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Man spricht neuerdings wieder viel über Bildung, nach einer langen Periode der Stille. Die letzte vorangehende Bildungsdebatte liegt jetzt etwa eine Generation zurück. Sie wurde von der 68er-Bewegung verstärkt und mündete um 1975 in die Einführung des Kurssystems der gymnasialen Oberstufe. Seit den fünfziger Jahren hatte der zunehmende Wohlstand breiter Kreise ein fast explosionsartiges Anwachsen der Abiturienten- und Studentenzahlen verursacht; es erschienen Bücher z.B. die „Deutsche Bildungskatastrophe“ von Georg Picht (1964) und „Bildung ist Bürgerrecht“ von Ralf Dahrendorf (1965) die diese Tendenz bestätigten. Die Politik machte ebenfalls mit, und so wurde unter der Devise ‚Chancengleichheit’ eine überaus effiziente Bildungswerbung betrieben. Zugleich senkte man die Anforderungen; hierbei half der Umstand, dass man auf ein gut Teil der geistigen Überlieferung (sie hatte ja die Hitler-Katastrophe nicht verhindert) verzichten zu können glaubte. Ein allgemeiner, die Parteien übergreifender Fortschritts-Enthusiasmus beherrschte die Reformen kritische Stimmen, wie die von Hans Bauer, „Das Ende des deutschen Gymnasiums“ (1973), verhallten ungehört.
Demgegenüber zeigt die jetzige Bildungsdebatte andere Positionen. In ihr scheinen sich zwei Richtungen von vergleichbarer Stärke zu artikulieren. Einerseits meldet sich aufs Neue eine Meinung zu Wort, die auf Fortschritt durch Traditionsverzicht drängt. Sie entspringt jedoch diesmal nicht sozialpolitischen Motiven, sondern ökonomischen Interessen; ihre Anhänger behaupten mit Schlagworten wie Globalisierung und Flexibilität, Deutschlands Zukunft sei gefährdet, wenn die Schulbildung nicht intensiv auf das Wirtschaftsleben vorbereite. Dieser ganz auf die materielle Wohlfahrt eingestimmten Besorgnis steht indes eine andere gegenüber, die nach geistiger Orientierung fragt und die die Fixpunkte hierfür, die Werte oder Ideale, in der Vergangenheit sucht. Im Gegensatz zu den siebziger Jahren finden die Anhänger einer derartigen konservativen Sichtweise jetzt Beachtung. Dies mag dadurch begünstigt werden, dass viele geneigt sind, die offenkundigen Unzulänglichkeiten des deutschen Bildungswesens, insbesondere das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler im
PISA-Test, auf die Reformen der siebziger Jahre und auf seither verbreitete Einstellungen zurückzuführen.
„Bildungsziele im Wandel der Zeiten“: Das Thema klingt, als hätten sich die Europäer auf dem Felde des Schul- und Bildungswesens zumindest alle paar Jahrhundert etwas durchaus Neues einfallen lassen, als hätten die Ziele der Bildung sich verändert wie die Baustile oder die Kleidersitten. In Wahrheit hat es in Europa nur zwei große Bildungsmächte gegeben, die christliche Religion und die humanistische Gelehrsamkeit. Für die Inbegriffe von Texten, auf denen die von diesen beiden Instanzen vermittelte Bildung beruht, wird hier der erst in jüngster Zeit zu gängiger Münze gewordene Terminus ‚Kanon’ verwendet. ‚Kanon’, ein Wort semitischen Ursprungs, das so viel wie „Messlatte“, „Richtschnur“ bedeutet, bezeichnete zunächst lediglich die für den christlichen Glauben maßgeblichen biblischen Schriften; der Ausdruck wurde vom 18. Jahrhundert an auch profanen Textcorpora zuerkannt: den für die Schule und die Bildung maßgeblichen Auswahlen aus den antiken und den modernen europäischen Literaturen.
Man kann also sagen, dass Europa zwei Kanones des Wissens und Glaubens, kurz der geistigen Orientierung hervorgebracht hat: den religiösen, mit den ‚kanonischen’ biblischen Schriften als Kern, und den humanistischen, den aus einer Quintessenz der griechischen und römischen Hinterlassenschaft abgeleiteten. Diese beiden Inbegriffe waren indes nicht ‚Kanones’ im strengsten Sinne, d.h. gänzlich unveränderliche, in monolithischer Starre die Jahrhunderte überdauernde Größen; sie unterlagen dem Wandel, der Entwicklung; sie gewannen im Laufe der Zeit zueinander ein je verschiedenes Verhältnis und nahmen auch in sich selbst je verschiedene Gestalten an. Die beiden Kanones lassen sich am ehesten als Gegebenheiten mit konstantem Kern und wechselnder Peripherie charakterisieren.
