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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift III/2 (2003), 1


Karl Bayer

Bestimmung des Schwierigkeitsgrades von lateinischen Klassenarbeiten


I. Einleitung
II. Grundsätzliche Vorüberlegungen
   1. Textauswahl
   2. Textveränderungen
   3. Text-Zeit-Relation
   4. Berücksichtigung der Normalkonzentration des Schülers
   5. Graphische Gestaltung der Textvorlage
   6. Verwendeter Wortschatz
   7. Eingebaute Syntax
III. Methode F. Maier
IV. Methode K. Bayer
   1. Vorbemerkungen
   2. Theorie
   3. Praxis
V. Anwendungsbeispiele
   1. Kurzbeispiel aus Caesar (Gall. V 55, 1)
   2. Langbeispiel aus Caesar (Gall. I 1, 1-4)

Vortrag vom 2. Juli 2002 am Johannes-Turmair-Gymnasium Straubing

__________________


I. Einleitung

Es wird kaum einen Erwachsenen geben, der Prüfungen wirklich liebt. Wer an dieser Tatsache zweifelt, braucht sich nur an seine Führerscheinprüfung zu erinnern. Warum sollte das bei einem Schüler (das Wort hier und im Folgenden kollektiv für beide Geschlechter gebraucht) nicht auch so sein? Andererseits kommt das Leben nicht ohne Prüfungen aus, und die Schule schon gar nicht. Wenn das schon so ist, muss man in jedem Fall verlan­gen, dass die Prüfung als solche fair ist. Die Fairness wird gern am Ergeb­nis gemessen: Bin ich mit leidlichem Anstand durchgekommen, so spare ich mir das Kritteln und betrachte mich lieber als besonders intelligent; habe ich versagt, so war natürlich die Prüfung unfair, hat sie doch ein verkanntes Genie traumatisiert. Eine solche Sicht der Dinge wäre freilich zu simpel. Es geht ja nicht immer um eine Ja/Nein-Entscheidung, sondern um abge­stufte Urteile, also um Noten und letztlich um Chancen, die einen Lebens­weg öffnen oder versperren

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können. Bei solcher Lage der Dinge müssen an die Fairness des Verfahrens sehr hohe Anforderungen gestellt werden. Es ist also der Veranstalter der Prüfung gefordert. Er arbeitet zwar niemals völlig unkontrolliert, doch ist sein Ermessensspielraum erheblich. Dieser Spielraum wird meistens in der Korrektur, genauer in der Bewertung der korrigierten Arbeit gesehen. Da wird nicht selten der Ausgleich für eine Überforderung, seltener für eine Unterforderung in der Bewertung einzel­ner Fehler oder in der Grenzziehung zwischen Fehlersummen gesucht: Gesamtergebnis 3,96 - da wird kein Fachbetreuer und kein Chef viel bean­standen wollen. Dieses Verfahren mag von Lebensklugheit zeugen, es lie­fert aber doch nur einen Fairness-Ersatz. Wichtiger ist es, sich beim Stel­len einer Prüfungsaufgabe nicht im Schwierigkeitsgrad zu verschätzen. Hier ist Erfahrung gefragt. Woher soll der Anfänger sie haben? Und (jetzt benötigte man im Deutschen ein Wort wie quotusquisque ) welchem er­fahrenen Lehrer wäre es noch nie passiert, dass er sich verschätzte? Er darf hier zu lesen aufhören.


II. Grundsätzliche Vorüberlegungen

Das hier zu behandelnde Problem betrifft also die möglichst zuverlässige Bestimmung des Schwierigkeitsgrades eines Prüfungstextes, in unserem speziellen Fall eines lateinischen Klassenarbeitstextes v.a. der Mittelstufe. Normalerweise liegt vieles in der Hand des Aufga­benerstellers. Er steht dabei v. a. vor folgenden Problemen:

1. Textauswahl

Es ist eine Binsenweisheit, dass ein Prüfungstext von angemessener Schwierigkeit sein soll. Vor Missgriffen schützt man sich am besten da­durch, dass man den in Aussicht genommenen Text, namentlich wenn er nicht zum Routineprogramm gehört, nicht nur in Gedanken übersetzt, sondern schriftlich ausformuliert. Wenn man als Fachmann dabei irgendwo hängenbleibt oder zweifelt, sollte man die Finger von diesem Text lassen. Der ausgewählte Text muss in sich schlüssig sein. Er sollte mit einer Über­schrift, u. U. auch mit einem kurzen Vorspann versehen sein und eine zum Abschluss gebrachte, klar gegliederte Darstellung enthalten, sei es eine Beschreibung, eine Episode oder ein Problem, so dass der Übersetzer auch außertextliche Anhaltspunkte für die Lösung finden kann.

