|
Will man die Bedeutung des Lateinischen in der Romanistik behandeln, so gilt es zunächst einmal zu differenzieren:
Die deutschsprachige Romanistik ist ein extrem komplexes akademisches Fach – oder eigentlich besser: ein Fächerverbund. Sie vereint die verschiedenen Einzelsprachenphilologien der romanischen Sprachen (z.B. Französistik, Hispanistik, Italianistik etc.), unterteilt sich aber zusätzlich in die Bereiche Sprach-, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaft sowie in Landeskunde, Sprachpraxis und Fachdidaktik. Hinzu kommt eine Vielzahl an Studiengängen, die diese Komponenten in jeweils unterschiedlichen Dosierungen mischen, häufig auch in Kombination mit nicht-romanistischen Fächern.
In Tab.1 ist symbolisch dargestellt, welche Rolle das Lateinische typischerweise in Forschung und Lehre der verschiedenen Einzeldisziplinen spielt (3 Kreuze: große Rolle; kein Kreuz: keine Rolle) – natürlich gibt es in der Realität gewaltige interindividuelle Unterschiede in Abhängigkeit von den Lateinkenntnissen und den Fachinteressen der tätigen Personen.
|
Franz. |
Span. |
Ital. |
Port. |
Rum. |
Katal. |
Okz. |
Rätor. |
Sard. |
Sprachwiss. |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
xxx |
Literaturwiss. |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
Medienwiss. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Kulturwiss. |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
Fachdidaktik |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
Landeskunde |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Sprachpraxis |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
x |
Tab.1: Bedeutung des Lateinischen in den Einzeldisziplinen der deutschsprachigen Romanistik
Zunächst fällt auf, dass es keine Affinität zwischen bestimmten Einzelphilologien und der Bedeutung des Lateinischen gibt. Dies gilt, obwohl sich zwei Sprachen in Grammatik und Wortschatz so weit vom Latein weg entwickelt haben, dass man von der Romania Discontinua spricht. Gemeint sind Französisch und Rumänisch. Im Französischen liegt diese Entwicklung am starken germanischen Einfluss ab der Völkerwanderung, im Rumänischen am slawischen Einfluss.
Gerade die Philologien dieser beiden Sprachen betonen aber gerne den Zusammenhang mit dem Lateinischen. Dies hat auch politische Gründe: Im 20.Jh. war weder Frankreich stolz auf seine Sprachverwandtschaft mit dem Deutschen, noch Rumänien auf die seine mit dem Russischen.
Wichtiger für die Bedeutung des Lateinischen in der Romanistik sind also die Fachdisziplinen: Hierzu ist zu sagen, dass in der romanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft das Lateinische eigentlich „nur“ als Text- und Kulturlieferant von Bedeutung ist. In diesem Beitrag soll aber der sprachliche Aspekt im Vordergrund stehen. Und dieser spielt aus romanistischer Sicht eigentlich nur in der Sprachwissenschaft, in der Fremdsprachendidaktik und im konkreten sprachpraktischen Unterricht eine Rolle (sog. „Latinumskurse“).
Dieser Artikel gliedert sich daher in die folgenden Abschnitte:
2. Das Lateinische aus Sicht der Romanischen Philologie als Gesamtdisziplin
3. Latein aus Sicht der romanistischen Sprachwissenschaft
4. Latein aus Sicht der romanist. Fremdsprachendidaktik / Sprachlehrforschung
5. Romanisten und universitäre Latinumskurse
6. Fazit
2.1 Frühphase der Romanischen Philologie (1836-1916):
Die Begründung der Romanischen Sprachwissenschaft wird mit dem Erscheinen der Grammatik der romanischen Sprachen von Friedrich Diez angesetzt (1836: Band I). Diez wandte hier als erster auf die romanischen Sprachen eine Beschreibungsmethode an, die sich an Gesetzmäßigkeiten der Lautentwicklung orientierte.
Die Art der Beschreibung stand klar in der Tradition der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die Franz Bopp 20 Jahre zuvor (1816: Ueber das Conjugationssystem der Sanscritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache) begründet und die Jacob Grimm schon 1819 auf die germanischen Sprachen angewandt hatte (Deutsche Grammatik). Da Diez auch der erste war, der als Gegenstand die Gesamtheit der modernen romanischen Sprachen wissenschaftlich ins Auge gefasst hatte, gilt er zugleich als der Vater der gesamten Romanischen Philologie (Gauger et al. 1981:14ff.).
Der literaturwissenschaftliche Zweig wurde zwar schon früher angestoßen, befasste sich aber nur mit einem kleinen Ausschnitt aus den romanischen Sprachen, nämlich vorwiegend dem Provenzalischen: François Raynouard, Choix des poésies originales des Troubadours (1816-1821). Auch Raynouard hat aber in seinem mehrbändigen Choix einen Band zur Grammaire comparée des langues de l’Europe latine verfasst.
Wir können also festhalten, dass in der Frühphase der Romanischen Philologie, die immerhin ca. 100 Jahre dauerte, das Interesse rein historisch-vergleichender Natur war, und dass es noch keine scharfe Trennung der beiden Ursprungsdisziplinen Sprach- und Literaturwissenschaft gab.
Entsprechend deckten die Lehrstühle für Romanische Philologie im 19.Jh. immer zugleich die Sprach- und die Literaturwissenschaft ab (Gauger et al. 1981:28). Man interessierte sich vorwiegend für die Entstehung der romanischen Sprachen und Literaturen, also die Phase der Ablösung vom Lateinischen.
Die Bedeutung des Lateinischen ergibt sich hieraus: Die Qualität eines Romanisten in jener Epoche hing ganz unmittelbar davon ab, wie gut seine Lateinkompetenzen waren. Dies war aber unproblematisch, weil die Studierenden der Romanistik ihre Lateinkenntnisse (und zwar meist Latein I) überwiegend schon aus den Gymnasien mit an die Universität brachten. Wer in dieser Epoche eine Aversion gegen Latein hatte, wurde nicht Romanist.