Der christliche Kanon in dem hier gemeinten bildungsgeschichtlichen Sinne beruhte somit auf dem Kern der Bibel und der Peripherie der die Bibel erklärenden Schriften, ferner auf der dogmatischen und liturgischen Literatur sowie auf den Heiligenlegenden und allen Formen religiöser Dichtung. Im humanistischen Kanon wiederum war nichts so konstant wie die lateinische Grammatik, und überhaupt spielten in ihm bis zum Beginn der Neuzeit die so genannten Artes liberales die Hauptrolle sie waren bis dahin wichtiger als die seit dem 15. Jahrhundert dominierenden griechischen und römischen Klassiker. Als Artes liberales („Freie Künste“) bezeichnete man ein Bündel von wissenschaftlichen Disziplinen, sieben an der Zahl; das so genannte sprachliche Trivium umfasste die Grammatik
(worunter man stets die des Lateinischen verstand), die Rhetorik und die Dialektik, und das mathematische Quadrivium (was „Vierweg“ bedeutet, wie Trivium „Dreiweg“) enthielt die Fächer Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musiktheorie. In der Neuzeit jedoch verloren die Artes liberales, wie gesagt, erheblich an Bedeutung; sie verselbstständtigten sich zu Disziplinen außerhalb der humanistischen Bildung oder verschwanden aus dem Lehrplan der Schule, und seither beruhte die humanistische Bildung im Wesentlichen auf der Kenntnis der beiden antiken Sprachen und Literaturen.
Die beiden Kanones, einerseits Wissenschaften auf sei es rationaler, sei es empirischer Grundlage und andererseits die geoffenbarten Inhalte der Religion, waren grundverschieden, aber nicht unverträglich, solange sich die Wissenschaften mit einer dienenden Rolle gegenüber den religiösen Inhalten begnügten, und so wurden sie denn gemeinsam tradiert, die Artes als Vorstufe der Theologie, als unabdingbare Voraussetzung für das rechte Bibelverständnis in praxi kam hierfür keinem Fach eine so große Bedeutung zu wie der Grammatik. Erst mit der Aufklärung, als die Theologie entthront und von der Philosophie als oberster Instanz des Wissens und Fürwahrhaltens abgelöst wurde: Erst damals gerieten die beiden altüberkommenen Kanones derart zueinander in Widerspruch, dass der humanistische Kanon den christlichen ausschloss.
Man kann den doppelten Kanon der europäischen Bildungstradition mit dem Zettel, mit der Kette eines Gewebes vergleichen: Christlicher Glaube und humanistische Gelehrsamkeit sind darin die in Längsrichtung durch die Jahrhunderte verlaufenden Fäden. Und die Querfäden, der Einschlag, der Schuss, der erst das Gewebe zum Gewebe macht: Der Einschlag wird durch das Auf und Ab repräsentiert, durch die Phasen der Blüte und des Verfalls, der Dynamik und der Stagnation, die das Weberschiffchen der Zeit in das Bildungswesen eingeflochten hat. Drei Phasen der Blüte, der Dynamik sollen nunmehr kurz betrachtet werden, drei Gipfelepochen, die den Lehrplan Europas tief und nachhaltig geprägt haben. Es sind dies die Zeiten Karls des Großen, Martin Luthers und Goethes, die Zeiten der Karolingischen Erneuerung des Frankenreiches, der Reformation und der Weimarer Klassik.
Der Kulturraum Europa entstand in der Völkerwanderungszeit, im frühesten Mittelalter, im 6., 7. und 8. Jahrhundert. Damals gab es dort (vom byzantinischen Reich abgesehen) von Anführern befehligte Horden und von Königen beherrschte Kriegervölker; es gab jedoch noch keinen Staat, keine Staatlichkeit im Sinne einer für vielerlei Verwaltungsangelegenheiten, wie für das Schulwesen, zuständigen Instanz.
Es gab immerhin inmitten der Völkerzüge als einziges stabiles Element ein geistiges Reich, die christliche Kirche, manifest durch ihre Einrichtungen, die Bischofssitze, die Klöster und die Pfarreien, sowie durch eine Organisation, die alle diese Einrichtungen zu einem Ganzen verband. Nur in diesem geistigen Reich waren die elementaren Kulturtechniken der Menschheit bewahrt geblieben, nur dort verstand man noch zu lesen und zu schreiben und hatte man noch Urkunden, Briefe und Bücher in Gebrauch. Hierbei bediente man sich allerorten derselben Sprache, des Lateinischen, das man aus den Trümmern des römischen Reiches herübergerettet hatte.
Diesen Zustand hat allerdings erst das fränkische Geschlecht der Karolinger, hat insbesondere Karl der Große (768-814) nach der schweren Krise des sich auflösenden Merowingerreiches in zäher Aufbauarbeit durchgesetzt. Die Karolinger verstanden es auch, die Kirche in ihr weltliches Regiment zu integrieren. Sie nahmen sich bei ihrem Reformwerk die Epoche zum Vorbild, die dem Völkersturm vorausgegangen war, die Spätantike, die Zeit Augustins und der übrigen Kirchenväter, und sie stellten für die Durchführung Kleriker in ihren Dienst, die aus einer unversehrt gebliebenen Randzone, aus Irland, Schottland und Britannien, herbeieilten.
Ein Hauptaugenmerk Karls des Großen galt der Sprache, die, wenn sie geeignet sein sollte, zuverlässiger Verständigung zu dienen, im ganzen Reich einheitlich sein musste. Für diese Rolle kam in der fränkischen Vielvölkermonarchie allein das Lateinische, die Sprache der Kirche, in Betracht. Das Lateinische aber hatte, als mit dem weströmischen Staat auch dessen Schulwesen untergegangen war, begonnen, sich aufzulösen, sich in den verschiedenen Gebieten nach verschiedenen Richtungen hin zu entwickeln, in Italien zum Italienischen, in Gallien zum Französischen usw. Karl musste also versuchen, den Zug der Entwicklung, der sich bereits in ziemlicher Fahrt befand, aufzuhalten und zum Ausgangspunkt, zum einheitlichen Latein zurückzubringen. Er tat dies mit Erfolg, indem er die Sprache der Kirchenväter nicht etwa die klassische, die Ciceros zur Norm erhob. Nach wenigen Jahrzehnten war keine Spur mehr von dem grammatischen Wildwuchs übrig, den er vorgefunden hatte, und es konnte nicht mehr passieren, dass ein Priester eine völlig verballhornte Taufformel verwendete, wie das fünfzig Jahre zuvor der Missionar Bonifatius hatte beklagen müssen: „Baptizo te in nomine patria et filia et spiritus sancti“ (statt „patris et filii“) „Ich taufe dich im Namen das Vaterland und die Tochter und des heiligen Geistes“.