2. Textveränderungen

Wenn es irgend geht, sollte auf Manipulationen des Originaltextes verzichtet werden. Es hat sich gezeigt, dass wohlmeinende Veränderungen sogar zu einer Erschwerung führen können. Offenbar bildet sich im einigermaßen

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sprachbegabten Schüler mit der Zeit völlig unbewusst ein Gespür für den richtigen Ablauf lateinischer Sätze.

3. Text - Zeit - Relation

Hierfür gibt es Erfahrungswerte, die durch die zur Verfügung stehende Prüfungsdauer bestimmt werden. In 45 Minuten, von denen noch einiges für Prä- und Postliminarien verbraucht wird, kann man nicht mehr als rund 100 lateinische Wörter verlangen, soweit nicht der Zeitbedarf für die Beantwortung von Zusatzfragen entsprechende Abstriche verlangt. Je­denfalls schlummert bereits hier die Gefahr der Überforderung.

4. Berücksichtigung der Normalkonzentration des Schülers

Nach den von Friedrich Maier aus der Fachliteratur übernommenen Erkenntnissen verläuft die Konzentration des Prüflings in folgender Weise (1)

Sie steigt bis etwa zum Ende des zweiten Drittels der Arbeitszeit an und sinkt danach stetig ab. Daraus folgt v.a., dass der Einstieg in den Text möglichst einfach sein sollte und dass sich die Schwierigkeiten nicht aus­gerechnet im letzten Drittel der Arbeitszeit häufen sollten.

5. Graphische Gestaltung der Textvorlage

Durch die graphische Gestaltung des Aufgabenblattes kann man dem Übersetzer manche unverdächtige Hilfestellung bieten. Es bietet sich v. a. die Möglichkeit der absatzweisen, der satzweisen und der kolometrischen Gliederung des Schriftsatzes. Im übrigen bedeutet die jetzt wohl allgemein übliche Angaben-Anfertigung am PC einen m. E. großen Fortschritt in Richtung Klarheit des Schriftbildes.

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6. Verwendeter Wortschatz

Alle im Prüfungstext vorkommenden Vokabeln müssen theoretisch be­kannt sein; unbekannte werden angegeben. Solche Anmerkungen dürfen freilich nicht überwuchern (10% der Wörterzahl sind ein schon sehr be­denkliches Maximum). Anmerkungen werden vom Schüler nicht immer als Hilfe empfunden, sie wecken in ihm eher den Verdacht, dass es mit der Angemessenheit des Textes hapert.

7. Eingebaute Syntax

Die im bisherigen Lehrgang vorgestellten und eingeübten Syntax-Signale müssen als bekannt und damit erkennbar vorausgesetzt werden. Da der Schwierigkeitsgrad eines Textes vor allem von der Zahl und der Dichte der ‘Syntaktischen Erscheinungen' abhängt, sollte man deren Zahl möglichst nicht über 15 steigen lassen. Keinesfalls darf man das Experiment riskie­ren, ob der eine oder andere Schüler nicht doch einen im Unterricht nie behandelten Sonderfall zu lösen vermag.

Es ist sicher fast unmöglich, sämtliche aufgeführte Aspekte zu berücksich­tigen. Im Interesse der Erzielung eines vertretbaren Schwierigkeitsgrades sollten sie jedoch alle wenigstens bedacht werden. Das bisher Dargestellte referiert im Wesentlichen die Praxis der Aufgabenerstellung. Sie beruht auf Erfahrungen, die der einzelne im Laufe seines Lehrerlebens ansam­melt. Neben dieser sehr schätzenswerten subjektiven Erfahrung gibt es aber durchaus Methoden, den Schwierigkeitsgrad objektiv festzustellen. Man darf von ihnen freilich nicht erwarten, dass sie sofort zum Ergebnis führen.


III. Methode F. Maier

Der entscheidende Durchbruch ist Friedrich Maier in seinem dreibändigen Werk „Der Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt“ (Bamberg: Buchners 1979 ff.) gelungen. Die von ihm empfohlene Methode stützt sich auf umfangreiche, sorgfältig dokumentierte Erhebungen aus allen in Frage kommenden Autoren in einem Gesamtumfang von rund 90.000 lateini­schen Wörtern. (2) Die ausgewählten Texte wurden auf die Häufigkeit der wichtigsten syntaktischen Erscheinungen (SE) abgefragt. Als Mittelwert ergaben sich für einen Text von 100 bis 110 lateinischen Wörtern 16,5 SE.