2.2 Mittlere Phase (1916 - ca. 1985):
Mit der Begründung der modernen Sprachwissenschaft, ausgelöst durch den Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure (1916), ändert sich die Situation:
Zunächst einmal fallen die Disziplinen der romanischen Sprach- und Literaturwissenschaft faktisch endgültig auseinander. Man unterscheidet also in der Denomination der Professuren Stellen für Romanische Sprachwissenschaft von denen für Literaturwissenschaft – auch wenn dies in der Bezeichnung der Venia noch nicht deutlich wird: Man habilitiert sich nach wie vor in „Romanischer Philologie“. Der sprachliche Zuständigkeitsbereich hingegen umfasst überwiegend den ganzen romanischen Sprachraum, auch die Lehrveranstaltungen unterscheiden selten zwischen den einzelnen Sprachen.
Die Sprachwissenschaft legt nun den Fokus auf die gesprochene Sprache der Gegenwart (Synchronie vor Diachronie) und den Systemcharakter von Sprache. Man betreibt zwar noch historische Sprachwissenschaft, sie wird aber zunehmend die Sache von Spezialisten.
In der Literaturwissenschaft verlagert sich das zentrale Interesse klar weg von frühen romanischen Epen und Troubadourlyrik hin zu den Dramatikern des 17.Jahrhunderts (in Spanien und Italien auch schon frühere Texte) und den Erzählern des 19.Jahrhunderts.
Dieser Zustand kennzeichnet auch das 20.Jh., bis etwa in die 1980er Jahre hinein. Für das Lateinische bedeutet dies, dass es zwar allenthalben als Einstiegsvoraussetzung für ein romanistisches Studium akzeptiert wird, aber im Studium selbst eine immer kleinere Rolle spielt. Immerhin bildet es aber den kleinsten romanischen Nenner in gemeinromanischen Lehrveranstaltungen, die durchweg auf deutsch abgehalten werden. Wer den portugiesischen oder katalanischen Beispielen nicht folgen kann, versteht wenigstens die lateinischen Etyma dazu. Latein bildet also – neben dem dominanten Französisch – den Grundstock des Faches.
Von daher ist in dieser Phase auch unstrittig, dass das Lateinische, wenn es zu Studienbeginn nicht vorliegt – und das wird immer öfter der Fall – als notwendiges Übel in Latinumskursen nachgeholt werden muss. Geliebt wird es nur noch von Sprachhistorikern.
2.3 Aktuelle Phase (ab ca. 1985):
a) Die Baby-Boomer
Der Ausbau der Universitäten in den 1970er Jahren und die durch die geburtenstarken Jahrgänge entstandene Studierendenschwemme in den 1980er Jahren führten zu einer Ausdifferenzierung romanistischer Disziplinen. Daneben brachte die Konzentration auf die Lehramtsstudiengänge es mit sich, dass das Interesse von Studierenden und Lehrenden zunehmend romanischen Einzelsprachen wie dem Französischen, dem Spanischen oder dem Italienischen galt. Die romanischen Kleinsprachen wie Okzitanisch, Sardisch und Rätoromanisch verschwanden aus dem Blickfeld.
Entsprechend spezialisierte man sich auch im wissenschaftlichen Personal auf immer weniger Sprachen und vernachlässigte den gesamtromanischen Aspekt. Das Französische verlor dabei allmählich seine Dominanz und seine Wirkung als gemeinschaftsstiftende Sprache der Romanisten. Mit dieser Entwicklung passt sich übrigens die deutschsprachige Romanistik an das Ausland an: Dort konnte sich nämlich eine breit aufgestellte vergleichende Romanistik niemals etablieren. Stattdessen pflegt man, gerade auch in den romanischsprachigen Ländern, Einzelsprachenphilologien wie Französisch, Spanisch oder Italienisch.
Auch die Fachverbände differenzieren sich in Deutschland entsprechend aus. Genügte es noch bis in die 1980er Jahre hinein, als Romanist dem Deutschen Romanistenverband anzugehören, so gibt es neben diesem Verband nun auch rivalisierende Verbände der Frankoromanisten, Hispanisten, Italianisten, Lusitanisten, Katalanisten, Okzitanisten und Balkanromanisten. Die Ausdifferenzierung betrifft in besonderer Weise die Literaturwissenschaft, weil dort die Spezialisierung auf bestimmte Kulturen noch weiter vorangetrieben wurde (es gibt z.B. Professuren für ausschließlich lateinamerikanische Literatur). In der Sprachwissenschaft hingegen findet man eher ein gleichzeitiges Interesse an mehreren romanischen Sprachen.
Eigentlich hätte das Lateinische von dieser Entwicklung profitieren müssen, denn es stellt ja nun in der Romanistik den letzten gemeinsamen Nenner dar. Dem steht aber entgegen, dass
- die Literaturwissenschaft sich heute kaum noch für die frühen Epochen romanischer Literatur interessiert.
- die Sprachwissenschaft verschiedene Unterdisziplinen ausgebildet hat, bei denen das sprachhistorische Interesse von untergeordneter Bedeutung ist (Soziolinguistik, Textlinguistik, Psycholinguistik, Kognitive Linguistik, Neurolinguistik, Angewandte Linguistik etc.); gleichzeitig schlagen diese sog. „Bindestrich-Linguistiken“ Brücken in andere Fächer, so dass die romanistische Sprachwissenschaft sich verstärkt zur allgemeinen Sprachwissenschaft hin öffnet.
- mit der Medien- und Kulturwissenschaft neue romanistische Disziplinen entstanden sind, die nichts mit der lateinischen Sprache zu tun haben.
- parallel zu den bestehenden Magister- und Lehramtsstudiengängen zunehmend auch romanistische Diplomstudiengänge aufgelegt wurden, in denen an die Stelle von historischen Fachinhalten wirtschaftliche, mediale oder kulturelle Lehrinhalte verankert wurden (vgl. Kulturwirt in Passau oder Diplomromanist und Diplomkaufmann mit interkulturellem Schwerpunkt in Mannheim).
