Buch 1 bzw. Buch 5 wird hier etwas ausführlicher diskutiert. Seeck bleibt auch hier mit seinen Antworten recht vorsichtig, er bevorzugt die Darstellung in fragender Form.
Diese Einführung ist für jemanden, der sich in der Literatur allgemein auskennt und nicht unbedingt vom gräzistischen Fach ist, ausgesprochen empfehlenswert; Schülerinnen und Schüler, die Homer im Unterricht behandeln, wären dagegen wohl mit der prägnanten Kürze und der argumentativen Offenheit etwas überfordert. Auch für Facharbeiten oder Referate bietet sich diese Darstellung wegen der Knappheit, mit der die einzelnen Themen behandelt werden, nicht ohne weiteres an, es sei denn, man beschränkt sich dort auf eine Vorstellung der iliadischen bzw. odysseischen Handlungslinien.
1. J. Latacz (Hrsg.) Homer. Tradition und Neuerung (Wege der Forschung 463), Darmstadt 1979
2. 200 Jahre Homerforschung. Rückblick und Ausblick, hrsg. v. J. Latacz, Stuttgart - Leipzig 1991 (Colloquium Rauricum 2)
3. J. Latacz (Hrsg.) Homer. Die Dichtung und ihre Deutung (Wege der Forschung 634), Darmstadt 1991
4. I. Morris - B. Powell (edd.), A New Companion to Homer, Leiden 1997
5. R. Fowler (ed.), The Cambridge Companion to Homer, Cambridge 2004
6. M. Winkler (ed.), Troy: From Homer's Iliad to Hollywood Epic, Malden 2007
Es liegt in der Entwicklung der Homerforschung, dass solche souveränen Forschungsberichte, wie sie Alfred Heubeck und Albin Lesky vor etwa 40 Jahren verfasst haben(12), heute nicht mehr möglich sind; die Homerforschung hat sich derartig verzweigt und spezialisiert, dass ein einzelner hier kaum noch einen Überblick behalten kann. Daher widmen sich die im Folgenden genannten Werke entweder einem Teilthema der Homerforschung oder sie sind als Gesamtübersichten von Autorenteams erstellt worden. Im zweiten Falle hat dies öfters zu einer spürbaren Heterogenität geführt, der Eindruck einer inneren Einheit stellt sich nur schwer ein.
1: Wege der Forschung: J. Latacz (Hrsg.), Tradition und Neuerung
Dieses Werk war mit der Absicht konzipiert worden, die in den USA und in Großbritannien wissenschaftlich so einflussreiche oral-poetry-Theorie an die deutschsprachige Homerforschung heranzutragen. Das ist mit diesem Werk gelungen und misslungen zugleich. Gelungen ist es insofern, als Latacz die Grundlagen der oral-poetry-Theorie in allen wesentlichen Facetten, wie sie bis zum Ende der 70er Jahre zu beobachten waren, vollständig zur Darstellung bringt; dieser Band bringt sogar noch eigenständige Forschungen über die Arbeit, die vor Milman Parry auf diesem Sektor geleistet wurde. Man erfährt alles Wichtige über Theoriebildung Parrys und die Fortsetzung im Bereich der Komparatistik und der Formelforschung. So ist ein überaus nützliches Hilfsmittel mit einer umfassenden Bibliographie entstanden.
Als nicht erfolgreich jedoch muss man wohl die Rezeption dieses Werks ansehen. Es hat in der deutschsprachigen Homerforschung schon immer ein großes Missbehagen gegenüber Parrys Forschungen gegeben, es genügt, in diesem Zusammenhang auf Forscher wie Karl Reinhardt und Hartmut Erbse hinzuweisen(13); Schadewaldt und Heubeck haben sich diesem Thema noch zu öffnen vermocht, wenn auch nicht aktiv geforscht. Hier lag nun ein Werk vor, dass die deutschsprachigen Homerforscher auf den Stand der Diskussion in der Frage der oral poetry und ihrem Verhältnis zu Homer hätte bringen können, aber die jüngere Forschergeneration hat dieses Thema nicht aufgenommen. Man hat sich offenbar diesem technischen Aspekt, der allein schon im Begriff der Formel angedeutet ist, nicht zuwenden wollen. Diese Bedenken sind mit Blick auf eine gelegentlich in den amerikanischen Publikationen festzustellende Formeljägerei verständlich, aber gerade die 'schöngeistige', soll heißen, interpretierende Homerphilologie kann nicht einfach die auf diesem Sektor erzielten Ergebnisse ignorieren, sondern muss mit ihnen umgehen. Dessen ist sich die deutschsprachige Gräzistik durchaus bewusst, daher hat sie sich erkennbar vom Thema 'Homer' zurückgezogen. Das wäre angesichts dieses Bandes nicht nötig gewesen.
2: J. Latacz (Hrsg.), 200 Jahre Homerforschung
Einen sehr schönen Überblick über die Forschungsarbeit an den homerischen Realien und dem geistigen Hintergrund der homerischen Epen bietet der Band 200 Jahre Homerforschung von 1991. Das Erscheinungsjahr soll an das 200 Jahre zurückliegende Erscheinen der Prolegomena ad Homerum von Friedrich August Wolf und den Beginn der homerischen Frage 'Einheit oder Konglomerat?' erinnern. Das weit über 500 Seiten starke Werk bietet Überblicke ausgewiesener Spezialisten zur Forschungsentwicklung in folgenden Bereichen: Homer und die archäologische Forschung auf 100 Seiten, Homer und die althistorische Forschung (auf etwa 150 Seiten), Homer und die Sprachwissenschaft (auf 80 Seiten), Homer und Mythenforschung (auf 35 Seiten). Dazu kommt ein Kapitel zur Interpretationsmethodik (Neoanalyse, Komparatistik, Erzählforschung) mit noch einmal 100 Seiten. Was die literarische Interpretation des Texts betrifft, so gibt es nur zwei Beiträge. Diese, von J. Latacz und U. Hölscher verfasst, stellen die Forschungsgeschichte zur Struktur von Ilias bzw. Odyssee dar; beide sind für die Griechischlehrkraft sehr lesenswert und gewinnbringend. Im Ganzen ist dieses Werk für die Hand des Lehrers überaus nützlich, für die Hand von Schülerinnen und Schülern – wie bei einem wissenschaftlichen Forschungsüberblick nicht anders möglich – ist es dagegen weniger geeignet.