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Hierbei ergibt sich folgende Verteilung:

Relativsätze/relat. Satzanschluss [3,09] [3,8] In Prozenten der Gesamtmenge der SE 18,8% 20,7%
Gliedsätze [4,68] [4,7]   28,5% 25,5%
Infinitive [4,12] [4,1]   25,1% 22,3%
Partiz.; Abl.abs. [2,08] [3,0]*   12,7% 16,3%
Partizipien attrib./präd. [1,36] [1,0]*   8,3% 5,4%
Gerundivum [0,75] [0,9]   4,5% 4,9%
Gerundium [0,28] [0,8]   1,7% 4,4%
Supinum [0,06] [0,1]   0,4% 0,5%
Summe SE [16,42] [18,4] Summe 100,0% 100,0%

[Die Häufigkeitsangaben der linken Kolonne sind aus F.Maier, LU zwischen Tradition und Fortschritt, Band I, 289, herausgerechnet und beziehen sich lediglich auf eine durch­schnittliche halbe Teubner-Seite. Die Angaben der rechten Kolonne stammen aus Band III, 348; sie entsprechen den Mittelwerten einer Prüfungsarbeit. Die Differenz gegenüber dem Mittelwert 16,5 dürfte sich hier aus Unschärfen der graphischen Dar­stellung erklären. - * In der Graphik III 347 wohl vertauscht.]

Wenn man diese SE den einzelnen SE-Kategorien in Form eines Stabdia­gramms zuordnet und die Stabspitzen miteinander verbindet, ergibt sich eine eine charakteristische (im Bild fett ausgezogene) Mittelwerts-Linie (3):

Um den Schwierigkeitsgrad eines Textes zu bestimmen, wird die Zahl der im Text festgestellten SE als dünnere Konkret-Kurve eingezeichnet (4):

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Aus der Zahl der festgestellten SE einerseits und aus dem Verhältnis der Konkretkurve zur Mittelwertkurve werden sodann Schlüsse auf den Schwierigkeitsgrad gezogen.

Wenn beispielsweise der Text ‘Caesar 1' (Gall. IV 16,1-4) „im Bereich der Gliedsätze, Relativsätze und Infinitive hoch über dem Mittelwert, dagegen bei den Partizipien un­terrepräsentiert“ ist, „signalisiert das eine starke Periodisierung des Textes (was tat­sächlich der Fall ist). Da die Gesamtzahl der SE (29) den Mittelwert   von 16,5 SE um ca. 76% übersteigt, stellt der Text sehr hohe Anforderungen. Wenn er überhaupt als Prü­fungstext genommen wird, muss auf dem Gebiet der Gliedsätze und Infinitive (auch der oratio obliqua) eine kräftige Vorübung erfolgen.“ (5)

Dieses Ergebnis wird sodann an einem Vergleich der Anforderung mit der Konzentrationskurve kontrolliert und schließlich mit den tatsächlich aufge­tretenen Fehlern konfrontiert. Auf ein Referieren dieser (an der zitierten Stelle nachlesbaren) Einzelheiten muss hier verzichtet werden. Jedenfalls bleibt es im wesentlichen bei dem Ersturteil:

„Es zeigt sich, dass der mit 29 SE weit über dem Mittelwert liegende Text ... eine völlig der Idealkurve entgegengesetzte Schwierigkeitenverteilung hat. Er beginnt mit hoher syntaktischer Dichte, fällt dann merklich dort ab, wo die Schüler am leistungsstärksten sind, und steigt gegen Ende wieder in seinen Anforderungen. Der Text erweist er sich dadurch als wenig geeignet als Klassenarbeit/Schulaufgabe. (Die Prüfungsergebnisse bestätigen dies nachdrücklich).“ (6)

Wie aus obigen Ausführungen erhellt, geht die Methode Maier primär von der Zahl der „Syntaktischen Erscheinungen“ (SE) aus. Deren jeweilige Zahl gibt, in Relation zum statistischen Mittelwert 16,5 gesetzt, bereits einen ersten Hinweis auf den Schwierigkeitsgrad. Den genaueren Schwie­rigkeitsgrad muss man durch Interpretation von Kurven ermitteln und als Worturteil formulieren.