Karl der Große wurde durch seine Maßnahmen zum Schöpfer eines Zustandes, der weite Teile Europas, das ganze Gebiet der westlichen Kirche, bis zum 17., ja 18. Jahrhundert geprägt hat: zum Schöpfer des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bilinguismus. Man versteht hierunter das Nebeneinander einer Vielzahl von Volkssprachen und des einen Latein, wobei dieses nicht nur der Verständigung unter verschiedenen Völkern, wie früher das Französische und jetzt das Amerikanische, sondern auch
nahezu dem gesamten Schriftwesen diente, der Gesetzgebung und Verwaltung, der Wissenschaft und Literatur.
Karl vermochte seine Reformen durchzusetzen, weil er an seinem Hof eine Schule unterhielt, eine Musteranstalt für das ganze Reich, und weil er Gesetze erließ, die vorschrieben, dass an den Klöstern und Bischofssitzen des Reiches Unterricht stattzufinden habe so lebten allerorten Kloster- und Domschulen auf, die beiden Typen von Lehranstalten, die bis zur Reformation das Fundament des Schulwesens bildeten.
Der Lehrplan dieser Schulen hatte wie sollte es anders sein? die Artes liberales, zumal die Grammatik, zum Gegenstand, und dann die Bibel. Der humanistische, der weltliche Teil des Lehrplans war dem christlichen gänzlich untergeordnet: Er fungierte als Mittel, als Zugang zur Bibel und zum Gottesdienst. Letztes Ziel allen Strebens war das ewige Leben: „ut … populum Dei ad pascua vitae aeternae ducere studeatis“ „dass … ihr das Volk Gottes zu den Weidegründen des ewigen Lebens zu führen sucht“, verlautet, an die Adresse des Klerus gerichtet, in einem der Reformgesetze Karls. Die Autoren nur römische, insbesondere Vergil und Ovid; die griechischen kamen erst im 15. und 16. Jahrhundert hinzu lebten immerhin außerhalb des offiziellen Lehrplans weiter; die Schriften der gelehrten Mönche sind gespickt mit Reminiszenzen an die römischen Klassiker.
Jahrhunderte vor der zweiten Blütezeit des europäischen Bildungswesens, dem Humanismus im engeren Sinne und der Reformation, kam eine wichtige institutionelle Neuerung auf, die Universität; ihr Vorhandensein hatte erhebliche Rückwirkungen auf das Schulwesen. Sie war eine Folge der Expansion des Wissens. Die Theologie gewann durch die Methoden der Scholastik einen neuen Status der Rationalität, und zugleich wurden bisher unbekannte Aufgabenfelder systematischer Geistesbetätigung erschlossen: die Jurisprudenz und die Medizin. Dem waren die Kloster- und Domschulen nicht gewachsen, und so entstanden größere, freiere Vereinigungen von Gelehrten, die Universitäten, wo sich neben den drei bereits genannten Zweigen noch ein vierter etablierte, die facultas artium, die Fakultät der Artes liberales. Die Kloster- und Domschulen beschränkten sich nunmehr darauf, das für alle Studiengänge erforderliche Elementarwissen zu vermitteln.
Im 14. und 15. Jahrhundert nahm in Italien jenes Aufbegehren gegen die Scholastik seinen Ursprung, das sich, als ‚Humanismus’ schlechthin bekannt, von dort aus über die ganze lateinische Sphäre, Polen und Ungarn eingeschlossen, verbreitet hat. Die Humanisten präsentierten das ganz
Alte als das ganz Neue auf sprachlichem und literarischem Felde und bei allen Wissenschaften.
Zwei nahezu gleichzeitige Ereignisse waren ihren Bestrebungen überaus förderlich: der Fall von Konstantinopel (1453) und die Erfindung des Buchdrucks. Das erstere Ereignis bewirkte, dass eine Fülle von griechischen Handschriften sowie zahlreiche griechische Gelehrte in den Westen gelangten der humanistische Kanon gewann erst jetzt, mit der Einbeziehung der griechischen Literatur, seine Vollgestalt. Die Entdeckung des Buchdrucks wiederum gab den Humanisten ein willkommenes Mittel an die Hand, ihren Ideen und ihren Werken zu großer Verbreitung zu verhelfen.
