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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/1 (2004), 82

Markus Hesse / Wolfgang Hofmann /
Walter Jarecki / Jürgen Leonhardt

Zur Diskussion gestellt:
Entwurf für Standards im Lateinunterricht

Die vom Deutschen Altphilologenverband (DAV) eingesetzte Kommission ‚Latein in der aktuellen Schulpolitik‘ hat sich die Aufgabe gestellt, die Möglichkeiten des derzeitigen Lateinunterrichts in Form eines Standards zu beschreiben. Sie geht von der Tatsache aus, dass nur eine Minderheit von Schülerinnen und Schülern im Fach Latein vertiefenden Unterricht in der gymnasialen Oberstufe erfährt, während die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler lediglich an einem Grundlehrgang teilnimmt, der aus einer Sprachvermittlungsphase und einer begleitenden oder nachfolgenden Lesephase besteht. Daher war es der Kommission wichtig, die Kenntnisse und Fähigkeiten, die bei einem erfolgreichen Besuch dieses Grundlehrganges erarbeitet und entwickelt sein müssen, möglichst standardisiert zu beschreiben. Mit dieser Beschreibung sind zugleich Erwartungen an außerschulische Lateinkurse artikuliert. In der Schule sind nach Einschätzung der Kommission zur Erarbeitung der genannten Standards 20 Jahreswochenstunden verteilt auf fünf Unterrichtsjahre nötig. Die Kommission regt an, durch diese Standards zugleich das Latinum zu definieren.

Im Auftrag des DAV wird dieser Entwurf zur Diskussion gestellt. Die Kommission und der DAV bitten um zahlreiche und vielfältige Stellungnahmen zu Grundaussagen und Einzelheiten. Diese Stellungnahmen können öffentlich sein (in Form von Leserbriefen), aber auch der Kommission direkt zugeleitet werden. Kontaktadresse ist dann:

OStD Dr. Walter Jarecki,
Rosenweg 20,
27283 Verden (Aller);
email: wjarecki@NAVonline.de.

13.4.2004 (Markus Hesse - Dresden/ Hofmann-Worms/ Walter Jarecki - Verden/ Jürgen Leonhardt - Marburg)

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Standards, die mit Vergabe des Latinums zuverlässig erreicht sein sollen

Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, Inhalte, Aussagen und Intentionen lateinischer Texte mit Hilfsmitteln, wozu bei komplexen Texten auch eine Übersetzung gehören kann, am Originaltext erschließend zu verstehen. So ist das eigentliche Ziel des Lehrgangs der selbstständige, verantwortliche Umgang mit lateinischen Originaltexten. Dabei erweist sich die Sprachreflexion als wichtig, für die es eines einheitlichen Sprachbeschreibungsmodelles bedarf. In dieser Frage ist aus pragmatischen Gründen der traditionellen Nomenklatur der Vorzug zu geben.
Die Schülerinnen und Schüler analysieren, wie morphologische, syntaktische und semantische Elemente in lateinischen Sätzen miteinander verflochten sind.
Sie vergleichen diese Erscheinungen der lateinischen Sprache mit denen der ihnen bekannten Fremdsprachen und mit denen des Deutschen und beschreiben Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beim Vergleich vertiefen sie ihren Einblick in die Zusammengehörigkeit der Sprachen und Völker Europas.

1. Wortschatz

Auf der Basis eines gesicherten Grundwortschatzes erweitern die Schülerinnen und Schüler an Hand der Lektüre ihre Vokabelkenntnisse.
Ein Wortschatz von etwa 1600 Wörtern wird als ausreichend angesehen (vgl. einschlägige Wortkunden). Eine Einführung in den Umgang mit dem Wörterbuch (Abgrenzung: situative Bedeutung/ Wortgrundbedeutung) muss erfolgt sein.
Die Schülerinnen und Schüler kennen die Bedeutungsvielfalt lateinischer Wörter. Sie erkennen die Bedeutung der lateinischen Sprache für die Herausbildung wissenschaftlicher Terminologie und machen sich dabei die Kenntnis von Wortstämmen und Bildungsgesetzen (in Auswahl auch des Griechischen) zunutze.