IV. Methode K. Bayer

Die nachstehend dargestellte Methode ist in der ‘Anregung‘ (7) erstmals veröffentlicht. Sie versteht sich als Weiterentwicklung der Me­thode Maier; außerdem benützt sie ein graphisches Verfahren, das Gerhard Fink im Cursus Brevis (8)

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zur Veranschaulichung seiner ‘Pendelmethode' vorgestellt hat.

1. Vorbemerkungen

Die Methode geht von der Befindlichkeit eines Durchschnittsschülers aus, der sich mit seinem Latein redlich abmüht. Die Momente, in denen er bei seiner Arbeit an einer Übersetzung mit einer Inkongruenz zwischen Latein und Deutsch konfrontiert wird, bewirken einen Stau seiner natürlichen Übersetzerneugierde. Es erwachen Unlustgefühle. Die Angst vor der Wahl falscher Alternativen und der mit dem Nachdenken einhergehende Zeit­verzug können Panik auslösen und das Urteilsvermögen blockieren. Für solche Erlebnisse macht der Schüler die Schwierigkeit des Lateinischen oder wenigstens des vorgelegten Textes verantwortlich. Je öfter ihm Hin­dernisse begegnen und je dichter sie aufeinanderfolgen, desto höher schätzt er den Schwierigkeitsgrad ein und desto schmerzlicher fühlt er ein Ungenügen.

Es gibt Indikatoren, die als potentielle Auslöser solcher Affekte identifiziert sind. Sie lassen sich zählen und gewichten, also - gewiss in Grenzen - mathematisieren oder, wie man heute gerne sagt, digitalisieren: Aus der Summe der gewichteten Indikatoren und deren Verhältnis zur Textlänge gewinnt man eine begründete Aussage über den objektiven Schwierig­keitsgrad eines Textes. Die Methode läuft also auf die Umsetzung von Ein­drücken in Numerisches hinaus. Der Kritiker wird sagen, dass man sich dabei an der Grenze zum Unmöglichen bewegt. Indes: Was macht der Lehrer anderes, wenn er Eindrücke in mündliche Noten, also Ziffernnoten übersetzt?

2. Theorie

Die nun vorzustellende Methode basiert auf drei Thesen:

a) Die Syntaktischen Erscheinungen (SE) sind besonders wichtig, aber nicht gleichgewichtig.

b) Zwischen der deutschen und der lateinischen Wortstellung bestehen beträchtliche Unterschiede.

c) Zur Herstellung eines lesbaren Übersetzungstextes müssen oft Wörter eingesetzt werden, die im lateinischen Text nicht oder nur versteckt zu finden sind.


zu a) Syntaktische Erscheinungen (SE):

Es dürfte einleuchten, dass die Übersetzung eines ut-Satzes in der Regel weniger schwierig ist als etwa die eines Ablativus absolutus. Das bedeutet, dass man diese SE unterschiedlich gewichten muss, und daraus folgt, dass jede SE auf ihr Gewicht hin untersucht werden muss.

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Gerhard Fink hat eine Vorliebe für einprägsame Formeln. Eine davon lau­tet ‘EVA'. Sie will besagen, dass beim Übersetzungsakt (häufig) drei Denk­schritte nötig sind: ‘E' = Erkennen, ‘V' = Verstehen, ‘A' = Ausdrücken. –

Beispiel:   in efficiendo opere:
E : „Aha, das ist ein Gerundivum (oder so was Ähnliches?).“ -
V : „Da scheint es darum zu gehen, dass ein Werk hervorgebracht wird (oder etwa: ... werden muss?).“ -
A : „Versuch' ich's halt einmal mit ‘bei der Erstellung/Vollendung des /eines Werkes'.“

Man sieht, dass jeder dieser drei Denkschritte (sofern der erste überhaupt gelingt!) je nach Art der SE eine Wahl zwischen Alternativen, Trinativen, Quaternativen verlangt. Daraus ergeben sich Gewichtungsunterschiede, die durch Gewichtungs-Einheiten ( GE ) erfasst werden. Um Missverständ­nisse auszuschließen:

- Es geht n i c h t um Fehler, sondern um Denkschritte .

- Bewertet wird n i c h t die Fehlerhaftigkeit oder ‘Schönheit' einer Übersetzung (Das ist Aufgabe des Korrektors.).