3: Wege der Forschung: J. Latacz (Hrsg.), Die Dichtung und ihre Deutung
Da in der Homerforschung die vertiefende Deutung des Texts – etwa im Sinne einer Ausdeutung der Charaktere, der Beleuchtung der narratologischen Funktion der Gleichnisse oder der Aufdeckung einer erstaunlichen strukturellen Kohärenz – in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten ist, gilt es gerade auf Werke, bei denen diese für den schulischen Unterricht so wichtigen Aspekte im Mittelpunkt stehen, hinzuweisen. Die wissenschaftliche Arbeit an der Interpretation der Homertexte hat für die Rezeption durch die Schule Vorrang, und hierzu enthält dieser Band wichtige Anregungen. In ihm finden sich ausgewählte Arbeiten zur Deutung der Homertexte, einerseits zu bestimmten Szenen, andererseits zu Bauelementen, Werkstrukturen und Erzähltechnik. Sie vermögen deutlich zu machen, welche große poetische Leistungen Ilias und Odyssee sind, zeigen aber auch, wie sich die interpretatorischen Leitlinien der Homerexegese verändert haben.
Die einzelnen Szenen sind zwar nicht immer diejenigen, welche auch in der schulischen Arbeit im Vordergrund stehen (wie etwa die Schildbeschreibung(14) oder Penelope vor den Freiern(15)), aber der Themenbereich 'Die Wiedererkennung zwischen Odysseus und Penelope' mit Darstellungen von A. Kirchhoff, dem Vater der Odysseeanalyse, W. Schadewaldt, S. Beßlich, U. Hölscher und J. Latacz ist für den Unterricht von konkretem Nutzen.
Aber auch zu anderen Aspekten ergeben sich hier für den Leser wichtige Erkenntnisse. Da ist zum einen die Verschiebung der Interpretationskriterien. Gingen die großen Analytiker wie Wilamowitz, Kirchhoff, Schwartz und von der Mühll mit Vorstellung von guter Dichtung an den Homer heran, über die sie abgesehen vom Kriterium logischer Stimmigkeit eigentlich keine Rechenschaft abgelegt hatten – sie waren offenkundig der Ansicht, dass gute Dichtung das sei, was sie dafür hielten(16) –, so haben die Unitarier wie Reinhardt, Schadewaldt oder Hölscher dem Dichter erst einmal zugehört und versucht, das von Homer für darstellenswert Erachtete anhand seiner Texte zu verstehen und ihr poetisches Verständnis hieran zu orientieren. Insofern ist diese Sammlung von Aufsätzen ein Lehrstück zum Thema 'Interpretationsmethodik', ja sogar zum Zeitgeist verschiedener Epochen. Vor dem ersten Weltkrieg waren sich die deutschen Philologen ihrer Deutungen nachgerade absolut sicher und zeigten ihren philologischen Sachverstand dadurch, dass sie im Homertext ständig nachweisen wollten, wie gute Dichtung auszusehen hätte. Später entwickelte sich zusehends eine Achtung vor dem uns überlieferten Text, eine Entwicklung, die auch für den schulischen Unterricht sehr wichtig geworden ist.
Weiterhin ist bei diesem Band noch der Aspekt der nationalen Traditionen in der Homerforschung zu erwähnen. In dem Wege-der-Forschung-Band zur oral poetry (s. hier unter E 1) hat Latacz als Herausgeber fast nur englischsprachige Literatur berücksichtigt, berücksichtigen müssen. Das ist in diesem Band anders: von 23 aufgenommenen Arbeiten sind nur drei nicht von deutschsprachigen Gräzisten, und auch diese Auswahl repräsentiert die Forschungslage richtig. Möglicherweise ist die Tatsache, dass wir heute in Deutschland das Fach Griechisch in der weiterführenden Schule immer noch auf einem substantiellen Niveau anbieten können und dürfen, auch darauf zurückzuführen, dass der Begriff von Klassischer Philologie in Deutschland mehr ist als technisch-strukturalistische Analyse oder Realienkommentierung.
4: The New Companion to Homer
An umfassenden Forschungsüberblicken ist aus dem englischsprachigen Bereich zunächst der mehr als 700 Seiten starke 'New Companion to Homer' zu nennen, der im Titel an den alten hoch geschätzten 'Companion to Homer' von 1962, herausgegeben von Wace und Stubbings, anschließt. Der Band gliedert sich in vier Teile:
Obwohl generell ausgewiesene Fachleute am New Companion mitgearbeitet haben, ist das Niveau nicht einheitlich. In manchen Artikeln werden in einer für einen Forschungsüberblick wenig dienlichen Weise Ansichten, die der Verfasser nicht teilt, übergangen; man würde mehr Offenheit auch für andere Thesen erwarten (das gilt vor allem für H. van Wees' Darstellung über homerische Kriegsführung). Auch rezipieren viele Verfasser vor allem aus den USA die deutschsprachige Forschung nicht hinreichend, was sich besonders gravierend im Abschnitt über Homer als Literatur auswirkt (speziell im Beitrag zur Struktur der Ilias, wo nicht einmal Schadewaldts ‚Iliasstudien‘ berücksichtigt sind). Darüber hinaus fällt öfters eine sehr technische Sichtweise auf den Homertext auf (Formelforschung) sowie eine Betrachtung des Homertexts von den anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen aus.
So kommt das Fazit von einem der prominentesten englischen Homerforscher, Richard Janko aus Cambridge, in BMCR 98.5.20 nicht überraschend: „This volume is a disappointment, being neither as useful nor as usable as it ought to have been.“Für einen detaillierten Überblick sei auf eine Rezension von R. Janko verwiesen, die im Internet frei zugänglich ist.(17)
5: The Cambridge Companion to Homer
Auch hierbei handelt es sich um einen englischsprachigen Sammelband zur Homerforschung. Das Inhaltsverzeichnis nennt folgende Themenbereiche:
Man kann bereits an dieser Kapiteleinteilung erkennen, dass der Homertext hier stärker als Dichtung im Mittelpunkt steht als im New Companion (wenn auch die heute unvermeidlichen Themen 'Gender' und 'Intertextualität' nicht fehlen); die poetische Technik Homers kommt erst an dritter Stelle. Dieser Eindruck einer engen Bezugnahme auf den Text bestätigt sich schnell bei einem Blick auf die einzelnen Beiträge: vielfach sind einzelne Textstellen als Belege zitiert und zwar – was heute nicht mehr selbstverständlich ist – in griechischer Schrift. Im Gegensatz zum New Companion ist auch immer wieder die deutschsprachige Forschung zitiert, wenn auch einige wichtige Werke hieraus fehlen, wie etwa im Abschnitt über die homerischen Götter die Arbeit von A. Schmitt (s. unter G 3).
Für den Bereich der Schule ist speziell auf den fünften Abschnitt mit dem Thema der Rezeptionsgeschichte Homers hinzuweisen. Die einzelnen Beiträge umfassen 'Homer und die griechische Literatur', 'Homer und die römische Literatur (einschließlich der Rezeption in den Bildern etruskischer Gräber wie in Vulci oder Tarquinia)', 'Homer und die englische Epik’, 'Homer in der englischen Romantik', 'Homer und der Ulysses von James Joyce'. Zwar ist hier das meiste für deutschsprachige Leser weniger interessant, da der Fokus ausschließlich auf die englische Literatur gelegt wird, aber der Beitrag 'Roman Homer' ist sehr informativ und sicherlich auch für Schülerinnen und Schüler informativ.
