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Bei einem Blick in die Bibliographie für den Lateinunterricht (1) stellt man fest, dass unter der fachdidaktischen Literatur sowie den Schulausgaben, die zu den Werken des Tacitus veröffentlicht worden sind, den „Historien“ eine verhältnismäßig geringe Beachtung geschenkt worden ist. Bei den Lektürevorschlägen in den Oberstufenlehrplänen stehen klar die kleinen Schriften - besonders die „Germania“ und der „Agricola“ – im Vordergrund, oft auch die „Annalen“, in denen man „die reifste Frucht der römischen Geschichtsschreibung“ sieht. (2) Gleichwohl werden auch die „Historien“ in den Lehrplänen einiger Bundesländer als Lektürevorschlag aufgeführt, (3) wobei man ein breites Spektrum verschiedener Lerninhalte und thematischer Schwerpunkte vorfindet. Während sich zu den Themen „Romidee und Romkritik in der Antike“ oder „Rom und die Völker des Nordens“ vor allem Abschnitte aus dem vierten Buch – besonders die Schilderung des Bataver-Aufstandes (IV 54-79) mit der Rede des Petilius Cerialis (IV 73-74) – anbieten, bezieht man sich bei den Themenschwerpunkten „Die politische Auseinandersetzung und die Erhaltung des Reiches beim Zusammenbruch der julisch-claudischen Dynastie“, „Das Dreikaiserjahr als historisches Drama“ oder „Historiographie als dramatische Kunst“ auf die ersten drei Bücher.
In diesem Aufsatz soll ein genauerer Blick auf das erste dieser drei Historienbücher, in denen Tacitus die Bürgerkriegswirren der Jahre 69/70 nach dem Tod Neros darstellt, geworfen und ein zentraler Aspekt der taciteischen Geschichtsschreibung näher beleuchtet werden, der in der fachdidaktischen Literatur bis heute nur wenig gewürdigt worden ist. Innerhalb der antiken Historiographie ist Tacitus der erste, der in größtmöglicher Eindringlichkeit und Konzentration die politischen Grundphänomene darstellt, die für Zeiten der Gewaltherrschaft und des Bürgerkriegs charakteristisch sind, und hierbei der Psychologie der am historischen Geschehen Beteiligten eine entscheidende Rolle beimisst.
Dabei beschränkt er sich keineswegs auf Einzelpersönlichkeiten wie die Kaiser, sondern beleuchtet gleichermaßen die Figuren des Volkes und der Soldaten, d. h. die Masse: Tacitus hat als erster eine Art systematische Psychologie der Massen geschrieben und kann somit als Vorläufer der von dem französischen Gelehrten Gustave LE BON begründeten modernen Gruppen- und Massenpsychologie gelten. (4) Sein besonderes Interesse für die Beleuchtung von Kollektivreaktionen und Massenphänomenen zeigt, welch enorme Bedeutung er ihnen für den Ablauf historischer Ereignisse beimisst. Wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, geht dies aus keiner Passage seines Werkes besser hervor als aus der Darstellung der turbulenten Ereignisse in Rom zu Beginn des Dreikaiserjahres 69 n.Chr., die zum Sturz Galbas führen (hist. I 4-49). Hier kann der Leser an einem Modellfall ermessen, wie das, was wir „allgemeine Stimmung“ nennen, zu einem politischen Faktor ersten Ranges werden kann. Galbas kurze Regierungszeit betrachtet Tacitus als einen Weg vom „alten“ zu einem „neuen“ Nero. Dieser Weg wird bestimmt durch die beiden Massen des Volkes und der Soldaten. Die einzelnen Stationen: Trauer über Neros Ende – Abneigung gegen den neuen Princeps Galba – Spekulationen über die bevorstehende Nachfolgeregelung – Neros Günstling Otho als „Wunschkandidat“ der Massen – sein Staatsstreich. Otho setzt sich durch, nicht weil er dem Kaiser überlegen wäre, sondern weil er die öffentliche Meinung für seine eigenen Interessen geschickt auszunutzen weiß und es – im Gegensatz zu Galba – versteht, die Masse – und das heißt hier besonders: die Soldaten – zu behandeln und zu beeinflussen. (5) Eine ganz wichtige Rolle spielen daneben auch die immer wieder auftretenden unwägbaren Gerüchte, deren Wechselwirkungen zum Verhalten der Massen als einer wichtigen Säule seiner Massenpsychologie Tacitus breiten Raum gibt. Sie haben die Funktion, das