Vorausgesetzt wird lediglich eine schmucklose Werkübersetzung , also z.B. Wiedergabe des AcI mit einem ‘dass'-Satz, des Gerundivum (V) mit Verbal­substantiv auf -ung, des Abl. abs. mit „als, weil, obwohl“ usw. Das setzt voraus, dass der Schüler entsprechende Rezepte parat hat. Dass sie in den Grammatiken zu finden sind, nützt wenig; sie müssen auch im Unter­richt besprochen und diskutiert werden.


zu b) Wortstellung:

Die Bedeutung der Wortstellung wird m.E. unterschätzt. In der Schülerkri­tik wird am Lateinischen nicht zuletzt bemängelt, dass die Wörter willkür­lich durcheinandergewirbelt seien. Die dem zugrunde liegende Beobach­tung ist zwar teutozentrisch   - einem jungen Römer wäre Deutsch wohl nicht minder wirr vorgekommen -, aber doch sehr bedenkenswert. Meine Methode stellt stark auf sie ab. Wenn man für Subjekt ‘S'(und ‘s' für er­gänztes Subjekt), für Objekt ‘O' (und ‘o' für ergänztes oder reflexives Ob­jekt), für Adverbiale ‘A', für Prädikat ‘P' (und ‘p' für das Hilfszeitwort) setzt, kann man die Unterschiede zwischen den Satzbauplänen im Lateinischen und im Deutschen gut veranschaulichen:

Magister discipulum interrogat. SO P sS P oO Der Lehrer fragt einen Schüler.
Tum eum laudat. AOP AP s O Dann lobt er ihn.
Is valde gaudet SAP SP o A Der freut sich sehr.
Valde gavisus est. A Pp s p oA P Er hat sich sehr gefreut.
    s P oA Er freute sich sehr.

Man könnte diese Überlegungen noch in diverse Verästelungen weitertrei­ben. Für unseren Zweck genügt: Beim Übersetzen schon einfachster Sätze müssen die Wörter sehr unterschiedlich in den lateinischen Satz eingestellt werden. Gewiss leistet die Sprachkompetenz des native speaker vieles da­von gewissermaßen automatisch. Geleistet werden muss es dennoch. Die Abtrennbarkeit vieler Präfixe („ vor lesen - ich lese vor “) sowie die Tatsa­che, dass das Deutsche nur über zwei Tempora verfügt („lese - las“) und alle anderen synthetisch bilden muss („werde lesen“,

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„habe/hatte gele­sen“, „werde gelesen haben“), schafft (nicht zuletzt im Passiv) durchaus Probleme. Zudem fallen Prüfungstexte wohl höchst selten so harmlos aus wie die obigen Paradigmata.

Hieraus folgert die Methode: Jede in Gedanken vollzogene Verlegung eines lateinischen Wortes oder Wortbestandteils, die es/er beim Übersetzen von seinem Platz im lateinischen Satz an den entsprechenden im deutschen Satz erfährt, wird gezählt und gewichtet; z.B.

Hoc non intellego. Das verstehe ich nicht .
  [Das ich nicht verstehe.]
  Verschiebung um einen Platz: 1 GE (Gewichtungseinheit)

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quod fere cotidianis proeliis cum Germanis contendunt Weil sie in fast täglichen G. mit den Germ. kämpfen
  [Weil fast {in} täglichen G. mit den Germ. sie kämpfen.]
  Verschiebung um sechs Plätze: 6 GE

Aus den für die einzelnen Wortverlagerungen gewonnenen Zahlen wird eine Summe gebildet, die in die Schlussabrechnung eingeht.


zu c) Wortergänzungen:

Am häufigsten ist die Notwendigkeit einer Wortergänzung durch die Arti­kellosigkeit des Lateinischen veranlasst. Von einer numerischen   Berück­sichtigung dieser Fälle wird jedoch abgesehen. Die nächsthäufige Gruppe stellen Personalpronomina, die in den Signalteil des lateinischen Wortes integriert sind, im Deutschen aber regelmäßig als eigenes Wort erschei­nen. Auch sie bleiben in unserem Zusammenhang unberücksichtigt, so­lange sie unmittelbar vor oder hinter ihrem Verbum stehen:

  intellegimus / Hoc intellegimus wir verstehen   / Das verstehen wir 0 GE
aber:      
  Si haec omnia intellegere mus ... Wenn wir das alles verstünden ... 2 GE

Die dritthäufigste Gruppe ergibt sich aus dem Fehlen des Ablativs im Deutschen. Er muss meistens durch Präpositionen wiedergeben werden:

fere cotidianis proeliis in fast täglichen Kämpfen (fast täglich in Gefechten...) 1 GE