- die zunehmend gestärkte Fremdsprachendidaktik (sichtbar in den zusätzlich gegründeten Fachverbänden für Französisch-, Spanisch- und Italienischlehrer) das Lateinische als Konkurrent für die eigenen romanischen Schulfächer empfindet und daher eher gegen als für das Lateinische arbeitet.
- immer weniger Schüler mit Lateinkenntnissen an die Universität kommen – dafür aber mit Spanisch- oder Italienischkenntnissen.
b) Der Bologna-Prozess:
Verstärkt werden diese Tendenzen zur Parzellierung und Enthistorisierung noch durch die 1999 beschlossene Vereinheitlichung des europäischen Hochschulsystems, den sog. „Bologna-Prozess“: Die neu beschlossenen romanistischen Bachelor-Studiengänge wurden nicht nur kürzer (d.h. 6 anstelle von bisher üblichen 10 Semestern), sondern auch berufsorientierter – was immer das heißen mag. Als Pflichtmodule wurden social skills eingeführt (also berufsqualifizierende Elemente wie Präsentationstechniken). Um entsprechend Platz in den Studienplänen zu schaffen, reduzierte man v.a. die historischen Elemente. Außerdem versah man die Studiengänge mit klingenden Namen und Nebenfächern, um sich auf dem neuen Markt zu behaupten: vgl. BA Kultur und Wirtschaft bzw. Kultur und Gesellschaft in Mannheim oder Frankomedia und Iberocultura in Freiburg.
Die analogen Master-Studiengänge verstehen sich meistens eher interdisziplinär (vgl. in Mannheim: Sprache und Kommunikation und Kultur im Prozess der Moderne: Literatur und Medien) und bieten damit noch weniger Gelegenheit als die BA-Studiengänge, auf die traditionellen historischen romanistischen Fachinhalte einzugehen.
Aktuell haben wir also eine Vielfalt romanistischer Fachdisziplinen, Fachverbände und Studiengänge, angesichts derer man nur neidisch in die Klassische Philologie blicken kann, wo Gräzisten und Latinisten von Universität und Schule in einem einzigen Fachverband kooperieren.
Was heißt dies nun für die Bedeutung des Lateinischen in der aktuellen romanistischen Fächerlandschaft?
Latein als Sprache ist nur noch für die romanistischen Sprachwissenschaftler interessant, und auch hier nur für diejenigen, die sich für die Entwicklung der romanischen Sprachen interessieren. Wenn es noch jemanden gibt, der am Latinum als Eingangsvoraussetzung für romanistische Studiengänge festhält, dann sind dies also zumeist die Linguisten. Für Literatur- und Kulturwissenschaftler wären Grundkenntnisse in der griechisch-römischen Mythologie deutlich wichtiger als ein auf Cicero-Übersetzungskompetenz ausgerichtetes Latinum.
Leider versteht sich die Klassische Philologie in Deutschland überwiegend als Literaturwissenschaft. Damit reduzieren sich die Schnittstellen für die romanistische Sprachwissenschaft auf die bloßen sprachpraktischen Kenntnisse, die im Rahmen der Klassischen Philologie vermittelt werden. Die Sprachwissenschaftler haben es aber zunehmend schwerer, die Bedeutung dieser Kenntnisse für die Gesamtdisziplin deutlich zu machen.
Außerdem muss man die Hochschullandschaft spätestens seit Einführung der Studiengebühren auch als Markt und Studiengänge als Produkte verstehen, die auf diesem Markt eine Nachfrage finden müssen. Bei der Entwicklung dieser Produkte werden daher Elemente vermieden, die Kunden abschrecken, und umgekehrt diejenigen Elemente betont, von denen man sicher ist, dass sie als Anreiz wirken. Solche Anreize sind derzeit alle Elemente, die mit „Medien-“, „Öko-„ oder „Psycho-„ beginnen (es gibt bereits „Ökolinguistik“…), abschreckend hingegen ist für Studienanfänger ohne Lateinkenntnisse alles, was mit „Latein-“ anfängt.
Entsprechend wird das Latinum derzeit deutschlandweit beim Konzipieren neuer Studiengänge als Eingangsvoraussetzung geopfert, um neuen Fachinhalten Platz zu machen. Latein soll also nur noch dort auftauchen, wo es unbedingt sein muss.
Gerade hier aber stellt sich die Frage: Wo ist Latein unverzichtbar? Dass ein romanistischer Sprachwissenschaftler, der eine Universitätskarriere anstrebt, nicht ohne Latein auskommt, ist unbestritten. Schon für Literatur- und Medien-/Kulturwissenschaftler gilt dies aber nicht mehr. Lateinamerikanische Literatur oder französische Romanverfilmungen kann man auch ohne Cicero-Kenntnisse seriös analysieren.
Wenden wir uns den Studierenden zu: Aus fachlicher Sicht muss man sagen, dass ein Romanist, der eine Laufbahn in der Schule anstrebt – und das ist nach wie vor etwa die Hälfte aller Romanistikstudierenden – auf Lateinkenntnisse kaum verzichten kann:
Man stelle sich vor, ein vierzehnjähriger Französischlerner mit Latein I müsste seinen Französischlehrer darüber aufklären, warum man fr. corps mit <ps> schreibt und nicht einfach nur <cor>. Entsprechend steht in den Staatsexamensordnungen des Landes Baden-Württemberg, dass jeder Französisch-, Spanisch- oder Italienischlehrer in der Lage sein muss, seine Sprache in Beziehung zu früheren Sprachstufen und zum Lateinischen zu setzen.
