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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/3 (2004), 68

Andreas Fritsch

Cäsar oder Erasmus?
Zum Tod von Manfred Fuhrmann

Es gibt nur wenige Hochschullehrer der Klassischen Philologie in der Bundesrepublik Deutschland, die sich so große Verdienste um die wissenschaftliche Begründung und Gestaltung des altsprachlichen, insbesondere des Lateinunterrichts erworben haben wie der Konstanzer Emeritus für Lateinische Philologie Manfred Fuhrmann. Der Dank, den ihm alle schulden, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls um eine zeitgemäße Latinistik und Fachdidaktik bemüht haben, lässt sich nicht in wenigen Zeilen ausdrücken. Insbesondere auch die Altphilologenschaft hat ihm unzählige anregende und originelle Impulse zu verdanken, die er ihr durch Vorträge und Arbeitskreise zu zentralen Themen und eine riesige Anzahl von Publikationen gegeben hat.

Nach der Wende von 1989 gehörte er zu den führenden Helfern beim Wiederaufbau und Ausbau der Altertumswissenschaft in den neuen Bundesländern und im Ostteil der Hauptstadt Berlin. Erinnert sei hier nur stichwortartig an einige seiner vielen, z. T. sehr einflussreichen Schriften: „Das systematische Lehrbuch“ (1960), „Die Antike und ihre Vermittler“ (1969), „Römische Literatur“ (1974), „Alte Sprachen in der Krise?“ (1976), „Brechungen – Studien zur antik-europäischen Bildungstradition“ (1982), „Die antike Rhetorik“ (3. Aufl. 1990), „Cicero und die römische Republik“ (3. Aufl. 1991), „Die Dichtungstheorie der Antike“ (2. Aufl. 1992), „Rom in der Spätantike“ (2. Aufl. 1998), „Seneca und Kaiser Nero“ (1998), „Geschichte der römischen Literatur“ (1999), „Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“ (3. Aufl. 2000). Ein Buch mit dem Titel „Cäsar oder Erasmus? – Die alten Sprachen jetzt und morgen“ stellte 1995, anlässlich seines 70. Geburtstags, einige seiner in der Schul- und Bildungspolitik wirkmächtigsten Aufsätze noch einmal zusammen.

Aber Fuhrmann, 1925 in Detmold geboren, 1953 in Freiburg/Br. promoviert, 1959 habilitiert, seit 1962 Professor in Kiel, ab 1966 in Konstanz, ruhte auch nach seiner Emeritierung (1990) nicht. Er prüfte bis zum letzten Tag, was das Erbe der Antike und seine Rezeption durch die Jahrhunderte bis heute für uns und die Jugend bedeutet. Zeugnis hiervon legt auch sein kleiner Bestseller aus der Reclam-Reihe ab: „Bildung – Europas kulturelle Identität“ (1. Aufl. 2002), der in die Hand jedes Lehrers, jeder Lehrerin gehört. Intensiv, kritisch und konstruktiv setzte sich Fuhrmann auch mit anderen Bildungstheoretikern (z.B. mit Hartmut von Hentig oder dem jüngst verstorbenen Dietrich Schwanitz) auseinander.