Sie waren sowohl Gelehrte als auch Schriftsteller und Dichter, und so richteten sie ihr Hauptaugenmerk auf die Erneuerung der lateinischen Sprache und Literatur. Getreu ihrer Devise, dass das ganz Alte das beste Neue sei, suchten sie die gesamte Entwicklung, die das Lateinische seit der Spätantike, der Kirchenväterzeit und insbesondere während der Scholastik in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht genommen hatte, rückgängig zu machen; sie erhoben den Wortschatz und die Ausdrucksweise der antiken Autoren, zumal Ciceros, zur alleinigen Richtschnur ihres Sprachgebrauchs. Die neulateinische Literatur, die auf diese Weise in etwa anderthalb Jahrhunderten entstand, war zum letzten Male auch sprachlich ein gesamteuropäisches Phänomen; danach gab es nur noch die modernen Nationalsprachen sowohl für wissenschaftliches als auch für belletristisches Schrifttum.
Auf die erste Welle folgte die zweite: Die heiteren Humanisten hatten noch nicht lange nördlich der Alpen Fuß gefasst, da traten auch schon die strengen Reformatoren auf den Plan. Die aber brachten, wo immer ihre Lehren Anhänger fanden, im Bildungswesen nicht so sehr inhaltliche, den Lehrplan betreffende Änderungen mit sich als vielmehr eine fundamentale institutionelle: Aus den alten Kloster- und Domschulen wurden teils städtische, teils landesherrliche Anstalten. Denn die protestantische Ablehnung der Askese, des Mönchstums entzog den kirchlichen Einrichtungen mit einem Schlage die personale Grundlage; es waren einfacher ausgedrückt plötzlich keine Lehrer mehr vorhanden, und da hierdurch vor allem die Ausbildung des theologischen Nachwuchses gefährdet schien, ließ Luther sich dazu herbei, den weltlichen Arm zu Hilfe zu rufen. Er richtete im Jahre 1524 ein Sendschreiben „An die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte in deutschen Landen, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“. Luthers Appell fand große Resonanz: Die Städte taten, wie sie sollten, die eine früher, die andere später, und ein erster, irreversibler Schritt zur Verweltlichung des Schulwesens war getan.
Der zweite ließ nicht lange auf sich warten: Bald nahmen sich auch Landesherren des verwaisten Ressorts an, und die kümmerten sich nicht, wie die Kommunen, bloß um einzelne Anstalten, sondern um die ihres ganzen
Territoriums. Spitzenreiter war hier Herzog Moritz im albertinischen Sachsen: Er richtete in ehemaligen Klöstern die so genannten Fürstenschulen ein, zu Meißen, zu Pforta und zu Grimma Anstalten, die es bald zu hohem Ansehen brachten und denen illustre Namen wie Klopstock, Lessing und Nietzsche zusätzlichen Glanz verliehen. Den zweiten Platz belegte Württemberg: Die Kirchen- und Schulordnung des Jahres 1559 rief ein ganzes System von höheren Schulen ins Leben, darunter die ebenfalls in alten Klöstern einquartierten und daher auch ihrerseits ‚Klosterschulen’ genannten Anstalten, z.B. die zu Maulbronn.
Die Erneuerung des deutschen Schulwesens, die gründlichste, die in der Zeit zwischen Karl dem Großen und der Weimarer Klassik stattfand, hatte geistige Zentren. Das wichtigste war Wittenberg, wo Philipp Melanchthon, der Praeceptor Germaniae, wirkte: als Dozent, als Schulorganisator und als Verfasser von Unterrichtswerken. Auf den schweizerisch-süddeutschen Raum hat vor allem Zürich, die Stadt des Reformators und Humanisten Zwingli, ausgestrahlt, und daneben tat sich Strassburg hervor, durch die dortselbst von dem Schulmann Johannes Sturm geschaffene Anstalt.
"Propositum a nobis est", schreibt Sturm in einer seiner Programmschriften, „sapientem atque eloquentem pietatem finem esse studiorum“ „Wir haben uns zur Richtschnur gemacht, dass eine ebenso sachkundige wie wortgewandte Frömmigkeit der Zweck des Unterrichts sei“. Diesen drei Lernzielen der sapientia, der eloquentia, der pietas kam in der Praxis des Schulalltags sicherlich nicht dasselbe Gewicht zu: Die eloquentia, die aktive Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift, verlangte die weitaus größte Mühe. Die von der Lateinschule der frühen Neuzeit vermittelte Bildung war somit insoweit eine formale Bildung und als formale eine allgemeine, die nicht für einen bestimmten Beruf qualifizierte. Sie unterschied sich in folgenden Punkten von der der mittelalterlichen Kloster- und Domschule: Die Lektüre der biblischen Schriften und der sie erklärenden patristischen Literatur war eingeschränkt oder gar ausgeschlossen. Gefordert wurden nach wie vor gediegene Kenntnisse in den Artes, in Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Als Muster für den eigenen Sprachgebrauch dienten nunmehr die klassischen Autoren, insbesondere Cicero; diese Autoren wurden eifrig gelesen und erklärt. Schließlich kam noch das Griechische hinzu: bis zur Fähigkeit, Demosthenes und Homer zu verstehen. Wie ersichtlich, haben sich die Gewichte erheblich zugunsten des humanistischen Kanons verschoben. Gleichwohl blieb die Lateinschule streng in das kirchliche Leben eingebunden, und der Griechischunterricht hatte, anders als bei Sturm in Straßburg, oft keinen wichtigeren Gegenstand als das Neue Testament.
Der dritte Höhepunkt im Bildungswesen, der hier betrachtet werden soll, ist vielleicht eher eine deutsche als eine europäische Angelegenheit; die deutschen Reformen des Gymnasiums und der Universität, die mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verknüpft sind, haben jedoch in weiten Teilen Europas, zumal im Osten und Norden, als Vorbild gewirkt.