Im Ganzen zeichnen sich die Beiträge durch ein etwas weniger dezidiertes Eingehen auf die Forschungsliteratur aus, als dies beim New Companion der Fall ist. Hierdurch ergibt sich für diesen Sammelband generell ein höherer Grad an Lesbarkeit und Allgemeinverständlichkeit; insofern sind die hier enthaltenen Beiträge auch für die Arbeit im Unterricht zu verwenden.
6: M. M. Winkler, From Troy to Hollywood Epic
Dieser Sammelband enthält auf 231 Seiten 13 Aufsätze zum Troia-Mythos(18) und seiner Rezeption, speziell im Bereich des Films, und hier steht der 2004 entstandene Troia-Film von Wolfgang Petersen im Vordergrund der Diskussion; somit ist dieser Sammelband zunächst einmal als philologische Antwort auf diese moderne Umsetzung des Iliasmythos zu bewerten.
Der erste Beitrag des Buches fällt dabei etwas aus dem thematischen Rahmen, da es sich um eine Art Resümee zur Bedeutung und zur Historizität des Mythos vom troianischen Krieg handelt. Verfasst ist er von dem 2005 verstorbenen Troia-Ausgräber Manfred Korfmann, er beantwortet die Frage mit 'nicht unwahrscheinlich'. Genau in das Zentrum moderner filmischer Verarbeitung des Troia-Mythos führt anschließend der Aufsatz von Latacz, in dem Petersens Film detailliert besprochen wird, und zwar mit einem ausgesprochen positiven Fazit. Natürlich weist Latacz auch auf die Unterschiede zwischen Homertext und Filmdrehbuch hin, erkennt aber doch in der Zeichnung der Charaktere, insbesondere des Achill, eine deutliche Nähe zu den poetischen Intentionen Homers, so dass Latacz wie folgt zusammenfasst (S. 42): „Petersen hat Homer verstanden. Indem er dem Beispiel Homers und anderer antiker Dichter folgte, machte er das einzig Richtige: er betonte verschiedene, wenn nicht alle Themen, die schon für Homer und sein Publikum von Bedeutung waren. ‚Troia‘ ist kein leeres Spektakel, sondern ein schätzenswerter Versuch, große Literatur in dem populären Medium Film zu präsentieren. Hierfür verdient Petersen unsere Dankbarkeit“. Ähnlich positiv äußern sich auch andere Verfasser wie etwa J. Solomon in dem Beitrag 'Viewing Troy: Authenticity, Criticism, Interpretation' und S. Scully in 'The Fate of Troy'.
Dieser Band enthält über die Vergleichsanalysen zwischen Petersens Troia-Film und der Ilias hinaus auch Anmerkungen zu früheren cineastischen Verarbeitungen des Troia-Mythos und auf dessen künstlerische Rezeption generell (dies vor allem im Beitrag von G. Danek). Eine ausführliche Liste von Bearbeitungen des Troia-Mythos in Film und Fernsehen rundet den Band ab.
So liegt in diesem Band eine facettenreiche Sammlung von Aufsätzen vor, die eine Fülle von Anregungen für den Unterricht geben kann. Vor allem für Schülerarbeiten mit dem Thema eines Vergleichs des Troia-Mythos in der Ilias und modernen Adaptionen, ein sicherlich lohnendes Unterrichtsthema, bieten diese Beiträge eine gute interpretatorische Basis.
1. J. Latacz, Troia und Homer, München 52005
2. R. Schrott, Homers Heimat, München 2008
1986 sind die Grabungen in Troia wieder aufgenommen worden, doch wurde und wird diesmal nicht, wie zu Zeiten von Schliemann und Blegen, die Akropolis, sondern das räumliche Umfeld archäologisch untersucht. Zutage getreten sind Siedlungsreste einer Stadt, die eine nicht unbeträchtliche Größe gehabt hat (ca. 20 000 qm mit geschätzten 6000-7000 Bewohnern, besonders in der Phase Troia VI und VIIa). Die Funde haben die Frage nach dem historischen Hintergrund des Krieges um Troia wieder neu aufleben lassen; denn nun ist klar, dass Troia eben doch keine kleine Ansiedlung gewesen ist, um die ein solcher Feldzug wie der in der Ilias geschilderte undenkbar wäre, sondern dass dieser Ort nach damaligen Verhältnissen eine Metropole war.
1: J. Latacz, Troia und Homer
Ähnlich wie Lataczs Einführung zu Homer (s. unter 5 E) ist auch dieses Buch fulminant geschrieben und vermag Leser, die keine Fachleute auf homerischen Gebiet sind, in hohem Maße zu fesseln. Dennoch stellt dieses Buch auch eine hochrangige wissenschaftliche Leistung dar, da es die gesamte Fragestellung nach der geographischen Situierung des mythologischen Troia (der von Schliemann und Blegen ausgegrabene Hügel Hisarlık) von Grund auf diskutiert, und das heißt in diesem Zusammenhang, unter Berücksichtigung der neuen hethitologischen Forschung. Aus einem komplexen Geflecht von Beweisen, die im Wesentlichen auf der geographischen Zuweisung von Gebietsnamen in hethitischen Texten wie Tarhuntassa, Arzawa, Seha-Flussland oder Lazpa basieren, ergibt sich, wie Latacz ausführt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit das Land Wilusa in den Nordwesten Kleinasiens gehört; als Hauptstadt kommt nur die Stadt Wilusa, griech. (W)Ilios, in Frage. Zugleich ergibt sich, dass die Benennung Taruwisa, offenbar ein Wilusa benachbartes Gebiet, wohl mit dem Namen Troia verbunden werden darf. Letztlich entsteht so in sorgfältiger Argumentation das Ergebnis, dass die homerische Handlungskulisse historisch gewesen ist.
Der zweite Teil des Buches nimmt sich ab S. 170 der gegenüberliegenden Seite an: Während der erste Teile die Quellen und Funde vom alten Orient aus sichtete und bewertete, tut der zweite dasselbe von Griechenland aus. Hier verortet Latacz die Anfänge des Troia-Mythos in der mykenischen Epoche und bespricht sie in ihrer Entwicklung bis hin zu Homer. Folgendes Modell steht dem Leser am Schluss vor Augen: Ausgehend von einem historischen Zug der Mykener gegen Troia hat sich eine Erzähltradition und weitergehend eine Art Legende gebildet, die in den dark ages, als der Glanz Mykenes vorüber war, von den Aoiden, den improvisierenden Sängern, zum Mythos überhöht wurde.