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Einzelbereiche:

Wortbildungslehre
Präfix, Suffix (beides in Auswahl, incl. semantischer Valenz), Simplex, Kompositum, Assimilation

Wortarten
Verb: Vollverb, Hilfsverb; unpersönlicher Ausdruck; transitiv – intransitiv
Nomen: Substantiv, Adjektiv, Partizip, substantivische und adjektivische nd-Form (Gerundium/Gerundiv)
Pronomen: Demonstrativ-, Indefinit-, Interrogativ-, Personal-,
Possessiv-, Relativ- Reflexivpronomen
Zahlwort (Numerale): Grundzahl, Ordnungszahl
Präposition
Konjunktion - Subjunktion
Partikel
Begriffe: Lehnwort- Fremdwort; Synonym - Antonym - Homonym

Europäische Sprachgeschichte
Grundfakten der Ausspracheentwicklung des Lateinischen
Fortleben des Lateinischen in den modernen Sprachen (Fremdwörter)
Beispiele für Lautverschiebungssysteme

2. Basisgrammatik

Bis zum Latinum konzentriert sich die Grammatikvermittlung auf einen Kernbereich der Formen- und Satzlehre. Hier nicht genannte Erscheinungen können entweder in einer auf den Basislehrgang folgenden Lektürephase en passant behandelt werden oder sind einem vertiefenden Oberstufenunterricht vorbehalten. Die Schülerinnen und Schüler besitzen Übung im zielgerichteten Umgang mit einer Grammatik.

Formenlehre

Deklination (Substantive/Adjektive)
        o       Vokativ; Feminina auf -us: Bäume, Städte, Länder, Inseln;

Adjektiv
        a       Maskulina: poeta, incola, agricola; Adjektiv
        kons. kein Regelgenus; Adjektive: dives, pauper, vetus, princeps, particeps;
                 Komparativ der Adjektive
        gem. kein Regelgenus
        i        Neutra auf -ar, -e, -al; turris, Tiberis; ein-, zwei- und dreiendige Adjektive;
                 Deklination des PPA (aber Abl. Sg.: -e)
        e       Mask.: dies (Tag), meridies
        u       nur die auf -us; Fem.: manus, domus
 
                 Steigerung der Adjektive (Ausnahmen: auf -er, facilis, difficilis, magnus,
                 parvus, bonus, malus, multum)

        nd-Formen (auf das Wesentliche beschränken)
                Gerundium: substantivierter Infinitiv
                Gerundivum: attributiv - prädikativ

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Pronomina
        Personal-
        Possessiv-             : reflexiv, nicht-reflexiv
        Interrogativ-
        Relativ-                 : nur qui; relativischer Satzanschluss
        Demonstrativ-       : is, hic, iste, ille, ipse, idem
        Indefinit-               :nur quidam, aliqui(s): nach si, nisi, ne und
                                           num ..., nemo
        Pronominaladjektive: unus, solus, totus, ullus, uter, alter, neuter,
                                        nullus, alius

Adverb (Ausnahmen: bene, facile)

Konjugation (Verb)
        Tempora: Präsens, Perfekt (auch Bildeweisen; evtl. Kurzformen),
        Imperfekt, Plusquamperfekt, Futur I, Futur II (nur kursorisch)
        Tempusaspekt: Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt
        Aktiv, Passiv
Indikativ, Konjunktiv, Imperativ I (von II nur memento, scito)
        Partizipien: PPP, PPA, PFA
        a, e, i, kons., gemischte bzw. kons. mit i‑Erweiterung
        esse, ire, ferre, fieri (jeweils mit Komposita)
prodesse, posse; velle, nolle, malle
        Deponentien

Zahlen
        Cardinalia 1-20, 100, 1000,
        Ordinalia 1-10,
        Multiplicativa 1-4,
        Distributiva: singuli, bini, terni
        Deklination: unus, duo