Ginge man nur der Vernunft nach, müsste man also sagen, dass neben den Lehramtsstudiengängen auch alle romanistischen Master-Studiengänge, die ja noch stärker wissenschaftlich orientiert sind, das Latinum voraussetzen müssten. Auf der anderen Seite könnten romanistische BA-Studiengänge, die auf Medien- oder Wirtschaftsberufe abzielen (wie z.B. auch die alten Diplomstudiengänge) auf das Latinum verzichten. Aber nicht alles geht nach Vernunft: Aus den BA-Studiengängen wurde das Latinum herausgestrichen, weil es in einem 6-semestrigen Studiengang zuviel Zeit kosten würde. Man hat es aber aus marktpolitischen Gründen nicht in den Master-Studiengang verlegt: Master-Studierende sind bisher ausgesprochen rar, und die Universitäten kämpfen hier um die besten BA-Absolventen. Ein Fachinstitut, das im Master das Latinum verlangt, würde sich einen riesigen Wettbewerbsnachteil einhandeln. Natürlich gingen die Master-Studierenden dann dorthin, wo kein Latinum verlangt wird – ganz ähnlich wie derzeit Studienanfänger von Baden-Württemberg nach Rheinland-Pfalz abwandern, seit in Baden-Württemberg die Studiengebühren eingeführt worden sind. Also wird – wider besseres Wissen – im romanistischen Master überwiegend auf das Latinum verzichtet.
Ähnliches gilt für die Entwicklung modularisierter Lehramtsstudiengänge: Hier besteht die Tendenz, bereits in den Lehramts-BA soviel Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik zu packen, dass für die Fachwissenschaften wenig Platz bleibt und an ein nachzuholendes Latinum gar nicht mehr zu denken ist. Immerhin scheint man aber in Baden-Württemberg zu einer Kompromisslösung gekommen zu sein, die einiges verspricht: Lateinkurse speziell für Romanisten. Wie diese aussehen könnten, wird in Abschnitt 5 behandelt. Im folgenden Abschnitt soll besprochen werden, in welchen Bereichen der romanistischen Sprachwissenschaft das Lateinische von Bedeutung ist. Diese Frage ist ja von fundamentaler Bedeutung für die Konzeption künftiger propädeutischer Lateinkurse.
Natürlich ist das Lateinische für den historischen Zweig der romanischen Sprachwissenschaft am wichtigsten. Allerdings herrscht heute eine gewisse Einigkeit darüber, dass die wichtigsten Fragen in diesem Bereich bereits beantwortet sind. Vor allem betrifft dies die Laut- und Formenentwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen. Entsprechend hat auch die romanische Sprachwissenschaft heute eher die Tendenz sich Themen zu suchen, die nichts mit dem Lateinischen zu tun haben.
Dennoch gibt es einige Bereiche, in denen auch heute noch die Beschäftigung mit dem Lateinischen aktuell ist. Einige seien hier exemplarisch ausgewählt:
3.1 Vulgärlatein (VL)
Die zentrale Frage, die die romanische Sprachwissenschaft in ihrer frühen und mittleren Phase in Bezug auf das Lateinische bewegte, war diejenige nach dem Ursprung der romanischen Sprachen. In der romantisch geprägten Phase der Sprachwissenschaft bis hinein in die Mitte des 20.Jh. glaubte man ein relativ einheitliches volkstümliches Latein annehmen zu müssen, das mit dem schriftlich tradierten Klassischen Latein koexistierte, aber mit diesem kaum etwas gemeinsam hat, das sog. „Vulgärlatein“. Naturgemäß interessierte diese Volkssprache die Klassischen Philologen in Deutschland wenig, hier verstand man sich ja als Literaturwissenschaftler. Entsprechend wurde das Vulgärlatein fast ausschließlich von Romanisten oder ausländischen Klassischen Philologen rekonstruiert. Ausnahmen wie Johann Baptist Hofmanns Klassiker (1926: Lateinische Umgangssprache; 4.Aufl. 1978) bestätigen die Regel.
Dieses angenommene Vulgärlatein trennte die betroffenen Philologien eher, als dass es sie verband. Man konnte sich ja die Claims in folgender Weise abstecken: Klassisches Latein für die Klassischen Philologen, Spät- und Vulgärlatein für die Romanisten und Mittellatein für die Lateinische Philologie des Mittelalters. Diese Abtrennung ist zwar wissenschaftlich überholt, zeigt aber bis heute negative Folgen: Einige Fachdidaktiker des Französischen bekämpfen nämlich den Lateinunterricht mit dem Argument, dass dort nicht das Vulgär- sondern das Klassische Latein unterrichtet würde, was für den Erwerb romanischer Sprachen keinerlei Vorteil hätte. Wir kommen darauf noch zurück.
Gerade in den letzten zehn Jahren hat aber die Vulgärlateinforschung u.a. durch Arbeiten von Stefenelli (2003) und Poccetti et al. (2005:23) neuen Schub bekommen: Analog zur romanistischen Varietätenlinguistik wird betont, dass mit dem Klassischen und dem Vulgärlatein zwei Varietäten eines Sprachsystems vorliegen, deren gemeinsame Elemente quantitativ die trennenden Elemente übersteigen. Wenn man also an dem zugegebenermaßen sehr praktischen Vulgärlateinbegriff festhalten will, dann muss man Überschneidungen mit dem Klassischen Latein akzeptieren, konkret also unmarkierte Wortformen, die in beiden Registern auftreten können. Die im Vergleich zum Klassischen Latein oft einfacheren Formen des Vulgärlateins lassen sich dadurch erklären, dass viele der Bewohner des Römischen Reiches ihr Latein ungesteuert als Zweitsprache von den Besatzern gelernt haben und dann später selbst, z.B. als Söldner, multiplizierten (vgl. Adams 2003:425ff. u. 725ff., Lüdtke 2005:81f. und Müller-Lancé 2006b:59ff.).
3.2 Orthographie und Relatinisierung
Ähnlich wie im Deutschen gibt es auch in den romanischen Sprachen regelmäßig Diskussionen über mögliche Orthographiereformen. Dabei wird immer wieder vorgeschlagen, die Schreibung der Lautung stärker anzupassen. Besonders akut war dies in den 1990er Jahren in Frankreich. Dies ist insofern kein Zufall, als das Französische unter den romanischen Sprachen zwar von Phonetik, Grammatik und Wortschatz her am wenigsten „lateinisch“ ist, gleichzeitig aber die am stärksten latinisierende Graphie aufweist. Im Französischen klaffen also Lautung und Schreibung in einer Weise auseinander, die in Europa nur noch vom Englischen übertroffen wird. Diese französische Orthographie ist im Wesentlichen ein Produkt der Relatinisierungsmode im 14.-16.Jh., das sich bis heute als leserfreundlich erwiesen hat. Die Orthographie ermöglicht es, die gerade im Französischen häufigen Homonyme wenigstens in der Schreibung zu unterscheiden, vgl. die französische Lautfolge /tã/ mit ihren lateinbasierten Schreibvarianten <temps> TEMPUS, <tend> TENDIT und <tant> TANTUM (Müller-Lancé 2007; zur Relatinisierung Raible 1996).