Am Schluss war das Szenario eines Krieges der Welten entstanden: ganz Süd- und Mittelgriechenland gegen eine nordgriechisch-westkleinasiatische Allianz. Dieses Szenario ist freilich, wie Latacz immer wieder betont, nur der Hintergrund, nicht der Kernpunkt der homerischen Ilias; denn Homer war kein Kriegsberichterstatter oder Nacherzähler des Mythos, sondern ein Dichter von außergewöhnlichem, ja singulärem Format, der in seiner Ilias aus der Geschichte vom Krieg um Troia eine Geschichte von Menschen, ihren Stärken und ihren Schwächen, gemacht hat.
Ob alles in allen Einzelheiten definitiv so war, wie Latacz es rekonstruiert, ist nicht sicher zu sagen, aber das in diesem Werk vorgestellte Modell geht über alles hinaus, was die Forschung in dieser Frage bisher hatte, speziell auf Grund der Synthese von Hethitologie und Gräzistik. Gegenwärtig hat dieses Modell, außer man stellt sich auf den Standpunkt, ausschließlich absolute, also unwiderlegliche Beweise zu akzeptieren und sich nicht mit einer weitgehend widerspruchslosen Wahrscheinlichkeit zu begnügen, Anspruch darauf, als zutreffend zu gelten.
Dass dieses Werk auf Grund von Lataczs Art zu argumentieren und zu formulieren für Schülerinnen und Schüler in hohem Maße geeignet ist, muss wohl nicht eigens hervorgehoben werden. Hinzu kommt, dass der hier gebotene Einblick in die Quellen der hethitischen Kultur für manche Leser besondere Anregungen vermittelt und einen besonderen Reiz ausstrahlen dürfte.
2: R. Schrott, Homers Heimat
Im Dezember 2007 überraschte die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit der Nachricht, Homers Geheimnis sei gelüftet, der historische Hintergrund der Ilias und auch die Botschaft des Textes seien ganz anders zu verstehen, als dies bisher angenommen worden war. Diese Aussagen basierten auf einer These des österreichischen Schriftstellers, Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Raoul Schrott. Im März 2008 erschien dann sein Buch, in der er die in der FAZ vorgestellte These genauer ausgeführt hat, die Ilias, der Basistext der europäischen Literatur, sei in seinen wesentlichen Punkten nicht europäischer, sondern asiatischer Provenienz ‒ Vorbild für das homerische Troia und sein Umland sei das kilikische Karatepe ‒ und nahezu alles, was die Ilias zu einem Text der Weltliteratur macht, werde der altorientalischen, vor allem der assyrischen Welt verdankt.
Die Aufregung über die These war und ist bis heute beträchtlich. Vor allem Althistoriker, Altorientalisten und Archäologen haben sich dazu geäußert, mit Skepsis zwar, was die Rigorosität betrifft, mit der diese These durchgeführt wird, aber doch auch mit spürbarem Wohlwollen. Dagegen hat die gräzistische Philologie vor allem in der Person von Joachim Latacz deutliche Ablehnung geäußert. Diese Uneinigkeit könnte man als Indiz dafür werten, dass die Frage „Wie griechisch ist die Ilias?“ in einem ganz grundsätzlichen Sinne zur Debatte steht.
Auf jeden Fall werden Kriterien für ein begründetes Urteil benötigt. Zunächst einmal hat zu gelten: Wenn Schrott seine Untersuchung als wissenschaftliche Arbeit bewertet sehen will – wofür die Unzahl seiner Verweise auf wissenschaftliche Literatur spricht(19) –, dann muss er seine Arbeit auch nach den Methoden bewerten lassen, mit denen die Geisteswissenschaften ihre Forschungsergebnisse erzielen. Es geht in dieser Diskussion aber auch um den künstlerischen Sinn der Ilias, inwieweit nämlich das, was Schrott in diesem Bereich gefunden zu haben glaubt, dem entspricht, was die philologische Wissenschaft im Homer entdeckt hat.
Wenn sich ein unvoreingenommener Leser, also auch Schülerinnen und Schüler, näher mit Schrotts These befasst, könnte folgender Eindruck entstehen: 'Sicherlich ungewöhnlich, aber warum eigentlich nicht? Es könnte doch sein. Wenn schon in der Antike etliche Städte im Bereich des ägäischen Meeres beanspruchten, die Heimat des Autors der Ilias zu sein, warum nicht noch ein weiterer Ort, diesmal freilich außerhalb des griechischen Sprachraums?' So einfach darf es sich die philologische Wissenschaft freilich nicht machen, denn Forschung ist hier genauso wenig wie in den Naturwissenschaften ein Geschäft der Beliebigkeit.
Eine wissenschaftliche Beweisführung müsste idealtypisch so verlaufen: Zunächst wären die Unsicherheiten darzulegen, die dazu führen, die seit Schliemann eindeutig erscheinende Verortung der Ilias im Nordwesten Kleinasiens grundsätzlich anzuzweifeln. Hinzukommen müsste eine kritische Analyse der gegenwärtig geltenden These zur Herkunft Homers ('er stammte aus dem griechisch besiedelten Gebiet Kleinasiens oder den vorgelagerten Inseln und verfasste sein Epos weitestgehend auf der Basis der griechischen Kultur'). Im nächsten Schritt wäre zu erklären, warum gerade Kilikien und innerhalb Kilikiens die Siedlung Karatepe das Vorbild für das Troia der Ilias abgab. Schlussendlich wären die aus dieser These resultierenden Probleme zu diskutieren. Erst wenn sich diese Probleme als weniger gravierend erweisen sollten im Vergleich zu denjenigen, die sich aus der bisher vertretenen Lokalisierung ergeben, könnte der Beweis als geführt gelten. Die wissenschaftlichen Disziplinen, die für diesen Beweisgang benötigt werden, wären damit nicht nur die Geschichte, Topographie, Archäologie, Religionswissenschaft und Komparatistik, sondern auch die griechische Philologie mit besonderem Schwerpunkt in der historischen Sprachwissenschaft.
Die Unsicherheiten bezüglich Homers Heimat und der Lokalisierung Troias in der äußersten nordwestlichen Ecke Kleinasiens werden bei Schrott nicht explizit dargestellt. Man muss etwas suchen, findet dann aber das Motiv für die Ablehnung der bisherigen Lokalisierung: Schrotts Irritation über die Diskrepanz zwischen der homerischen Beschreibung Troias und der topographischen Realität in diesem Bereich. Er fordert hier Identität. Nur: Die archäologische Forschung hat gezeigt, dass sich die Küstenlandschaft im Nordwesten Kleinasiens in den letzten 3000 Jahren deutlich verändert hat.(20) Und wir wissen, dass die Verfasser von Heldenepen dazu tendieren, Flüsse reißender, Berge steiler aufragend und Häfen gewaltiger zu machen. Wenn es dazu eines Beweises bedürfte: Die umfassende Analyse des früheren Oxforder Gräzisten C. M. Bowra in seinem Standardwerk zur Heldendichtung(21) – von Schrott offenbar nicht herangezogen – beschreibt solche Übersteigerungen zuhauf.