Dieser Höhepunkt, der des 19. Jahrhunderts, setzte die bisher einschneidendste Zäsur im europäischen Geistesleben, die Aufklärung, voraus. Das Lateinische hatte seine ein Jahrtausend lang währende Hauptfunktion eingebüßt, als allgemeines Verständigungsmittel der Gelehrten zu dienen, und die Gewichte der beiden überkommenen Kanones verschoben sich nunmehr derart, dass die christliche Lehre nicht mehr Teil des nahezu gänzlich verstaatlichten Schulwesens war. Die Alleinherrschaft des humanistischen Kanons, die jetzt einsetzte, kann vor allem daran abgelesen werden, dass der altsprachliche Unterricht, das nach wie vor unangefochtene Zentrum des Lehrplans, nur noch antike und keine christlichen Autoren mehr behandelte, und an Stelle des bislang in der höheren Schule maßgeblichen Theologen regierte dort ein neuer Berufsstand, der des Philologen.
Der humanistische Kanon diente als Fundament der bürgerlichen Allgemeinbildung, eines Phänomens, das im 18. und zumal im 19. Jahrhundert seine Blütezeit erlebt hat. Zur bürgerlichen Bildung gehörte an erster Stelle die Kenntnis der antiken Sprachen und der antiken Kultur, ohne dass noch die aktive Beherrschung des Lateinischen gefordert worden wäre. In den Inbegriff der bürgerlichen Bildung ging darüber hinaus ein Überblick über alle die Leistungen ein, welche die nunmehr von der Religion unabhängigen Wissenschaften und Künste vollbrachten: das neue, rationale, auf die Erkenntnisse der Physik sich stützende Weltbild, die autonome Philosophie, die nicht mehr im Dienste des christlichen Kults stehende Musik usw.
Die beiden institutionellen Säulen der bürgerlichen Bildung waren das Gymnasium und der Fürstenhof, welch letzterer sich gerade in Deutschland wegen der dort herrschenden Kleinstaaterei flächendeckend betätigte. Der Fürstenhof hatte während der frühen Neuzeit die kulturellen Einrichtungen geschaffen, die das Bürgertum alsbald öffentlich und gegen Zahlung eines Eintrittsgeldes für jedermann zugänglich machte: das Theater, das Konzert, das Museum. Das Gymnasium wiederum führte in eine Enzyklopädie des Wissens ein, zu der neben den alten und neuen Sprachen die Geschichte, die Mathematik, die Physik, die Biologie und die Geographie gehörten.
Dieses Gymnasium, das Produkt des so genannten Neuhumanismus, suchte dem Griechenglauben der Weimarer Klassiker ein institutionelles Gehäuse zu geben, das die Jugend mit einer idealen, den Gemeinnutz vor den Eigennutz stellenden Gesinnung erfüllen sollte die preußischen Reformer, die bei ihm Pate standen, glaubten, dass ein verbreiteter Krämergeist die von Napoleon auferlegte Knechtschaft ermöglicht habe; sie sahen in der Beschäftigung mit dem klassischen Altertum ein vorzügliches Mittel für die von ihnen erstrebte Erneuerung der öffentlichen Moral.
Das humanistische Gymnasium, die neue Form, in der die obsolet gewordene Lateinschule aufgegangen war, hat sich, wie gesagt, weiter Teile Europas bemächtigt; es blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Regelschule der künftigen Akademiker. Dies aber hätte je später, desto mehr als Paradox, als Anachronismus erscheinen können fand doch damals die technische Revolution, die Industrialisierung statt, ein beispielloser Vorgang, der Europa in kürzester Zeit mehr veränderte als alles Menschenwerk in den drei Jahrtausenden der geschichtlichen Überlieferung, die vorausgegangen waren. Die unregelmäßigen lateinischen und griechischen Verben, die Abenteuer und Kämpfe des Odysseus oder des Aeneas, die philosophischen Gespräche unter einer Platane am Stadtrand von Athen oder in einer Villa bei Rom, und dies angesichts der Zechen und Hochöfen, der Kraftwerke und Fabriken, die überall aus dem Boden gestampft wurden: Man muss sich fast wundern, dass dieser Kontrast so lange ertragen worden ist.
Offenbar wussten viele, dass das humanistische Gymnasium eine gute Schule war. Wer sie mit Erfolg absolviert hatte, gehörte der kleinen Elite an, aus der sich die obere Beamtenschaft und die akademischen Berufe rekrutierten. Diese Elite pflegte praxisfern geschult zu sein: zu formaler Strenge und intellektueller Sorgfalt. Die deutsche Wissenschaft gedieh unter diesen Verhältnissen ausgezeichnet; sie vollbrachte im Zeitalter des humanistischen Gymnasiums Leistungen wie nie zuvor, und zwar auf allen Gebieten, im Bereich der Geistes- und Naturwissenschaften ebenso wie in dem der Technik.
Exakt zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlug dem Monopol des humanistischen Gymnasiums die Stunde: Andere Formen der höheren Schule, ohne Griechisch und überhaupt ohne altsprachlichen Unterricht, berechtigten von nun an ebenfalls zu jeder Art von Studium. Die weitere Entwicklung zeitigte immer neue Fächer- und Schwerpunktkombinationen, bis hin zur Oberstufenreform der Jahre 1976-78, welche die Wahl der Fächer weithin dem Belieben jedes einzelnen Schülers anheim gab. Mit der humanistischen Orientierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe war es vorbei, und hiermit wurde zugleich der bürgerlichen Allgemeinbildung der Boden entzogen.