Solche Orthographien nennt die neuere Schreibforschung auch „tiefe“ Orthographien, während sich „flache“ Orthographien wie die spanische eher an der phonologischen Oberfläche bewegen (Sampson 1985, Meisenburg 1996). Dabei hat sich in Alphabetschriftsystemen als Universale erwiesen, dass die Entwicklungstendenz immer eher in Richtung Leserfreundlichkeit (also tiefe Systeme) und nicht in Richtung Schreiberfreundlichkeit (flache Systeme) geht. Es wird ja in modernen Gesellschaften mehr gelesen als geschrieben (Raible 1991).
3.3 Strata-Theorie
Bis zum Ende des 20. Jh. galt die auf Ascoli und von Wartburg zurückgehende Strata-Theorie als Communis Opinio, wenn es um die Erklärung der Verschiedenheit der romanischen Sprachen ging. Kurz gesagt erklärt diese Theorie in geologischer Metaphorik die Entstehung einer Sprache aus einer Überschichtung von Sprachen, die früher auf diesem Gebiet gesprochen wurden. Dabei wird zwischen sich auflösenden Substraten und Superstraten sowie weiterexistierenden Straten und Adstraten unterschieden. Demnach wäre jede Sprache als Schichtkuchen vergleichbar einer Lasagne zu erklären – bei den romanischen Sprachen würde die zentrale Schicht vom Vulgärlatein gebildet.
Thomas Krefeld hat jedoch 2003 diese Schichten-Vorstellung stark entkräftet, indem er darauf hinwies, dass die Strata-Theorie
- auf einer Rückprojektion moderner Einzelsprachen basiert;
- von idealisierten Sprachgemeinschaften ausgeht;
- den Adstratbegriff bzw. die Phasen der Zweisprachigkeit unterschätzt;
- ‚Strat’ und ‚Sprache’ ohne Berücksichtigung von Abstand und Ausbau
unkritisch gleichsetzt (vgl. Kloss 1978);
- Sprachentstehungsprozesse grob vereinfacht, indem sie z.B. keine Fusion vorsieht, sondern nur Ablösungsphänomene.
Um festzustellen, wie wahrscheinlich es ist, dass es zwischen zwei Idiomen tatsächlich zu Kontakten und Entlehnungsphänomenen in die eine oder andere Richtung gekommen ist, müssen nach Krefeld im Rahmen einer „Migrationslinguistik“ (Krefeld 2004) die folgenden Aspekte intensiv untersucht werden:
- typologische und ‚genetische’ Affinität der in Kontakt tretenden Idiome
- sozialer Status und kommunikativ-pragmatischer Nutzwert der Kontaktidiome
- kulturelle Affinität der in Kontakt geratenen Sprachgemeinschaften.
Die Frage des Ausbaus, der Beherrschung und der Verbreitung des Lateinischen in den verschiedenen Provinzen ist damit erneut in die romanistische Diskussion eingebracht worden.
3.4 Kognitive Linguistik und Sprach(en)bewusstsein
Eine der gegenwärtig fruchtbarsten Disziplinen der allgemeinen Linguistik ist die sog. „Kognitive Linguistik“, die sich mit Fragen der mentalen Verarbeitung sprachlicher Information befasst.
Ein romanistischer Zweig dieser Forschungsrichtung (vgl. Blank 1997 u. 2001, Blank/Koch 1999 u. 2000) untersuchte zuletzt, welche kognitiven Verfahren für den Bedeutungswandel bestimmter Lexeme vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen verantwortlich waren. Es geht also darum, in der romanistischen Fachtradition längst beschriebene Entwicklungsphänomene nun kognitiv zu erklären. Dabei wird von zwei Grundprinzipien der Wahrnehmung ausgegangen, der Similarität und der Kontiguität (vgl. Raible 1981) – d.h. bei der Wahrnehmung eines Phänomens wird zunächst abgeprüft, ob Ähnlichkeiten (Similarität) oder Verwendungsverwandtschaften (Kontiguität) zu bekannten Phänomenen bestehen. Bei der Similarität können die Konzepte aus unterschiedlichen Gegenstandsbereichen (frames) stammen, bei der Kontiguität entspringen sie demselben Gegenstandsbereich.
Wird nun aufgrund einer Similarität die Bezeichung eines bekannten Phänomens auf ein anderes oder neues Phänomen übertragen, dann spricht man von „Metapher“. Dies war z.B. der Fall, als die Bezeichnung lat. TESTA für ‚Tonkrug’ auf ‚Kopf’ (ursprünglich CAPUT) übertragen wurde (vgl. fr. tête, it. testa), und geschah wahrscheinlich in scherzhafter Absicht, ähnlich wie wir im Deutschen Birne verwenden. Eine Kontiguität lag beispielsweise vor, als man im Vulgärlatein das Lexem IGNIS für ‚Feuer’ durch die Bezeichnung FOCUS (ursprünglich ‚Feuerstelle’; vgl. sp. fuego, it. fuoco, fr. feu) ersetzte. In diesem Falle spricht man von „Metonymie“.
Diese Phänomene wurden schon früher beschrieben, und auch die Ausdrücke „Metapher“ und „Metonymie“ sind jedem Philologen bekannt – neu aber ist der Ansatz, alle menschliche Wahrnehmung und einen Großteil der Bedeutungsentwicklungen mit diesen Prinzipien zu erklären. Entsprechend werden nun zahlreiche Phänomene von lateinisch-romanischem Wortschatzwandel neu überprüft (vgl. Müller-Lancé 2006b:232ff.).