Die Lokalisierung Troias im südostanatolischen Kilikien war dann offenbar das Ergebnis von Gesprächen, die Schrott mit dem Innsbrucker Althistoriker und Altorientalisten Robert Rollinger geführt hat. Kilikien ist in der Tat eines der Gebiete im Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident, aber das gilt für Zypern oder das südwestkleinasiatische Lykien in gleicher Weise. Die These, dass die Ilias in Karatepe verfasst wurde, ist aber wohl doch Schrotts eigene Konstruktion. Hier sieht er die geforderte topographische Identität mit dem von Homer geschilderten Troia, obwohl hier die Probleme bei einer Verbindung mit dem homerischen Text noch gravierender sind. Entgegen der iliadischen Situierung Troias liegt Karatepe sehr weit (mehr als 35 Kilometer!) von der Küste entfernt. Auch die der Küste Troias vorgelagerte Insel Tenedos, für die Durchführung der List mit dem hölzernen Pferd unverzichtbar, ist vor der kilikischen Küste nicht zu finden. Wissenschaftlich stichhaltig ist Schrotts Vorgehensweise also auch hier nicht, denn wenn man sich für eine neue Lokalisierung schon 800 Kilometer vom ursprünglichen Troia entfernt, sollte doch topographisch nicht nur eine ungefähre, sondern vollständige und dann auch überzeugende Übereinstimmung vorliegen.
Wenn Schrott dann eine stupende Fülle von angeblich in der Ilias erkennbaren orientalischen Details aufzählt, verfährt er dabei ausgesprochen willkürlich; als wissenschaftlich kann diese Vorgehensweise jedenfalls nicht bezeichnet werden. Die Namen, die Topographie, die Religion: nahezu jedes homerische Detail ist für ihn entweder sumerisch oder babylonisch oder hurritisch oder assyrisch oder kilikisch, nichts ist griechisch oder allgemein menschlich. Gerade bei den Namen können Schrotts Deutungen mit einiger Sicherheit widerlegt werden. Der Name Achilleus etwa ist schon auf einer um 1400 v. Chr. beschriebenen kretischen Tontafel belegt (KN Vc 106), kann also mit einem in hethitischen Texten vorkommenden Uchalu, der das historische Vorbild zu dieser Figur sein soll, schwerlich etwas zu tun haben. Die in der Ilias auftretenden Achaier tragen ohnehin zumeist griechische oder vorgriechische Namen, nur bei einigen troianischen Namen ist der Einfluss des Luwischen wahrscheinlich, einer Sprache, die in ganz Kleinasien gesprochen wurde, also auch dort, von wo Homer nach traditioneller Auffassung stammt. Erneut hält Schrotts Argumentation wissenschaftlichen Kriterien nicht stand.
Entscheidend für eine Einschätzung des heuristischen Werts von Schrotts These ist jedoch etwas anderes, nämlich der poetische Sinn der Ilias. Nach Schrott wurde dieses Epos von Homer verfasst, um der emotionalen Verunsicherung der griechischen Kolonisten des 7. Jahrhunderts das Modell eines funktionierenden Staatswesens, nämlich Assyriens, entgegenzusetzen; es sei über diesen politischen Aspekt hinaus als historisches und geographisches Werk konzipiert. Hier ist die Homerphilologie der letzten 2500 Jahre zu anderen Ergebnissen gelangt, und zwar zu Ergebnissen, die sich stringent mit dem Homertext als ganzem und nicht nur mit selektiven Einzelaspekten zur Deckung bringen lassen. Die Ilias ist das monumentale Gedicht vom Zorn eines Mannes (Achilleus), eines Mannes, dem Unrecht getan wird, indem man ihm seine Ehre nimmt, und der dann in seinen Rachegefühlen so sehr über das Ziel hinausgeht, dass er durch seine Verweigerung seine Mitkämpfer auf höchste gefährdet und sogar seinen besten Freund in den Tod schickt. Es ist ein Gedicht, das enormes Einfühlungsvermögen in die menschliche Psyche verrät. Dabei spielt sich dieses menschliche Drama nicht als Affäre ab, die einige wenige betrifft, vielmehr sind die Charaktere in ein gewaltiges Ringen um das Überleben einer Stadt und seiner Bewohner eingebunden. Das führt dazu, dass die psychische Disposition der Anführer konkrete Auswirkungen für jeden einzelnen hat, der an diesem Ringen beteiligt ist. So hat schon Horaz die Botschaft der Ilias gesehen: quidquid delirant reges, plectuntur Achivi – worüber auch immer die Könige streiten, die Achaier müssen es büßen. Anhand der in der Ilias geschaffenen Charaktere wie etwa des Achilleus und seines Widersachers Agamemnon kann man auch verstehen, warum die Epen Homers dem Aristoteles als Eines und Ganzes erschienen sind und warum der große Tragiker Aischylos eingestand, dass seine Tragödien Schnitten vom großen Mahle Homers seien.
Natürlich bestreitet heute auch in der Gräzistik niemand mehr den bedeutenden Einfluss des alten Orients auf die Entwicklung der griechischen Kultur, aber in ihrem Kern zielt gerade Homers Ilias gegenüber den Palastkulturen des alten Orients auf etwas Neues: Trotz des heroischen Umfelds agieren hier Menschen, keine Übermenschen. Während Gilgamesch, die prominenteste Figur altorientalischer Heldendichtung, sich in seinem Kampf um Unsterblichkeit außerhalb menschlicher Dimensionen bewegt und gegen Monster wie Chumbaba oder den Himmelsstier kämpft, verlässt die Ilias dort, wo sie menschliches Handeln beschreibt, die ausschließlich menschliche Dimensionen nur in extrem wenigen Szenen. Im Menschlichen liegt ihr Sinn, und den hat Schrott in seiner offenkundigen historisch-geographischen Entdeckerfreude nicht mehr gesehen.
Als Ergebnis bleibt: ein wissenschaftlicher Beweis für die Entstehung der Ilias in Kilikien ist von Schrott nicht geführt worden; man sollte sein Buch als fiktionalen Text lesen. Festzuhalten ist aber auch: Für die poetische Bedeutung der Ilias als ein literarisches Werk von Weltgeltung ist die genaue Lokalisierung ihres Entstehungsbereichs ohnehin belanglos.