(in vertiefendem Unterricht nach dem Latinum
weitere Relativpronomina (quicumque, quisquis)
weitere Indefinitpronomina (quisquam, quisque, uterque)
Korrelativa (talis ... qualis, tantus ... quantus, tot ... quot)
weitere Numeralia (Cardinalia, Ordinalia, Multiplicativa)
Verba defectiva (odi, novi, coepi, memini, inquit)
Conjugatio periphrastica activa
Kurzformen des Perfekts
historischer Infinitiv
Imperativ II)

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Satzlehre

Satzteilbestimmung (dabei deutliche Abgrenzung von Wortart und Funktion!):
I. Subjekt, Objekt, Prädikat (incl. Prädikatsnomen, Kopula), Attribut (Adjektiv-, Genitivattribut, Apposition)
II. Adverbiale Bestimmung: Ort/Herkunft/Richtung,
temporal, modal, kausal, konzessiv, konsekutiv, final;
        Prädikativum: nur Hinweis auf Übersetzung eines prädikativen
Substantivs mit „als"
        Erweiterung Kasusfunktion:
        Genitiv: subi., obi. (übrige Bedeutungen: Hilfsmittel)
        Dativ: poss. (übrige Bedeutungen: Hilfsmittel)
        Ablativ: nur die drei Grundbedeutungen, weitere    Bedeutungsdifferenzierungen nur bei präpositionslosem Gebrauch
Einführung in die Moduslehre an Hand der Satzintentionen
        Aussage, Frage, Befehl, Wunsch
        Modi im Hauptsatz: realis, irrealis, potentialis
        Konjunktiv im Nebensatz: Konditional-, Final-, Konsekutivsatz
indirekte bzw. abhängige Frage
Nebensatzarten bzw. Gliedsatzarten
        relativ, konjunktional
Konnektor: Subjunktion (ut, ne, cum), Konjunktion
        bei cum nur grobe Bedeutungsdifferenzierung,
        für Einzelheiten Einübung der Hilfsmittel
        ut/ne + Konjunktiv (Übersetzung mit um ... (nicht) ... zu)
        ut + Indikativ
        ne bei Verben des Fürchtens und Hinderns
Satzwertige Konstruktionen
        aci: Vor-, Gleich-, Nachzeitigkeit; Rolle des Reflexivpronomens;
        abl. abs.: partizipial, nominal; Sinnrichtung, Zeitverhältnis,
Übersetzungsmöglichkeiten
        p.c.: Sinnrichtung, Zeitverhältnis, Übersetzungsmöglichkeiten
In einer Lesephase im Rahmen des Latinumslehrgangs werden unter Verweis auf die Hilfsmittel vorgestellt:
        consecutio temporum
        oratio obliqua
        Modi im Relativsatz
        Supinum

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Übersetzungstechnik
Für sprachkontrastive Übersetzungsprobleme werden Standardlösungen eingeübt.
Beispiele dafür sind:
        nd-Formen mit Präp: Übersetzung mit um ... zu; im Genitiv:
        Übersetzung durch Inf.        mit „zu", mit (non) esse; mit
        Präpositionen: Übersetzung mit Substantiv oder Nebensatz;
        Elativ, quam + Superlativ
        Prohibitiv: noli(te) + Inf. Präs.
        Finalsätze: um (nicht) zu
        Partizipialkonstruktionen

3. Texte

Die Schülerinnen und Schüler sind in der Lage, Originaltexte zu erschließen, zu strukturieren, kursorisch zu lesen und zusammenzufassen, zu übersetzen sowie zu interpretieren.
Sie kennen wesentliche Stilmittel und beschreiben auf Grund der stilistischen und (metrischen) Analyse von Texten (und Versen) den Zusammenhang zwischen formaler Gestaltung und inhaltlicher Aussage.
Sie sind in der Lage, bei der Textarbeit zielgerichtet unterschiedliche Hilfsmittel (u. a. auch deutsche Übersetzungen) zu nutzen und Arbeitsergebnisse übersichtlich zu präsentieren.