Irrationale, Unberechenbare und Unkontrollierbare, das dem Verlauf der Ereignisse anhaftet, sichtbar zu machen, und werden dem Leser als wirkende Kräfte vorgeführt, die sich oft jeglicher Kontrollierbarkeit durch die Mächtigen entziehen und von entscheidender Wichtigkeit sein können. (6) Somit wird Tacitus' Darstellung von Othos Weg auf den Kaiserthron zu einem Lehrstück über die Macht von Gerüchten, Stimmungen und der durch sie geprägten öffentlichen Meinung, aber auch über die erfolgreiche Manipulation der Massen. Wir berühren hiermit Themenkreise, die gerade in der heutigen Mediengesellschaft von enormer Aktualität sind. Warum sollte man das diesbezügliche Potential des Textes und die Chancen, die sich für die Tacitus-Lektüre und den Erziehungsauftrag des Lateinunterrichts ergeben, nicht nutzen? Unter den angesprochenen Themenaspekten stellt die Geschichte Galbas (hist. I 4-49) eine überaus reizvolle Alternative zu den „herkömmlichen“ Vorschlägen zur Tacitus-Lektüre in der Oberstufe dar. Die folgenden Interpretationsleitlinien mögen als Anregung hierzu verstanden werden. (7)
(2.1) Die Lage in Rom nach Neros Tod (I 4-7)
Nach einer Vorschau auf den Inhalt des Werkes gibt Tacitus in den Kapiteln 4 bis 11 einen Überblick über die Zustände, die gegen Ende des Jahres 68 n.Chr. in Rom und im Reich herrschten. Das vierte Kapitel beginnt mit folgenden Worten: … repetendum videtur, qualis status urbis, quae mens exercituum, quis habitus provinciarum, quid in toto terrarum orbe validum, quid aegrotum fuerit , ut non modo casus eventusque rerum, qui plerumque fortuiti sunt, sed ratio etiam causaeque noscantur . Schon dieser erste Satz lässt keinen Zweifel daran, dass Tacitus seelische Potenzen schildern will und dass er die seelische Verfassung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen als ratio und causae des kommenden Geschehens ansieht. (9) Dies bestätigt sich im Folgenden, wenn mit wenigen Worten der status urbis anhand der varii motus animorum nach der anfänglichen Freude über den Tod Neros skizziert wird. Düster wird die Stimmung bei den sozial unteren Schichten geschildert: plebs sordida et circo ac theatris sueta, simul deterrimi servorum, aut qui adesis bonis per dedecus Neronis alebantur, maesti et rumorum avidi . Drei Personengruppen werden abqualifizierend aufgezählt, bei denen Niedergeschlagenheit herrscht, da der Regierungswechsel für sie eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse gebracht hat. Mit dem pointiert ans Satzende gestellten rumorum avidi wird die Gefährlichkeit dieses von Unzufriedenheit geprägten Zustandes hervorgehoben: Man lauert auf Gerüchte und ist für jede Art von Neuerung offen. Gleich zu Beginn wird die unzufriedene Volksmasse als ein gefährlicher Unruheherd gekennzeichnet und der Leser somit auf das Folgende vorbereitet.
Mit Kapitel 5 wendet sich der Historiker dem miles urbanus zu. Sofort erfährt man, dass aufgrund der Enttäuschung über Neros Nachfolger wegen des ausgebliebenen Geldgeschenks ein neuerlicher Umsturz droht: pronus ad novas res . Also herrscht auch hier Unzufriedenheit. Schon jetzt erscheint Galbas Regiment auf unsicherem Grund, denn es gibt negatives Gerede: nec deerant sermones senium atque avaritiam Galbae increpantium . Damit ist der Anschluss an das Ende von Kapitel 4 hergestellt und die weitere Entwicklung vorgezeichnet: Das Gerede der Soldaten über Galba wird bei der mit rumorum avidi charakterisierten Volksmenge auf fruchtbaren Boden fallen und zu einer für den Kaiser ungünstigen öffentlichen Meinung führen. Insgesamt drei Dinge werden Galba vorgehalten - sein Alter, sein Geiz und seine übertriebene Strenge: laudata olim et militari fama celebrata severitas eius angebat aspernantis veterem disciplinam atque ita quattuordecim annis a Nerone adsuefactos ut haud minus vitia principum amarent quam olim virtutes verebantur. accessit Galbae vox pro re publica honesta, ipsi anceps, legi a se militem, non emi; nec enim ad hanc formam cetera erant.