3. Praxis

Aufschreiben des Textes

Ich schreibe den zu analysierenden Text grundsätzlich in senkrechten Ko­lonnen satzweise auf, möglichst mit Leerzeilen zwischen den Kola. Hierbei betrachte ich Enklitika wie ‘-que' oder ‘-cum' (z.B. in quibus-cum ) als ei­genständige Wörter, da sie ja auch gesondert übersetzt werden müssen. Sodann zähle ich die Wörter satzweise und stelle die Textlänge fest. Die ungewohnte Art des Aufschreibens, die den Text aus dem Prokrustesbett des Satzspiegels befreit, zwingt dazu, jedes Wort wirklich ‘in die Hand zu nehmen'. Dabei wird der ‘Satzleib' visualisiert. Zudem entsteht der für das Eintragen von Analyse-Beobachtungen benötigte Platz. [Es käme auf einen Versuch an, ob Schüler sich mit senkrecht angeordneten Prüfungstexten nicht leichter täten.]

Notieren der Beobachtungen

Ich notiere auf dem Textblatt mittels Pfeilen oder Kästchen vier Katego­rien von Indikatoren:

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A: abweichende Wortstellung von Verben und Nominalformen des Verbs.
B: alle anderen auffallenden Wortstellungen. Meist betrifft das alte Be­kannte wie non , quoque, fere .

[Die Trennung nach ‘A' und ‘B' erfolgt aus Gründen der Raumökonomie: ‘A' wird links neben der Satzkolumne notiert, ‘B' rechts davon; s.u.].

C: die sog. Syntaktischen Erscheinungen (Das sind Friedrich Maiers ‘SE'), also Phänomene der höheren Syntax. Ich erweitere diese um die sog. prädikativen Verhältnisse (z.B. „Cicero als Konsul“).
D: die nicht zu unterschätzenden ‘weiteren Indikatoren', wozu ich v.a. notwendige Ergänzungen (z.B. Präpositionen) rechne, aber auch über­lange oder komplizierte Sätze und die Oratio obliqua.

Gewichtung der Indikatoren

Jede Notiz auf dem Textblatt (Analyseblatt) erfolgt in ‘Gewichtungsein­heiten' ( GE ). Es empfiehlt sich, neben dem Analyseblatt ein Protokollblatt anzulegen, auf dem die unterschiedlichen Notizen in eine übersichtliche Ordnung gebracht werden. Diese Mühe lohnt sich mit Sicherheit! Die Ge­wichtungseinheiten sind anhand des ‘EVA'-Prinzips festgelegt. Je mehr Denkschritte bis zur Lösung notwendig sind, desto höher die Gewichtung. Der Maximalwert ist 4 GE. Zwischenwerte sind nicht vorgesehen; doch kann in einigen Fällen zwischen zwei Werten gewählt werden. Bei unmit­telbarem Aufeinanderfolgen gleicher syntaktischer Erscheinungen wird man z.B. für den ersten AcI die höhere Gewichtung wählen, für den nahe darauf folgenden die niedrigere, da ja das ‘Erkennen' in einem solchen   Fall erleichtert ist.

Wortstellung (Indikator A und B)

- von Verben und Nominalformen des Verbs, sowie

- von Nicht-Verben: Jedes (nach vorwärts oder rückwärts) übersprungene Wort   zählt 1 GE

Man geht dabei so vor, dass man die untereinander stehenden Wörter der gedruckten Reihenfolge nach übersetzt, aber, sobald ein Wort von weiter unten benötigt wird, dieses nach oben holt. Die betreffenden Umstellun­gen werden durch gepfeilte Bögen ins Analyseblatt eingezeichnet und mit einer Ziffer versehen, die der Zahl der übersprungenen Zeilen entspricht. Damit die Umstellungen kein übermäßiges Gewicht erhalten, wird ihre Summe in der Endabrechnung halbiert. Dadurch wird der andernfalls not­wendige Umgang mit halben GE vermieden.

Bei der Gewichtung der Phänomene darf man sich nicht zur „Milde“ verleiten lassen. Sie würde den Prüfling schädigen, weil sie den wahren Schwierigkeitsgrad des Textes verschleiert.