1. E. Siegmann, Homer. Vorlesungen über die Odyssee, Würzburg 1987
2. U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 2000 (= 31990)
3. A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer, Stuttgart 1990 (SB AkadMainz 1990/5)
1: E. Siegmann, Vorlesungen zur Odyssee
Ernst Siegmann, der 1981 verstorbene frühere Gräzist an der Universität Würzburg, hat in seinen Vorlesungen einen ganz eigenen Stil gehabt, seinen Studenten die literarischen Kunstwerke der Antike vorzustellen(22). Besonders deutlich ist dieser Stil in seiner Odysseevorlesung hervorgetreten, die in diesem Buch abgedruckt ist. In dieser Vorlesung legte Siegmann keinen Überblick zu den Inhalten von Ilias und Odyssee oder zu bestimmten Einzelfragen, schon gar nicht zu den Realien, vor, sondern er ging von drei Publikationen zur Odyssee aus, die beanspruchten, die angeblichen Brüche und Unstimmigkeiten innerhalb dieses Epos deutlich gemacht zu haben(23), und diskutierte diese angeblichen Anstöße sehr sorgfältig. Siegmanns Ergebnisse waren, dass die analytischen Homerinterpreten einfach nicht genau genug hingesehen hatten, um festzustellen, dass diese Brüche bei geduldiger und einfühlsamer Interpretation gar keine mehr waren, sondern im Gegenteil eine hohe poetische Meisterschaft verrieten.
Grundsätzlich befasst sich Siegmann in diesem Buch mit der Frage, ob in der uns heute vorliegenden Odyssee zwei verschiedene Odysseus-Epen mit unterschiedlichem Handlungsverlauf „zusammengeflickt waren“, nämlich eine Variante, in der Penelope nicht aktiv an der Rache gegenüber den Freiern beteiligt ist (so der uns vorliegende Text) und eine andere, in der Penelope zusammen mit Odysseus das Ende der Freier herbeiführt. Diese These wurde sehr dezidiert in Merkelbachs 'Untersuchungen zur Odyssee' vertreten, und von eben dieser These aus beginnt Siegmann seine Argumentation. Auf den ersten Blick mochten einzelne Punkte für Merkelbachs These sprechen, Siegmann demonstriert jedoch anhand mehrerer Szenen (vor allem aus dem 1. und 19. Buch) schlagend, warum Penelopes Verhalten in der Odyssee vollkommen stimmig ist und die Annahme poetischer Flickschusterei interpretatorisch viel zu kurz greift.
Immer wieder zeigt Siegmann in diesem Buch, wie genau und wie fein der Dichter der Odyssee Situationen und Charaktere darstellen kann; mit dieser Art der Argumentation wird daher auch die schwierige Frage beantwortet, was gute Dichtung denn eigentlich ausmacht: eben diese Genauigkeit, Feinheit und innere Kohärenz der Charaktere. So kann hierdurch Schülerinnen und Schülern die Qualität von Literatur vor Augen geführt und die Meisterschaft des Dichters Homer gezeigt werden. Es gibt zwar – wie in einer Vorlesungspublikation nicht anders zu erwarten – geringfügige Redundanzen, aber die Sprache ist ausgesprochen klar und erfreulich unprätentiös und die Argumentation zwingend. Mit diesem Buch kann Lehrern und Schülern sehr klar gezeigt werden, warum es sich lohnt, Homer zu lesen.
2: U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman
Dieses Werk dürfte auch vielen Griechischlehrkräften bereits bekannt sein; zumindest weist die Tatsache, dass Hölschers Buch seit dem Erscheinen im Jahr 1988 mehrfach wiederaufgelegt worden ist, darauf hin. Wenn man aber nach umfassenderen Arbeiten zur poetischen Qualität Homers sucht, sollte dieses Buch dennoch nicht unerwähnt bleiben. Hölscher nimmt sich hier, um das poetische Profil der Odyssee – und allgemeiner: das poetische Profil des Epos – herauszuarbeiten, die Strukturen von Märchen als Ausgangspunkte der Handlung (Grundmotiv der Odyssee: „Es war einmal ein König, der zog in ein fernes Land. Er hatte viele Abenteuer zu überstehen, bis er schließlich in seine Heimat und zu seiner Familie zurückkehrte.“). Es ist in Hölschers Darstellung immer wieder faszinierend zu sehen, was der Odysseedichter aus diesen einfachen und letztlich auch wenig individuellen Strukturen gemacht hat, worin sich also eine märchentypische einfache Geschichte von einem Epos mit der Komplexität der Odyssee unterscheidet.
Hölschers interpretatorische Beobachtungen zur Odyssee sind so vielfältig, dass sie hier nicht zusammengefasst werden können: Er analysiert die Irrfahrten ebenso wie die ländliche Szenerie bei Eumaios oder die Funktion der Träume. Es wird an allen Stellen dieses Buches deutlich, dass die Odyssee ein außergewöhnliches Kunstwerk ist, das seine Anfänge in märchenhaften Erzählmustern weit hinter sich gelassen hat.
Für die Schülerinnen und Schülern bietet dieses Buch auf Grund seiner Sprache sicherlich Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten liegen nicht in einer überbordenden Fachterminologie, sondern in einer Diktion, die in ihrer leisen, vorsichtigen und zugleich poetischen Diktion heute fremd anmutet und die meisten Schülerinnen und Schüler mangels einer heute so gewünschten Plakativität abschrecken dürfte. Wer sich jedoch als Lehrer oder Lehrerin mit der Odyssee befasst, sollte sich mit diesem Buch auseinandersetzen, um zu verstehen, wie dieses Epos zu dem geworden ist, was wir vor uns haben.
3: A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer
Dieses Buch enthält trotz des eher auf Realienkundliches hindeutenden Titels grundlegende Interpretationen der homerischen Epen, allerdings nicht zu einzelnen Episoden oder Personen, sondern zu der Frage, inwieweit die homerischen Menschen über eine Willensfreiheit verfügen, in welchem Maße sie also für ihre Handlungen verantwortlich sind. Diese Frage ist für eine angemessene Deutung von Homers poetischer Vorstellung zentral; denn wenn das Fehlverhalten des Agamemnon, Achilleus oder Hektor von den Göttern veranlasst wurde, muss die Frage nach Schuld und Verantwortung für das in der Ilias beschriebene Leid völlig anders bewertet werden, als wenn die homerischen Charaktere ihr Tun selbst verantworten.