Der sehr summarische Überblick über die wesentlichen Bildungsziele der europäischen zuletzt vor allem der deutschen Schule ist hiermit beendet. Als Generalnenner sei festgehalten, dass der gelehrte Unterricht von Anfang bis Ende, von den Reformen Karls des Großen bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, zwar auch auf die Lebenspraxis vorbereitete, dass er indes darüber hinaus Sinnzusammenhänge, Werte oder Ideale zu vermitteln suchte, die aller Praxis vorausgingen, die sich aus den Anforderungen der jeweiligen Realität nicht ableiten ließen. In der langen christlichen Ära stand die christliche Lebensordnung mit der Frömmigkeit als wichtigstem Wert um Johannes Sturm zu zitieren obenan; in der kurzen Zeit überwiegend humanistischer Prägung galt als höchstes Ziel eine an der Antike orientierte Bildung, die sich anheischig machte, zugleich zur Humanität zu führen.
In dem genannten Zeitraum, von Karl dem Großen bis zum 20. Jahrhundert, wohnte dem europäischen Bildungswesen ein großes Maß von Kontinuität inne: dank der lateinischen Sprache und dank der beiden aus der Spätantike überkommenen Kanones, des christlichen und des humanistischen. Zugleich aber herrschte innerhalb dieses Kontinuums viel Flexibilität: Die Schwerpunkte verlagerten sich vom Lateinischen zum Griechischen, vom Biblischen zum Klassischen, vom Theologischen zum Philosophischen, vom Moralischen zum Ästhetischen.
Die die Realität transzendierenden Sinnzusammenhänge wurden durch mächtige Systeme garantiert. Hinter der Schule stand bis zur Reformation, ja großenteils bis zur Aufklärung die Kirche und im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Staat der Staat nicht nur, wie jetzt, als Organisator, der den Wünschen des einzelnen zu dienen sucht, sondern auch als Lieferant der humanistisch, idealistisch oder national gefärbten Lehrinhalte.
Kontinuität, übergreifende Sinnzusammenhänge, garantierende Systeme: Diese Merkmale implizieren nicht, dass sich das europäische Bildungswesen, als sie bestimmend waren, stets in dem besten denkbaren Zustande befunden habe. Die Geschichte der Bildung hat in ihrem Auf und Ab neben erfreulichen Zeiten immer wieder Phasen des Niedergangs durchlaufen. Immerhin eignen sich die genannten Strukturmerkmale des einstigen Bildungswesens, einem Raster gleich die gegenwärtige Situation zu verdeutlichen:
1. Die über die Bedürfnisse der Lebenspraxis hinausgehende Kontinuität ist bis auf geringe Reste verschwunden; weder die lateinische Sprache noch der christliche oder der humanistische Kanon sind noch Gegenstand des allgemeinen Bewusstseins.
2. An die Stelle von variierenden Schwerpunkten innerhalb eines festen Rahmens ist Diversifikation getreten die Vielfalt der Fächer entbehrt eines einigenden Bandes.
3. Die gegenwärtige Schule soll fast nur noch auf die Lebenspraxis vorbereiten, insbesondere auf den künftigen Beruf; alle Lehrgegenstände müssen sich heutzutage die Frage gefallen lassen, wozu sie von Nutzen sind, wobei unter ‚Nutzen’ der direkte, in Geldeswert ausdrückbare Ertrag für den einzelnen verstanden wird.
4. Die Systeme Kirche und Staat haben nur noch wenig Einfluss auf die Inhalte der Schule. Die Kirche wurde aus dem Bildungswesen verdrängt, weil sie sich durch die Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhunderts kompromittiert hatte; der Staat wurde zum bloßen Organisator des Bildungswesens degradiert, weil er vom Ausgang des 19. Jahrhunderts an den Humanismus zum Nationalismus umfunktioniert hatte.
Dieses Kontrastbild enthält ebenfalls sowohl Positives als auch Negatives; es zählt nicht einseitig nur Symptome des Niedergangs auf. Aus achtbaren Gründen ist ein großer Teil der Veränderungen eingetreten, die den jetzigen Zustand herbeigeführt haben. Und den Verlusten, die darin enthalten sind, steht ein nicht unbeträchtlicher Gewinn gegenüber: die Freiheit des Individuums, die Freiheit von Bindungen, die Freiheit der Wahl. Die überlieferten Sinngehalte sind alle noch da; sie haben lediglich ihren verpflichtenden Charakter eingebüßt, sie können nicht mehr von einer überpersönlichen Instanz verordnet werden. Zwar sind sie infolgedessen auch schwerer erreichbar geworden; trotzdem hat jeder die Möglichkeit, sich um religiöse oder kulturelle Ordnungsbegriffe und Sinnzusammenhänge zu bemühen; er kann allerdings auch in einem so noch nie dagewesenen Ausmaß direkt und ohne Umwege über allgemein bildende Inhalte seinen Fähigkeiten und Neigungen, kurz seinen persönlichen Interessen nachgehen.