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Syntax (Indikator C)

Indirekter Fragesatz (IF) 1 GE
Relativer Satzanschluss (RSA) 2 GE
Relativsatz (RS) 1 GE
Subjunktionalsatz (SS) 1 GE
Subjektsinfinitiv (SI) 1 GE
Objektsinfinitiv (OI) 1 GE
Infinitiv bei iubere, vetare etc. 1-2 GE
AcI 3-4 GE
NcI 3 GE
Partizip: attr., präd., subst. (Pz) 1 GE
Participium coniunctum (PC) 3-4 GE
Ablativus absolutus (AA) 4 GE
Gerundium (Gdm) 2-3 GE
Gerundivum V/N (Gdv) 2-3 GE
Supinum (Sup) 2 GE
prädikatives Verhältnis (PV) 1-2 GE

Es ist zweckmäßig, die SE der Gruppe ‘C' auf dem Analyseblatt in Käst­chen zu setzen. Sie heben sich noch deutlicher heraus, wenn man die Kästchen mit Farbmarker ausfüllt.

Weitere Indikatoren (Indikator D)

Ergänzungen:    
Ellipse ( est, sunt, esse )         1 GE
ergänzte Präposition   1 GE
ergänzter Artikel   0 GE
Besonderheiten von Wörtern:    
Homonym   1 GE
seltenere Wortformen   1 GE
Besonderheiten von Sätzen:    
längerer Satz (LS): ab 26 W. +1 GE
  ab 36 W. +2 GE
Gliedsatz ab 4. Grad   +1 GE
Periode komplizierterer Art   +2-3 GE
Oratio obliqua: je Kolon +1-2 GE
Besondere Modi:    
Potentialis   +1 GE

Protokollieren der Befunde

Wenn die Analyse des Textes abgeschlossen ist, überträgt man die einzel­nen Beobachtungen in ein Protokollblatt. Dieser bürokratisch anmutenden Empfehlung sollte man folgen. Auf diese Weise werden die einzelnen Ent­scheidungen leicht nachprüfbar, sowohl bez. ihrer Vollständigkeit als auch ihrer Einheitlichkeit bei gleichen Phänomenen. Diese Kontrolle wird er­leichtert, wenn man jeder eingetragenen Zahl ein Kürzel für das jeweilige Phänomen beifügt. Will man sich einen Thesaurus von Übungsbeispielen anlegen, so wäre es das Tüpfelchen auf dem ‘i', in Klammern ein Stichwort beizugeben, z.B   ‘1 GE ( quin )'.

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Berechnung des Schwierigkeitsgrades

Erster Schritt: Man zählt für jede der vier Kategorien (A, B, C, D) die GE-Werte zusammen.

Zweiter Schritt: Man addiert die Werte A + B und teilt sie durch 2.

Dritter Schritt: Man addiert die Werte C + D.

Vierter Schritt: Man bildet die Summe aus den Ergebnissen von Schritt 2 und 3.

Fünfter Schritt: Man addiert zu dem Ergebnis aus dem Schritt 4 die Zahl der lat.Wörter des Textes.

Sechster Schritt: Man dividiert das Ergebnis aus dem Schritt 5 durch die Zahl der lateinischen Wörter.

[Bei Schritt 5 werden Enklitika wie -que mitgezählt, bei Schritt 6 aber nicht.]

Kurzbeispiel (Caesar Gall V 55, 1; s. dazu u. „Anwendungsbeispiele“)

    A   B                       C   D       Lat. W. 28; S SE 3
Arbeits-schritte (1) 14   6                       9   3        
  (2) 14 + 6 = 20                                
            20 : 2 = 10                        
  (3)                             9 + 3 = 12    
  (4)                 10 + 12 = 22                
  (5)                         22 + 28 = 50        
  (6)                                 50 : 28 = 1,785


Skalieren der Ergebnisse

Was bedeutet nun das Ergebnis 1,785? Diese Frage beantwortet sich, wenn man den Wert in eine Skala stellt, also in Relation zum Schwierig­keitsgrad anderer Texte setzt. Aufgrund der in reicher Zahl vorliegenden Erfahrungen erscheint die folgende Skala gut vertretbar:


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Die Skala beginnt bei 1,0. Diesen Schwierigkeitsgrad hätte ein lateinischer Text, der sich im Deutschen 1 : 1 abbilden ließe. Dies erreicht annähernd der Beginn des Vaterunsers: Pater noster, qui es in coelis. Vater unser, der du bist im Himmel. Könnte man ein solchen ‘Schwierigkeitsgrad' in ei­nem Prüfungstext erreichen, wäre der Lateinunterricht wenig sinnvoll, je­denfalls solange man eines seiner Ziele in der Sprachreflexion sieht.