Einzelbereiche:

Metrik
prosodische Grundlagen (Quantitäten ), Verslehre: Hexameter, Pentameter, Distichen, evtl. Sapph. Strophe

Stilmittel
Die Schülerinnen und Schüler erkennen bestimmte Stilmittel und können ihre mögliche Funktionalisierung beschreiben: Alliteration, Anapher, Asyndeton, Chiasmus, Hendiadyoin, Hyperbaton, Klimax, Metapher Parallelismus, Trikolon.

Rhetorik
Die Schülerinnen und Schüler kennen wesentliche Einteilungskriterien der Antike (partes orationis/officia oratoris).

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Texte/Kanon
Die Lesephase muss mit fachdidaktisch abgesicherten Beispielen gefüllt werden. Anzustrebende Ziele sind:

1) Erfahrung in der Übersetzung von Texten, die dem sprachlichen Anforderungsprofil entsprechen (beliebige Auswahl aus der gesamten Latinität).
2) Kursorische Lektüre einzelner Abschnitte aus Cicero, Seneca, Ovid, Catull; sowie Einführung in ein Horazgedicht.
3) Literaturgeschichtliche Kenntnisse über die Epochen der gesamten Latinität, namentlich über die oben genannten Autoren sowie zusätzlich über Plautus, Terenz, Vergil, Tacitus und Augustin sowie Erasmus von Rotterdam.
4) Kenntnis der wichtigsten griechischen Autoren ( Plato, Aristoteles, Homer, Aischylos, Sophokles, Euripides, Thukydides) und ihrer Bedeutung sowie der Gattungen Epos, Annalen, Dialog, Tragödie, Komödie, Ode.
5) Auseinandersetzung mit lateinischen Regionaldokumenten (Inschriften, Texte mit regionaler Bedeutung).

4. Antike Kultur und ihr Einfluss auf Europa

Die Schülerinnen und Schüler verfügen über Grundkenntnisse in den Bereichen Politik, Geschichte, Religion und Kunst. Sie kennen den Einfluss der Römer auf die Geschichte und Kultur Europas.

Kenntnisbereiche

Politische Geschichte (in Abstimmung mit dem Geschichtsunterricht):
        Königszeit/Republik
        Kaiserzeit: Prinzipat, Soldatenkaiser
        Cursus honorum
        Scipio/Hannibal
        Catilina
        Cäsar
        Augustus, Nero, Mark Aurel, Konstantin
        Römisches Germanien, Limes
Sozialgeschichte
        Gentilwesen / römische Namen
        Stände (einschl. Klientelwesen)
        Soziale Verhältnisse (einschl. Sklaverei)
        Entwicklung vom Stadtstaat zum Reich
        Formen römischer Herrschaftsausübung
Latein als Kultursprache Europas
        Umfang der nachantiken lateinischen Literatur
        Christliche Latinität
        Latein als Verkehrs- und Gelehrtensprache des gebildeten Europa
        Neulateinische Dichtung
        Latein als Wissenschaftssprache

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Römischer Alltag und Kultur
        Alltagsleben
        Römisches Haus, Amphitheater, Theater
        Thermen, Wasserversorgung, Straßen
        Bautechnik, Militärwesen, Triumph.
        Bedeutung der Rhetorik und ihre Wirkungsgeschichte
        Funktion und Ausprägung antiker Philosophie mit Ausblick auf ihre Wirkungsgeschichte
Religion/Mythologie
        die wichtigsten Götter (griechische und lateinische Namen)
        Mythen an Beispielen der Literatur
Archäologie / Kunst (in Abstimmung mit dem Kunstunterricht)
        Säulenordnungen, Tempel
        griech. Skulptur
        Gefäßtypen

Schlussbemerkung
Zur Erarbeitung des obigen Standards sind 20 Jahreswochenstunden verteilt auf 5 Unterrichtsjahre nötig. Mögliche Formen einer Absicherung des Standards im Rahmen einer Prüfung sind noch zu erörtern. Erkennbar wird, dass die Stellung der Übersetzung im Rahmen der Gesamtanforderungen zu diskutieren sein wird.