Ein weiterer Zusammenhang von Latein und Kognition tritt auf einem ganz anders gearteten romanistischen Feld zu Tage: Es geht um das Abprüfen von Sprach(en)bewusstsein in fremdsprachenphilologischen Orientierungstests für Studienbewerber.
Hintergrund ist die Forderung, dass zukünftig mehr und mehr Universitäten ihre Studienanfänger in Zulassungstests auswählen. Bei den Fremdsprachenphilologien sind dies überwiegend sprachpraktische Tests, aber auch der Grad an Sprachreflexion, zu der ein Bewerber in der Lage ist, wird immer häufiger abgetestet. Anhand konkreten Sprachmaterials wird beispielsweise nach syntaktischen Strukturen, Satzgliedern Wortklassen und Wortbildungsmustern gefragt. Man erhofft sich von diesen Tests eine Aussage darüber, wie gut der Bewerber in seinem Studium mit linguistischen Fragestellungen zurecht kommen wird.
Da die Einübung von Sprachreflexion traditionell eine wichtige Rolle im gymnasialen Lateinunterricht spielt (nicht umsonst nennt man im Französischen den Lateinunterricht auch „gymnastique intellectuelle“), haben meiner Erfahrung nach Lateinschüler bei diesen Tests klare Vorteile, obwohl die Tests meist anhand des Deutschen durchgeführt werden, damit man den Einflussfaktor „Fremdsprachenkompetenz“ bei der Auswertung ausschließen kann.
Durch die Verbreitung des auf acht Jahrgangsstufen reduzierten Gymnasiums kommt es in der deutschen Gymnasiallandschaft zunehmend zu Verteilungskämpfen. Da es in Politik und Wirtschaft als ausgemacht gilt, dass in Deutschland kein Philologen-, sondern ein Ingenieursmangel besteht, wird dieser Verteilungskampf vor allem auf dem Rücken der Fremdsprachen ausgetragen. Fairerweise muss man Bildungspolitikern zugestehen, dass es trotzdem kein zweites großes europäisches Land (ich nehme Kleinstaaten wie Luxemburg ausdrücklich aus) gibt, in dem Fremdsprachenunterricht in so vielen Sprachen auf so hohem Niveau erteilt wird. In Großbritannien z.B. kann man neuerdings ganz ohne Fremdsprachen Abitur machen.
Natürlich gilt der Rechtfertigungskampf in Deutschland nicht für das Englische, da dieses anerkanntermaßen auch für Techniker und Wirtschaftsfachleute unentbehrlich ist. Auch Spanisch ist nicht bedroht – im Gegenteil, es profitiert derzeit von einem weltweiten Boom. Ins Visier der Stundentafelstreicher kommen also Sprachen wie Latein, Französisch, Russisch und Italienisch. Italienisch hat nie viele Stunden und Lehrer gehabt, also auch nicht viel zu verlieren. Russisch ist wegen seiner regionalen Bindung an die Neuen Bundesländer ein Sonderfall. Verbleiben für die Alten Bundesländer also als „natürliche Feinde“ Latein und Französisch. Genau genommen müsste man sogar sagen: Latein oder Französisch, denn an vielen Gymnasien ist die Kombination dieser beiden Sprachen im regulären Unterricht gar nicht (mehr) möglich.
Besonders umkämpft ist die Startposition im Zweikampf, d.h. der Unterricht als erste Fremdsprache. Dabei werden von Latein- und Französisch-Befürwortern gerne Argumente ausgetauscht, die weitgehend ideologischen Charakter haben: Altphilologen führen die Werte des abendländischen Bildungsideals vor Augen, Französisten erinnern an die deutsch-französische Freundschaft. Für das Lateinische als frühe Fremdsprache ist jedoch ein anderes Argument viel wichtiger, und zwar deshalb, weil es in unsere Profit-orientierte Zeit passt: Latein soll angeblich dazu beitragen, andere Fremdsprachen leichter zu erlernen. Genau dieses Argument ist in den letzten 10 Jahren vor dem Hintergrund der sog. „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ intensiv untersucht worden, die sich zum Schlüsselbegriff modernen Fremdsprachenunterrichts entwickelt hat. Die Grundidee basiert zum einen darauf, durch eine Konzentration auf Teilkompetenzen wie z.B. das Lesen Zugang zu mehreren Fremdsprachen auf einmal zu erhalten und zum anderen darauf, in Erschließungsprozessen Querverbindungen zwischen diesen Sprachen herzustellen. Die Tendenz führt also in den letzten Jahren von einem rein kommunikationsorientierten Fremdsprachenunterricht wieder hin zu einem Unterricht, der Sprachreflexion ausdrücklich fördert.
Theoretisch müsste dieser Paradigmenwechsel dem Lateinischen nützen – denn gerade hier wird ja die Sprachreflexion wie nirgends sonst geübt, und gerade hier wird seit Jahrzehnten auf die Zusammenhänge mit modernen Fremdsprachen hingewiesen (man denke nur an die Klett-Grundwortschätze der 70er Jahre). Auch in der Gegenwart wird ständig demonstriert, wie man von lateinischer Seite aus den Unterricht lebender Fremdsprachen ergänzen kann – stellvertretend sei das Biberacher Modell zur Kooperation von Latein und Englisch genannt (hierzu Doff/Kipf 2007).
Mehrsprachigkeitsdidaktik ist aber kein Produkt der Klassischen Philologie, sondern eine romanistische Entwicklung, geprägt vor allem von Horst Klein und Til Stegmann mit ihrem Projekt EUROCOMrom und von Franz-Joseph Meißner. Entsprechend führen Klein/Stegmann in ihrem 2000 erschienenen Lehrwerk das Lateinische als Erschließungsquelle für den gleichzeitigen Erwerb von Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Katalanisch und Rumänisch gar nicht systematisch auf. Flankiert werden sie von Franz-Joseph Meißner, dem langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Französischlehrerverbandes, der keine Mühen scheut, nachzuweisen, dass das Lateinische als Transferbasis für den Erwerb romanischer Sprachen völlig überschätzt wird, denn (Meißner 2003:151ff.):
1. im Lateinunterricht werde das falsche Latein gelernt (eben kein Vulgärlatein und auch kein Mittellatein, die beide für die romanischen Sprachen wichtiger seien als das Klassische Latein);
2. im Lateinunterricht liege der Schwerpunkt auf deklarativem und nicht auf prozeduralem Wissen, Erschließung werde also nicht aktiv gefördert;
3. nur Sprachen, die auch aktiv gelernt werden, taugen als lexikalische Transferbasis.