Die Skala ist theoretisch nach oben offen. Für die Praxis der Schule endet sie spätestens bei 2,0. Diesen Schwierigkeitsgrad erreicht ein Text erst bei einer enormen Häufung von Syntaktischen Erscheinungen. Vor einem sol­chen Experiment kann man nur warnen.

Damit ist der schulrelevante Bereich eingegrenzt. Er liegt äußerstenfalls zwischen 1,200 und 1,800.

Zur Groborientierung sind folgende Stufen nützlich:

        1,000 bis 1,200    zu leicht/sehr leicht

        1,201 bis 1,400    leicht

        1,401 bis 1,600    maßvoll

        1,601 bis 1,800    anspruchvoll

        1,801 bis 2,000    zunehmend schwieriger

Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Schulaufgaben der Mittelstufe im Bereich zwischen 1,401 bis 1,800 liegen. [Drei Dezimalstellen hinter dem Komma täuschen eine Genauigkeit vor, die von der Methode nicht bean­sprucht werden kann und will. Sie haben aber den praktischen Wert, dass man bis zur ersten Dezimalstelle gleichschwierige Texte begründet von einander trennen kann. Einer solchen Unterscheidung sollte man aber we­nigstens an den Grenzen zwischen der einzelnen Stufen keine übertrie­bene Bedeutung beimessen: Ein Text mit Schwierigkeitsgrad 1,601 kann nicht wesentlich schwieriger sein als einer mit dem Schwierigkeitsgrad 1,599, auch wenn der eine formal in die Gruppe ‘anspruchsvoll', der an­dere in die Gruppe ‘maßvoll' zu stellen ist.]

Anwendungsmöglichkeiten

1. In Beschwerdefällen stärkt es die Position des Lehrers, wenn er sich für seine Bewertungen auf ein zwar nicht amtliches, wohl aber veröffentlichtes und bisher unwidersprochen gebliebenes Verfahren berufen kann.

2. Mit der angegebenen Methode kann der Schwierigkeitsgrad der Lektio­nen von Lehrwerken festgestellt werden. Praktiziert wurde dies bereits im Lehrerband zum CURSUS BREVIS, S.12:

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Man erkennt an der Kurve, dass der Schwierigkeitsgrad der 20 Lektionen, wie die Sache es erfordert, tief ansetzt, bald aber stetig ansteigt und in den Lektionen 12, 15, 17 in den anspruchvolleren Bereich   hineinreicht, um danach wieder in den Normalbereich abzusinken. Im Besitz solcher Informationen wird der Lehrer die Vorbereitungs- und Übungsnotwendig­keiten für eine Lektion sicherer abschätzen können, als wenn er von den vorkommenden Schwierigkeiten überrascht wird.

3. Es mag noch interessieren, ob die Beurteilung des ‘Caesar 1' durch F.Maier durch Anwendung der hier vorgestellten Methode bestätigt wird. Sie wird bestätigt: Der nach obiger Methode festgestellte Schwierigkeitsgrad ist 2,03; von einer Verwendung des Textes als Prüfungsaufgabe muss abgeraten werden. (9)

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift III/2 (2003), 16

 

V. Anwendungsbeispiele

1. Kurzbeispiel aus Caesar Gall. V 55, 1 – 28 lat. Wörter


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2. Langbeispiel aus Caesar, Gall. I 1, 1-4 – 108 (+3) lat. Wörter
S SE 19, Ergebnis: 1,509

Analyseblatt


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Protokollblatt


                                      Pegasus-Onlinezeitschrift III/2 (2003), 19

1: cf. Friedrich Maier, Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bd. III, Bamberg: Buchners 1986, 351

2: cf. Friedrich Maier. Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt, Bd. I, Bamberg: Buchners 2 1984, 267 ff.

3: cf. Friedrich Maier (1986), 347

4: cf. Friedrich Maier (1986), 348

5: Friedrich Maier (1986), 350

6: Friedrich Maier (1986), 352

7: Karl Bayer, Zur Bestimmung des Schwierigkeitsgrades lateinischer Prüfungstexte. Anregung 44, 4/1998, 228-241

8: Cursus Brevis, Lehrerband, hrsg. von Gerhard Fink und Friedrich Maier, München: Oldenbourg 2001, 12

9: Friedrich Maier (1986), 352

Dr. Karl Bayer, Sedelhofstr. 8, 81247 München