Schmitt geht bei seiner umfangreichen Untersuchung von den Positionen aus, wie sie vor allem seit Bruno Snells wegweisenden Untersuchungen zum homerischen Menschen in der Forschung intensiv diskutiert werden, nämlich (a) von der Frage nach dem Verhältnis von der Freiheit menschlichen Willens und göttlicher Determination, und (b) von der Frage nach der Einheit der Person. Hierbei sehen bekanntlich Snell und mit ihm so prominente Homerforscher wie Hermann Fränkel, Albin Lesky oder Hartmut Erbse den homerischen Menschen als ein von den Göttern (oder auch bestimmten gesellschaftlichen Normen) fremdbestimmtes Wesen, dem eine Mitte der Persönlichkeit, ein Charakter ‚noch‘ fehlt. Im ersten Teil seiner Arbeit versucht Schmitt die Entstehung dieser Sichtweise zu rekonstruieren und kommt über die Anschauungen der Goethezeit, über Kants und Descartes' Philosophie zurück bis zur Stoa; hier ist nach ihm der eigentliche Ansatzpunkt zu suchen, da im Denken der Stoa die aristotelische Kausalität, in der nach Zufall und Notwendigkeit differenziert wird, auf eine immer notwendige Kausalität verengt wird; erst hierdurch wird der Mensch einer εἱμαρμένη, einem fatum unterworfen. Diese Einführung enthält so grundlegende Erkenntnisse auch über die Genese unseres modernen Persönlichkeitsbegriffs, dass sie nicht nur für Altphilologen, sondern für alle, die die Frage nach dem Sein des Menschen stellen, von großer Bedeutung sein dürfte. Auf eine Aufarbeitung im Detail verzichtet Schmitt angesichts der hier gewählten Themenstellung, verweist aber darauf, diese Aufarbeitung an anderer Stelle zu liefern; einzelne Teile aus dieser Gesamtaufarbeitung (speziell zur Tragödie) sind bereits erschienen.
Im Folgenden werden dann die Homerischen Epen selbst in den Blick genommen. Hier entwickelt Schmitt ein kohärentes Bild von der Persönlichkeit homerischer Menschen, das an dieser Stelle speziell in seinen philologischen und philosophischen Details nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, doch es dürfte bereits in einer kurzen Zusammenfassung der Resultate etwas von den Dimensionen dieser Abhandlung erkennbar werden.
Schmitt vermag für Homer – und weitergehend auch für die attische Tragödie, Platon und Aristoteles – mit bemerkenswerter Klarheit aufzuzeigen, dass im griechischen Denken das Zustandekommen eines Entschlusses zum Handeln generell von einem anderen Aspekt her betrachtet wird, als wir es heute gewöhnlich tun. Von hier aus präsentieren sich dann die Abläufe im Bereich des Wahrnehmens und Entscheidens in einer Weise, die ein bemerkenswertes Gegenbild zur heutigen communis opinio entstehen lässt. Dieses Gegenbild stellt sich wie folgt dar:
(1) Der homerische Mensch handelt nicht gleichsam von den Göttern oder anderen extrasubjektiven Mächten ‚ferngesteuert‘; wo die Götter auf menschliches Handeln einwirken, agieren sie eher als eine Art Impulsverstärker, bedienen sich also einer im Menschen bereits vorhandenen Regung. So muss auch bei einer bösen Tat (wie etwa dem Pfeilschuss des Pandaros im Δ der Ilias, durch den die Troer gegenüber den Achaiern erkennbar ins Unrecht gesetzt werden) dieses menschliche Werkzeug von Athene erst gesucht werden; offensichtlich ist nicht jeder beliebige Troer dazu geeignet. Aus dieser Symbiose heraus ist es dann gut zu verstehen, wenn etwa der kluge Odysseus besonders eng mit Athene, der Göttin der Klugheit, oder die Liebe erweckende Helena mit Aphrodite, der Göttin der Liebe, verbunden ist.
(2) Aus den Texten der Ilias und der Odyssee lässt sich eine konkrete Vorstellung von den geistigen Abläufen rekonstruieren, wie sie sich im Menschen bei einer Entscheidung zum Handeln jeweils vollziehen. In starker Verkürzung lässt sich diese homerische Vorstellung etwa so wiedergeben: Im Menschen existieren als wesentliche Elemente bei einer Entscheidungsfindung die Organe νοῦς und θυμός. Hierbei repräsentiert der νοῦς die Fähigkeit, die einzelnen Wahrnehmungen zur Gesamtdeutung einer Situation zu synthetisieren, wobei in diese Deutung auch noch so etwas wie ein Vorwissen mit einfließen kann. Der νοῦς ist die Fähigkeit, einen Sachverhalt oder eine Situation unter Einbeziehung aller in dieser Situation relevanten Faktoren rational durchdringen zu können. Dem steht der θυμός gegenüber, der den Akt des Berechnens zwar auch ausübt, aber immer nur auf einer von der ἐπιθυμία eingeengten Basis das Element des Voluntativen mit einbringt. Auch der θυμός verfügt über die Fähigkeit des Denkens und Schlussfolgerns, aber er nutzt nicht das gesamte für diese Situation erkennbare Wissen aus, sondern bindet sein Denken an einen vom Menschen besonders gewünschten Aspekt. Damit ist der θυμός ein wunschorientiertes, ein eiferndes Denken, das in Entscheidungssituationen eine Anwendung des νοῦς einschränkt und infolgedessen den Menschen nicht selten in Schwierigkeiten bringt.
Schmitt bleibt aber bei diesen Resultaten nicht stehen, sondern er sieht – und das macht den besonderen Wert dieser Arbeit aus – auch die Weiterungen, die sich aus solchen Auffassungen vom Menschen ergeben, nicht nur für eine Bewertung des antiken Menschenbildes, sondern auch als Kontrast zu unseren modernen Vorstellungen.
Gerade die Vertreter der Alten Sprachen im allgemeinen Bereich sehen sich ja oft genug einer impliziten oder expliziten Kritik gegenüber, in den Texten der Antike sei ein ausgesprochen naives Menschenbild zu beobachten, das gegenüber unseren modernen Erkenntnissen fast lächerlich wirke. Hier kann Schmitts Buch nicht zu überschätzende Möglichkeiten eröffnen, die Antike wieder als ernst zu nehmendes Gegenbild zur Gegenwart fassbar zu machen.
Die Sprache und der argumentative Duktus sind in diesem Buch – wie angesichts der schwierigen Materie wohl unvermeidlich – nicht ganz unkompliziert, so dass man dieses Buch Schülerinnen und Schülern nicht gänzlich ohne Vorbereitung in die Hand geben kann und dann wohl am ehesten in ausgewählten konkret argumentierenden Abschnitten. Für Fachleute (und damit sind nicht nur Gräzisten gemeint, sondern alle, die sich für die Antike interessieren) ist die nicht geringe Mühe einer Lektüre jedoch in höchstem Maße lohnend.
Prof. Dr. Edzard Visser
Basel / Bad Kreuznach
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(1) Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung des am DAV-Bundeskongress 2008 in Göttingen gehaltenen Vortrags.
(2) Diese Technik weicht auf Grund ihrer Wurzeln in der Improvisation so deutlich von der nach Homer verfassten griechischen Dichtung ab, dass sie für die Textdeutung unbedingt zugrunde zu legen ist.