Es fragt sich allerdings, ob dieser Zustand, das Resultat der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, nicht seinerseits wieder korrekturbedürftig ist, weil er dem Einzelnen zu viel erlaubt so viel, dass er sich ganz seinem Streben nach der so genannten Selbstverwirklichung, nach beruflichen Erfolgen, größerem Einkommen und einem möglichst hohen gesellschaftlichen Status, hingeben und darüber seine Sorgepflicht der Allgemeinheit gegenüber vernachlässigen darf. Ein Bildungswesen, das dergleichen gestattet, das dem Einzelnen erlaubt, sich der integrierenden Kraft überindividueller Sinnzusammenhänge zu entziehen, könnte auf die Dauer die Voraussetzungen zerstören, aus denen es hervorgegangen ist nämlich dann, wenn das Selbstverwirklichungsstreben der Einzelnen zu bedenkenloser Wahrnehmung
eigener Interessen und schließlich zu Korruption oder Gewalt ausartet.
Man könnte die Sorgepflicht für die Gemeinschaft, die jedem zufällt, der in ihr lebt, als seine Pflicht zur Solidarität mit derselben, kurz als seine Solidaritätspflicht bezeichnen. Der zum Tode verurteilte Sokrates lehnte das Angebot seines Freundes Kriton ab, ihm zur Flucht aus dem Gefängnis und ins Ausland zu verhelfen; zur Begründung erklärte er, dass er die Gesetze Athens seit jeher gekannt habe und trotzdem geblieben sei; nun müsse er die Konsequenzen ziehen. Um so rigorose Forderungen, wie sie Sokrates an sich gestellt hat, soll es hier nicht gehen. Das entgegengesetzte Extrem aber, das epikureische Prinzip, dass sich der kluge Mensch der Teilnahme am Gemeinschaftsleben enthalte und so zurückgezogen wie möglich lebe, ist verwerflich; ihm darf der Staat nicht durch allzu viel Rücksicht auf einen kurz angepflockten Egoismus Vorschub leisten.
Eine Restauration der großen Solidaritätsagenturen von einst, eine Restauration des christlichen oder des humanistischen Kanons als allgemeinverbindlicher Orientierungen kommt allerdings nicht in Betracht; diese Normengefüge als die Bildung im ganzen durchdringende Instanzen sind untergegangen und lassen sich nicht mehr aus dem Totenreich der Geschichte in unsere Gegenwart zurückrufen. Wenn wir also die Orientierungen selbst unwiederbringlich verabschiedet haben, dann müssen wir versuchen, uns an den einstigen Orientierungen zu orientieren. Der Generalnenner dafür heißt Kulturtradition, nicht nur als Folklore oder Pflege der Künste, sondern vor allem als der wertvolle Rest aus Europas christlicher und humanistischer Vergangenheit, als Gesittung, als politische und moralische Ordnung.
Das Minimum, das zur Wahrung der Kulturtradition erforderlich ist, der Beitrag, den jeder dazu leisten muss, um seiner Solidaritätspflicht zu genügen, lässt sich durch zwei Begriffe kennzeichnen: durch ‚Sprache’ und ‚politische Ordnung’.
Die Sprache, genauer: die jeweilige Landessprache ist eines der wichtigsten Mittel des Zusammenhalts unter den Bewohnern. Sie ist insbesondere die Voraussetzung für die Art der Beziehungen des Einzelnen zu seiner Umwelt, für das Ausmaß seiner Sozialchancen. Wer die Landessprache nur unzulänglich beherrscht, ist von der ihn umgebenden Gemeinschaft weithin ausgeschlossen, was bei längerer Dauer und größeren Gruppen zu Ressentiments und Schlimmerem führen kann. Der Staat hat daher die Pflicht, von allen, die ständig auf seinem Territorium leben, ausreichende Kenntnisse der Landessprache zu fordern. Dies gilt in Deutschland zwar auch für die Einheimischen, die oft nachlässig mit ihrer Sprache umgehen und sie durch unnötige Anleihen aus dem Englischen (im Wortschatz, in den Wortbedeutungen, in der Syntax) zu einem Flickenteppich herabwürdigen; dies gilt jedoch vor allem für die meist aus sehr fremden
Sprachgemeinschaften stammenden Immigranten. Denn sie zumal bleiben, wenn sich ihre Kenntnisse der Landessprache auf wenige Brocken beschränken, nicht nur sozial, sondern auch kulturell isoliert und haben es demzufolge überaus schwer, sich in die Lebensverhältnisse ihrer neuen Heimat einzugliedern. Die korrekte Handhabung des Deutschen, seines Wortschatzes, seiner Orthographie und seiner Syntax, muss daher in allen Schulgattungen und Schulklassen oberstes Gebot sein, und überall müssen Maßnahmen getroffen werden, dass auch Immigrantenkinder eine echte Chance haben, das jeweilige Pensum zu bewältigen.
Als zweiter Bereich, der der Solidaritätspflicht jedes Staatsbürgers und Bewohners unseres Landes unterliegt, wurde die politische Ordnung genannt. Durch Gesetze allein lässt sich keine Gemeinschaft auf die Dauer aufrecht erhalten; hierzu bedarf es außerdem der inneren Zustimmung des Staatsvolkes, und dafür wiederum ist Voraussetzung, dass die je Heranwachsenden die Grundlagen moderner europäischer Staatlichkeit kennen lernen: nicht nur abstrakt, in der Form von Leitsätzen unserer Verfassung oder eines Überblicks über das System der Institutionen, sondern auch anschaulich, durch die Darstellung der politischen und sozialen Prozesse, die zum gegenwärtigen Zustand geführt haben. Bei alledem sollen die Vorzüge der demokratischen Staatsform nicht zu kurz kommen (man kann sie durch Stichworte wie ‚Machtverteilung’ und ‚Machtkontrolle’ charakterisieren); zugleich aber müssen die Gefahren gezeigt werden, die auch dort lauern, und die Schäden, die sich auch dort einfressen können.