Viel wichtiger seien lexikalische Transfers aus anderen lebenden Fremdsprachen – und deshalb solle Latein erst als 3. oder 4. Fremdsprache gelernt werden (Meißner 2003:154ff.).
Diese Argumente verdienen auf jeden Fall Beachtung und sollen hier überprüft werden:
zu 1.: Zunächst ist zu sagen, dass im modernen Lateinunterricht das Mittellatein und sogar das Neulatein durchaus eine Rolle spielen, beispielsweise als Text- und Wortschatzlieferant in Lehrbüchern. Des weiteren kann angeführt werden, dass die Überschneidungen zwischen Klassischem und Vulgärlatein – wie bereits gesagt – viel größer sind, als bisher vermutet: Nach Stefenellis (1991, 1992) Auszählungen werden von den 1000 häufigsten Wörtern des Klassischen Lateins 290 als Erbwörter im Französischen fortgesetzt (dies wären also „unmarkierte“ lateinische Formen, die auch im Vulgärlatein auftreten konnten). Hinzu kommen weitere 200 Wörter, die als Entlehnungen im Französischen wieder auftauchen und dort hochfrequent sind. Fast die Hälfte des im Lateinunterricht gelernten Wortschatzes kann demnach gewinnbringend für den Erwerb des Französischen eingesetzt werden. Im Spanischen und Italienischen liegen die Verhältnisse sogar noch günstiger (Müller-Lancé 2006b:62).
zu 2.: Auf den Lateinunterricht der 1960er bis 1980er Jahre mag die Einschätzung Meißners zutreffen. Spätestens seit den 1990er Jahren aber ist der zwischensprachliche Transfer zwischen Latein und romanischen Sprachen ein erklärtes – prozedurales – Lernziel, das natürlich sowohl im alt- wie auch im neusprachlichen Unterricht weiter ausgebaut werden könnte (hierzu Müller-Lancé 2006a).
zu 3.: Hier liegt das eigentliche Problem. Meine empirischen Untersuchungen (Müller-Lancé 2006a) bestätigen Meißners Ergebnisse in zwei Punkten:
- | Eine nennenswerte Nutzung des Lateinischen als Transferbasis war nur bei Leseverstehenstests nachweisbar, nicht jedoch bei Hörverstehenstests oder schriftlicher Fremdsprachenproduktion. |
- | Die Nutzung des Lateinischen hing maßgeblich davon ab, ob das Lateinische auch aktiv erlernt worden war: Nur ehemalige Latein-I-Schüler und Lateinstudierende nutzten das Lateinische effektiv für Erschließungen unbekannten Wortschatzes in den Romanischen Sprachen. |
Hier zeigt sich nun ein Dilemma des Lateinunterrichts: Um das Lateinische für den fremdsprachlichen Transfer nutzbar zu machen, müsste man das Lernziel der aktiven Sprachbeherrschung wieder aufnehmen, das man schon vor einigen Jahrzehnten hat fallen lassen. Gleichzeitig würde man damit aber den Lateinunterricht unattraktiv machen – angesichts der verkürzten Stundentafeln entfiele nämlich zwangsläufig alles, was zeitgenössischen Lateinschülern Spaß macht.
Das Dilemma durchbrechen könnte eine Lateindidaktik, die ihren modernen Kurs beibehält, sich aber stärker der Linguistik öffnet. Vor allem sollte man berücksichtigen, dass nach allen Erkenntnissen der Kognitiven Linguistik Wortschatz unterschiedlicher Sprachen im Mentalen Lexikon vernetzt abgespeichert wird, und dass dabei formale Ähnlichkeiten (Similarität!) eine enorme Rolle spielen – formal ähnliche Wörter aus verschiedenen Sprachen werden also leichter miteinander verbunden bzw. assoziiert als formal verschiedene (in der folgenden Grafik durch dickere Verbindungslinien symbolisiert):
Modell der Vernetzung multilingualen Wortschatzes
(Müller-Lancé 2006a:444)
So könnte man im Lateinunterricht z.B. systematisch Wortbildungsverfahren (und entsprechende Texte) in modernen Fachsprachen analysieren und dabei auf die lateinischen Wortbestandteile hinweisen. Kurz: Man darf es nicht mehr dem Zufall (bzw. dem Lehrbuch oder dem vorgegebenen Lektürekanon) überlassen, welcher Wortschatz, oder genauer: welche Wortschatz-Elemente (dazu gehören ja auch Präfixe und Suffixe) von den Schülern erlernt werden. Die produktivsten Elemente der lateinischen und romanischen Wortbildung müssten dann auch aktiv erlernt werden – und zwar immer auch im Hinblick auf das Englische und das Deutsche.
Umgekehrt sollte man bei der Erarbeitung neuen lateinischen Wortschatzes noch systematischer Erschließungstechniken einüben, die auf Kompetenzen moderner Fremdsprachen basieren und dabei z.B. Gesetzmäßigkeiten des Lautwandels vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen bewusst machen.
Latein sollte also offensiv als Säule einer Mehrsprachigkeitsdidaktik vermittelt werden (vgl. Müller-Lancé 2004) – und Klassische Philologen müssen sich auch als Linguisten begreifen (vgl. Müller-Lancé 2001a).
Die lateinische Fachdidaktik ist aus meiner Sicht diejenige Fremdsprachendidaktik, die sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland am meisten – und durchweg zu ihrem Vorteil – gewandelt hat. Wenn heute das Lateinische bei Bildungspolitikern trotzdem einen schweren Stand hat, dann hängt dies möglicherweise mit deren Lernbiographien zusammen. Aversionen gegen das Lateinische könnten z.B. entstanden sein, weil sie ihr Latein noch vor den didaktischen Reformen erworben haben, weil sie als sprachunbegabte Kinder in den Lateinunterricht gesteckt wurden, um eine weitere moderne Fremdsprache zu umschiffen, oder aber weil sie ihr Latinum als Studienvoraussetzung an der Universität nachholen mussten.