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Eine Bibliographie zum Lateinunterricht verzeichnete schon 1994 allein rund fünfzig didaktisch relevante Publikationen von Fuhrmann; dabei war die Didaktik gar nicht sein Hauptarbeitsgebiet, sondern die Fachwissenschaft, insbesondere die Lateinische Philologie und die Literaturwissenschaft. Aber er war von vornherein ein interdisziplinär arbeitender, weit- und umsichtiger Fachwissenschaftler. Seine besondere Liebe galt der Musik (er wäre gern Pianist geworden) und der Rechtswissenschaft (im vorigen Jahr erhielt er hierin von der Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde). Darüber hinaus war Fuhrmann vielfach als Rezensent für verschiedene Fachzeitschriften, aber auch für überregionale Tageszeitungen tätig, vor allem aber als Übersetzer, Herausgeber und Mitherausgeber antiker Texte – er hat u. a. die gegenwärtig führende Übersetzung sämtlicher Cicero-Reden (7 Bände mit Einleitungen und Erläuterungen) geschaffen. Hierfür erhielt er 1990 den Johann-Heinrich-Voss-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Fuhrmann stand stets in enger Verbindung zu den Vertretern der Nachbarwissenschaften. Er war daher ein gern gesehener Gast und Referent auf Tagungen von Germanisten, Historikern und Erziehungswissenschaftlern. Er vertrat das durch Mittelalter, Renaissance, Humanismus, Aufklärung geläuterte und geprüfte Erbe der Antike gegenüber einer allzu stürmischen „Entrümpelung“ von Lehrplänen, die der Jugend den Zugang zu den Quellen, Wurzeln oder Fundamenten unserer europäischen Kultur versperren. Was hier verloren gehen könnte oder auch schon verloren ist, hat er in immer wieder neuen Anläufen, in lebendigen Vorträgen vor Schülern, Studenten, Lehrern und Fachkollegen und in gut lesbaren Büchern bewusst gemacht, so auch in seiner großen Monographie „Latein und Europa – Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II.“ (2001). Er wollte den altsprachlichen Unterricht nicht nur erhalten wissen, sondern umgestalten. Ins Zentrum sollte die neulateinische Literatur treten, z. B. der niederländische Humanist Erasmus von Rotterdam mit seiner „Klage des Friedens“, dem „Lob der Torheit“, den „Vertrauten Gesprächen“, den riesigen Anekdoten- und Sprichwortsammlungen und -erklärungen; oder auch der englische Lordkanzler Thomas Morus mit seiner „Utopia“. Von dort aus sollten sich dann Linien zum Mittelalter und zur Antike (über Augustinus zu Cicero und Platon) einerseits und zur unmittelbaren Gegenwart der Schüler (Menschenrechte, Grundgesetz) andererseits ergeben. Das Schulfach Latein bezeichnete er als „Schlüsselfach der europäischen Tradition“. In lateinischer Sprache haben sich fast alle Völker Europas bis ins 17. Jahrhundert verständigt, Latein war seit etwa 500 n. Chr. zwar niemandes Muttersprache mehr, aber die Zweitsprache aller Gebildeten und die Sprache unzähliger Urkunden und Texte aller Art. Das ist erst durch den erstarkenden Nationalismus nach dem Dreißigjährigen Krieg verloren gegangen. Die Texte des Westfälischen Friedens (1648) waren noch lateinisch abgefasst. Latein wurde gerade in den osteuropäischen Ländern (z.B. Polen und Ungarn) noch bis ins 19. Jahrhundert für politische Texte verwendet.

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Fuhrmann war keineswegs nur „Apologet“ oder Besitzstandswahrer einer führenden Rolle der Altertumswissenschaft und des altsprachlichen Unterrichts. Er galt in den eigenen Reihen zunächst eher fast als „enfant terrible“, weil er die Mauern der Latinistik und Gräzistik aufstieß. Grundsätzlich sollte alles, was in lateinischer Sprache geschrieben ist, ob im Altertum, im Mittelalter oder in der Gegenwart, Gegenstand des Lateinunterrichts und der lateinischen Philologie sein können. Die von der Klassischen Altertumswissenschaft eingeführte Beschränkung auf das „Guckloch Antike“ hat er wissenschaftstheoretisch und praktisch aufgegeben. So gilt er zu Recht als „konservativer Reformator“.

Manfred Fuhrmann war seit 1954 verheiratet. Er hinterlässt seine Frau Eva, eine ebenbürtige Lebenspartnerin, die ebenfalls in der Wissenschaft hervorgetreten ist, u. a. eine Cicero-Biographie des bedeutenden französischen Philologen Pierre Grimal ins Deutsche übertragen hat, die ihn oft auf Kongressen und Vortragsreisen begleitet hat. Am Mittwoch, dem 12. Januar 2005, ist er nach etwa einjährigem längerem Leiden, das ihm das öffentliche Reden erschwerte, im 80. Lebensjahr in seinem Haus in Überlingen (Bodensee) friedlich entschlafen. Das deutsche Geistesleben verliert mit ihm eine einzigartige, vielseitige, dynamische Persönlichkeit.

(Der Autor ist Professor für Lateinische Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Freien Universität Berlin und an der Humboldt-Universität zu Berlin.)

Prof. Andreas Fritsch
Freie Universität Berlin
Fachdidaktik Latein
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
(classics@zedat.fu-berlin.de)