Bei der Frage nach den Fächern, welche das hier skizzierte Programm der Solidarisierung tragen sollen, präsentieren sich auf den ersten Blick Deutsch und Geschichte. Es ist evident, dass vor allem der Deutschunterricht durch drei seiner Instrumente, durch Grammatikübungen, durch Lektüre und durch den Aufsatz, dazu beiträgt, den Stil und die Fähigkeit einer übersichtlichen Anordnung der Gedanken zu vervollkommnen. Ebenso evident sollte jedoch sein, dass die sichere Handhabung des Deutschen nicht nur durch das eine Fach gefördert wird, das Deutsch heißt, dass hierzu vielmehr auch alle die Disziplinen von Nutzen sind, die differenzierter sprachlicher Mittel bedürfen, z.B. die Geschichte.
An dieser Stelle kann endlich auch die heutige Rolle der alten Sprachen, des Lateins zumal, zutreffend gewürdigt werden. Die aktive Beherrschung des Lateinischen ist seit dem 18. Jahrhundert dahin, und der humanistische Glaube an die Bildung seit der ersten Hälfte des zwanzigsten. Doch Teilfunktionen haben diese Schwundprozesse ohne Schaden überlebt, und eine davon ist die Schulung in der Muttersprache. ‚Lateinunterricht ist Deutschunterricht’: diese Devise gilt zunächst, wie allgemein anerkannt, für die Syntax, für die grammatischen Strukturen. Keine romanische und keine andere germanische Sprache hat ein dem Deutschen vergleichbares Flexionssystem bewahrt, und slawische Sprachen pflegen bei uns wenig erlernt zu werden. So bleibt das Lateinische, als Kontrast, aber auch als
Parallele, die viel gerühmte Sprachreflexion zu betreiben und hierdurch zu bewusster Handhabung des Deutschen anzuleiten. Wer nach einem Beispiel für diese Thesen fragt, der sei auf die indirekte Rede verwiesen: Hier liegt eine Besonderheit des Deutschen vor, deren korrekte Handhabung vielen schwer fällt und für die allein das Lateinische mit Vergleichbarem aufwartet.
Weniger bekannt scheint zu sein, dass die Beschäftigung mit lateinischen Texten auch dem Wortschatz im Deutschen förderlich ist, dass sie zum Gebrauch eines differenzierten Vokabulars anleiten kann. Dies ist durch eine Not des Lateinischen bedingt, die hier zur Tugend wird: durch dessen schon von Lukrez und Cicero beklagte Wortarmut. Ein lateinischer Text lässt manche Nuance unausgedrückt; er deutet sie lediglich durch den Zusammenhang an. Der moderne Leser muss daher aus dem reichhaltigeren Lexikon seiner Sprache nach dem passenden Äquivalent suchen; die Übersetzung eines lateinischen Textes ins Deutsche lässt sich mit der Kolorierung eines Kupferstichs vergleichen. In der Lebenswirklichkeit kommt es immer wieder darauf an, für eine gegebene Situation die rechten Worte zu finden. Hierfür ist das Lateinische die beste Simulation, weil sein Vokabular viel weiter vom deutschen entfernt ist als das der modernen europäischen Fremdsprachen.
Als zweite erhaltene Teilfunktion des altsprachlichen Unterrichts verdient die Einführung in die antike Staatlichkeit genannt zu werden. Der Geschichtsunterricht muss in seinem bescheidenen Stundendeputat vieles leisten, so dass für die Antike nur flüchtige Überblicke abfallen. Dabei stehen uns die attische Demokratie und die römische Republik in staatlich-politischer Hinsicht viel näher als die 1800 Jahre von Kaiser Augustus bis zur Französischen Revolution. Dort, zumal im klassischen Athen, finden wir das Urbild für die Staatsform, in der sich auch unser Gemeinschaftsleben abspielt. Die Geschichte des Altertums und deren Spiegelung in den historischen und staatstheoretischen Werken von Thukydides und Polybios, von Cicero und Sallust führen uns in einfachen Modellen die Hauptmerkmale unserer Staatlichkeit vor Augen, und auch die Risiken, die mit deren Handhabung verbunden sind. Die deutschen Altphilologen sollten nicht müde werden, auf die Lücke hinzuweisen, die die Reduktion des altsprachlichen Unterrichts zumal auf diesem Felde geschaffen hat. Dieser faktischen Lücke war allerdings eine verbreitete Bewusstseinslücke vorausgegangen. An dem Weg, den der moderne europäische Staat in den jüngsten 250 Jahren genommen hat vom Absolutismus zur Demokratie -, waren die Deutschen wenig beteiligt, und entsprechend hat man auch östlich des Rheins kaum registriert, welch großartiger Rezeptionsprozess antiker Modelle sich gerade auf diesem Gebiet vollzogen hat. Doch dieses Defizit der Vergangenheit braucht kein Hindernis zu sein, jetzt zu reklamieren, dass hinlänglicher Lateinunterricht auch politischer Unterricht ist.
Prof. Dr. Manfred Fuhrmann, Auf dem Stein 40, 88662 Überlingen