(6) Einige Beispiele zur Materialfülle:
zu A 81: πέσσειν (<*πεκịειν, vgl. lat. coquere), verst. κατα-πέσσειν, Aor. ἔπεψα — durch Wärme weich machen: 1. (zer)kochen 2. metaph.: verdauen; Frdw. Dyspepsie = Verdauungsstörung
zu A 98: ἡ κούρη < *κορFη = att. ἡ κόρη (R 3b) – Mädchen, Tochter; vgl. Koren-Halle am Erechtheion auf der Akropolis, an der das Gebälk von sechs Mädchenstatuen getragen wird
zu A 498: εὐρύ-οπα (St. Fεπ- rufen, vgl. το; ἔπος, oder St. ὀπ-, vgl. ἡ ὄψις; zur Bildung vgl. 508 μητίετα, 511 νεφεληγερέτα und R 18), Nom., Akk. und Vok. - weithin donnernd oder weithin schauend, Beiwort des Zeus.
(7) Durch ihr 1988 erschienenes Buch 'Narrators and Focalizers', in dem die theoretischen Grundlagen dieser Interpretationsmethode ausführlich dargelegt sind.
(8) Von de Jong im einleitenden Glossar so erklärt: Charakter-Sprache: Wörter, die üblicherweise von den Charakteren, d.h. die hauptsächlich oder ausschließlich in Reden und eingebetteter Fokalisierung vorkommen.
(9) Diese Bezeichnung ‚Neoanalyse‘ ist insofern irreführend, als diese Forschungsrichtung methodisch völlig anders verfährt als die Homeranalyse des 19. Jahrhunderts, ja sogar einen unitarischen Ansatz vertritt. Die Neoanalyse fragt vor allem bei der Ilias nach den Motivquellen und hat zeigen können, dass die Ilias als eine Neukomposition traditioneller Motive, ausgerichtet auf den Konflikt Achill ‒ Agamemnon, darstellt. So ist etwa der Tod des Patroklos vor dem Skäischen Tor eine Umarbeitung des ursprünglichen Motivs ‚Tod des Achill vor dem Skäischen Tor‘. Zusammenfassend zur Neoanalyse zuletzt W. Kullmann, Homerische Motive. Beiträge zur Entstehung, Eigenart und Wirkung von Ilias und Odyssee, Stuttgart 1992.
(10) Die heute immer öfter vorgeschlagene Spätdatierung der Ilias hat ihren Ausgangspunkt in dem Aufsatz von W. Burkert, Das hunderttorige Theben und die Datierung der Ilias, in: Wiener Studien 89, 1976, 5–21. Burkerts These basiert darauf, dass das im neunten Buch der Ilias als besonders reich beschriebene ägyptischen Theben erst in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts diesen Ruf gehabt haben kann. Diese Annahme wird von der Ägyptologie als keineswegs zwingend betrachtet; s. dazu H. J. Thissen, Ägyptologische Randbemerkungen, in: Rheinisches Museum 145, 2002, 46-54 (Der Name ‚Theben‘ der ägyptischen Stadt). Demgegenüber spricht vor allem im sprachgeschichtlichen Bereich so vieles für eine Datierung ins 8. Jahrhundert, dass es sich empfiehlt, an ihr festzuhalten.
(11) Hier bietet die philologisch-archäologische Forschung auch andere Schlussfolgerungen an, wie dem Forschungsbericht zu den sog. dunklen Jahrhunderten von P. Blome in dem Band ‚200 Jahre Homerforschung‘ (s. oben unter 4 B) zu entnehmen ist.
(12) A. Lesky, Homeros, in: RE Suppl. 11, 1967; A. Heubeck, Die homerische Frage, Darmstadt 1974.
(13) Besonders deutlich formuliert wurde diese Distanz von Karl Reinhardt in der Einleitung zu seinem Buch ‚Die Ilias und ihr Dichter‘ (Göttingen 1961, herausgegeben von seinem Schüler Uvo Hölscher), wo er zu der Annahme, die homerischen Epen seien aus traditionellem, standardisiertem Formelmaterial zusammengesetzt, wie folgt äußert: „Besteht sie zu recht, so wäre diesem Buch besser, daß es nie geschrieben worden wäre.“ Reinhardt sagt also nicht, dass die These von einer starken Prägung der homerischen Gedichte durch die orale Tradition grundsätzlich falsch sei, sondern nur, dass in diesem Falle seine Herangehensweise an den Homertext obsolet wäre.
(14) Hierfür sind ausgewählt: U. von Wilamowitz-Moellendorff, Der Auszug in die Schlacht im B, Die Ilias und Homer, Berlin 1916, 260–272; P. von der Mühll, Die Diapeira im B der Ilias, in: Museum Helveticum 3, 1946, 197–209; W. Kullmann, Die Probe des Achaierheeres, Museum Helveticum 12, 1955, 253-273 und K. Reinhardt, Die Probe; aus: Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, 107-120.
(15) Ausgewählte Aufsätze von E. Schwartz, L. Allione, U. Hölscher, E. Siegmann.
(16) Als Beispiel für die Deutlichkeit, mit der die Analyse das verwarf, was nicht ihren Vorstellungen entsprach, die Bewertung der Peira, der Erprobung des Heeres, im zweiten Iliasbuch durch U. v. Wilamowitz-Moellendorff: „Die Unitarier werden es schon fertig bringen, auch in dieser Abscheulichkeit tiefe ‚homerische‘ Kunst zu entdecken.“ (Die Ilias und Homer, Berlin 1916, S. 308). Zur Frage der Vorgehensweise der Analytiker und Unitarier s. auch die Besprechung des Odyssee-Buches von E. Siegmann unter G 1.
(18) Mit Troia-Mythos ist immer die Ereignisfolge zwischen dem Raub der Helena und der Iliupersis gemeint; die Odysseus-Figur stellt demgegenüber einen eigenen Bereich dar.
(19) Allerdings fehlen bei diesen angeblichen Belegen immer die Seitenzahlen, dass der Leser nicht die Möglichkeit hat zu prüfen, worauf Schrott bei seinem Hinweis genau abzielt.
(20) İlhan Kayan, Die troianische Landschaft, in: Begleitband zur Ausstellung „Troia ‒ Traum und Wirklichkeit“, Stuttgart 2001, 309-314.
(21) C. M. Bowra, Heroic Poetry, London 21961 in deutscher Übersetzung: Heldendichtung, Stuttgart 1964.
(22) Vgl. dazu den Nachruf seines Schülers J. Latacz in: Gnomon 55, 1983, 280-284.
(23) Diese Publikationen sind: A. Kirchhoff, Die homerische Odyssee Berlin 21879; U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Die Heimkehr des Odysseus, Berlin 1927; R. Merkelbach, Untersuchungen zur Odyssee, München 1951 (= Zetemata 2).