Leider bilden diese universitären Latinumskurse seit Jahrzehnten die unrühmliche Ausnahme vom positiven Trend in der lateinischen Fachdidaktik. Ihre Unbeliebtheit gründet sich auf die folgenden Faktoren (Müller-Lancé 2006b:11):
Die Unbeliebtheit der Latinumskurse ist den Seminaren für Klassische Philologie mit Sicherheit ebenso bekannt wie ihre Ursachen. Trotzdem hat sich wenig an der Situation geändert.
Offensichtlich übersieht man in der Klassischen Philologie, dass in diesen Kursen Studierende sitzen, die später einmal an die Schaltstellen der Bildungspolitik geraten und dann über die Zukunft des Lateinischen entscheiden könnten. Man wiegt sich als Monopolist in einer falschen Sicherheit und glaubt – ähnlich wie in einer sozialistischen Planwirtschaft – das Produkt „Latinumskurs“ nicht verbessern zu müssen, weil ja die Kunden zur Abnahme gezwungen sind.
Nun aber, im Zuge des Bologna-Prozesses, erhält man die Quittung für diese fatale oder schlichtweg fehlende Marketingstrategie. Mit Einführung der romanistischen BA-Studiengänge fällt nämlich jetzt eine Lateinbastion nach der anderen, weil das Latinum zunehmend als Übel und nicht mehr als notwendig angesehen wird (s.o.). Glücklicherweise hat sich dies noch nicht bis an die Gymnasien herumgesprochen, denn ansonsten könnte die kleine Latein-Renaissance, die wir derzeit erleben, sehr schnell in sich zusammenbrechen.
Es ist daher an der Zeit, dass die Seminare für Klassische Philologie umdenken und die Latinumskurse als Chance auffassen, für sich zu werben (und nicht mehr als lästige Pflichtübung für Dozenten und Studenten). Dies wäre möglich durch die folgenden, längst überfälligen Maßnahmen – sie alle kosten Geld, sind aber vielerorts durch die Einführung der Studiengebühren möglich geworden:
- Differenzierung von Historiker-, Theologen- und Philologenkursen
- Verkleinerung der Lerngruppen (ergibt sich aus o.g. Trennung)
- Absprache der Lernziele mit den jeweiligen Herkunfts-Instituten der Teilnehmer
- Inspiration durch Methoden des gymnasialen Lateinunterrichts
- didaktische Aus- und Fortbildung der entsprechenden Lehrkräfte
Aus romanistischer Sicht könnte in einem Lateinkurs für Philologen auf das Lernziel der Cicero-Übersetzungskompetenz verzichtet werden. Stattdessen sollte ein solcher Kurs auf die folgenden Ziele hinarbeiten (ein Versuch wurde mit Müller-Lancé 2006b „Latein für Romanisten“ unternommen):
- | Einblick in die diachronischen, diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten des Lateinischen (Vulgärlatein, Mittellatein etc.) |
- | Einblick in die lateinisch-volkssprachliche Diglossie-Situation in der Romania |
- | Einblick in die lateinisch-griechische Diglossie-Situation in Italien und im östlichen Mittelmeer-Raum |
- | Beherrschung der wichtigsten Deklinations- und Konjugationsklassen sowie der Grundprinzipien der Wortbildung |
- | Vermittlung eines an den romanischen Sprachen orientierten und mit diesen vernetzten Grundwortschatzes (vgl. Mader 2005) |
- | Syntax-Analyse auf Basis des dependenzgrammatischen Satzmodells (mit Hilfe von Übersetzungen; vgl. Müller-Lancé 2001b) |
- | Einblick in Gesetzmäßigkeiten des lateinischen Laut- und Formenwandels |
- | Kenntnis vorbildhafter Texte und Autoren (jeweils mit Übersetzungsvergleich) |
- | Grundkenntnisse der griechisch-römischen Mythologie |
- | Einblicke in die Überlieferungsgeschichte antiker Texte |
Was die Sprachkompetenz im Klassischen Latein angeht, so reicht für das Romanistikstudium ein Zielniveau aus, das es den Lernern ermöglicht nachzuvollziehen, worin die wesentlichen Unterschiede zum Vulgärlatein und den romanischen Sprachen bestehen. Ein solcher Kurs, der sich zugleich als philologisch-linguistisches Propädeutikum versteht, wäre dann vielleicht sogar für Studierende interessant, die bereits ein schulisches Latinum mit an die Hochschule bringen.
Sprachwissenschaftlich interessierte Romanisten sind nach wie vor lateinfreundlich gesinnt und dennoch nicht unbedingt fähig oder gewillt, anstelle der Klassischen Philologen selbst Lateinkurse für Romanisten zu veranstalten. Sie stellen also keine Bedrohung für die Klassische Philologie dar. Auf der anderen Seite existieren aber Forschungstrends und Sachzwänge, die dazu führen könnten, dass in einer sich wandelnden Romanistik das Lateinische immer mehr an den Rand gedrängt wird.
Soll das Lateinische als Bestandteil des Romanistikstudiums bewahrt werden, so müssen Lateiner und Romanisten gemeinsam Curricula für Lateinkurse entwickeln, die sich in die Studienpläne von modularisierten Studiengängen integrieren lassen. Gelingt dies nicht, dann wird das Lateinische in der Romanistik womöglich nur noch eine Rolle spielen, wenn es um Spitzfindigkeiten der französischen Orthographie geht. Dies käme einer Wiederbelebung des französischen Dictums gleich: l’orthographe c’est le latin des pauvres.
Prof. Dr. Johannes Müller-Lancé
Romanisches Seminar
Abteilung Sprach- und Medienwissenschaft
L 15,1-6
68131 Mannheim
_____________________
Literaturangaben