In Kapitel 6 weist Tacitus darauf hin, dass neben Garde und Zivilbevölkerung auch die momentan in Rom stationierten fremden Truppen eine potentielle Gefahrenquelle darstellen: ingens novis rebus materia, ut non in unum aliquem prono favore ita audenti parata . Mit dieser betont ans Ende des Kapitels gesetzten Aussage schließt der Schriftsteller den Bericht über die Verfassung der in der Hauptstadt stationierten Truppen. Der Unterschied in der Ausführlichkeit der Schilderung weist auf die Truppen als den für die Ereignisse des Vierkaiserjahres zentralen Faktor hin. Der Leser hat hierbei einen ersten Einblick in die Psychologie der Masse der Soldaten gewonnen. Folgende Punkte sind dabei entscheidend:
1. ihre Verführbarkeit bei Manipulation von außen (I 5),
2. die Notwendigkeit des Auftretens eines über den nötigen Wagemut verfügenden Anführers, der die bisher oberflächliche Erregung, die sich in Schelt- und Schmähreden Luft macht, in einen offenen Umsturz zu verwandeln vermag (I 6).
Die brisante Situation spitzt sich im nächsten Kapitel (I 7) zu. Durch zwei Hinrichtungen schwindet das persönliche Ansehen des Kaisers mehr und mehr: ceterum utraque caedes sinistre accepta , et inviso semel principi seu bene seu male facta parem invidiam adferebant . Hier spricht Tacitus zum ersten Mal aus, welch ungeheurer Machtfaktor das öffentliche Gerede sein kann: Galbas Image ist irreparabel beschädigt. Die am Ende des vierten Kapitels mit rumorum avidi charakterisierte Volksmenge in Rom wird nun in voller Aktion gezeigt und schürt die Stimmung gegen den Kaiser. Die Kritik konzentriert sich auf sein fortgeschrittenes Alter: ipsa aetas Galbae inrisui ac fastidio erat adsuetis iuventae Neronis et imperatores forma ac decore corporis, ut est mos vulgi, comparantibus . Der aetas Galbae wird in dem Gerede der Leute die iuventa Neronis gegenübergestellt. Die Massen in Rom, ohne jede Möglichkeit, sich direkt in der Politik zu betätigen, und von der Mitverantwortung seit langem ausgeschlossen, bewerten diejenigen, die den Staat verkörpern, nach ihrem Aussehen – sie betreiben Politik auf Klatschebene. (10) Zusätzliche Betonung erhält diese Aussage durch die pointierte Stellung als letzter Satz über die Stimmung in der Hauptstadt, ehe Tacitus zur Lage in den Provinzen übergeht (I 8-11).
(2.2) Die Adoption Pisos (I 12-20) (11)
Die fortlaufende Erzählung vom Sturz Galbas beginnt in Kapitel 12 mit der Meldung, das obergermanische Heer sei von Galba abgefallen und fordere von Senat und Volk einen neuen Kaiser. Wie wird Galba reagieren? Die Nachricht gibt den Anstoß zur Beschleunigung der Adoption, die er schon früher bedacht hat. Der Grund: non sane crebrior tota civitate sermo per illos menses fuerat, primum licentia ac libidine talia loquendi, dein fessa iam aetate Galbae. paucis iudicium aut rei publicae amor: multi stulta spe, prout quis amicus vel cliens, hunc vel illum ambitiosis rumoribus destinabant … Das verantwortungslose Gerede im Volk hat zu diesem Schritt beigetragen; als Motive dafür werden die hemmungslose Gier, über solche Dinge zu spekulieren, sowie Galbas Altersschwäche genannt. Beide Motive sind bereits aus der Beschreibung des status urbis in der Einleitung bekannt.
Die öffentliche Meinung, die durch das Gerede der sich immer konsequenter auf das senex -Motiv einschießenden Menge geprägt ist, stellt einen Machtfaktor ersten Ranges dar, der den Kaiser zum Handeln zwingt: et audita adoptione desinam videri senex, quod nunc mihi unum obicitur , lässt Tacitus später Galba in seiner Ansprache an Piso sagen (I 16), was den von dem Gerede ausgehenden Druck auf den Kaiser deutlich macht.
Als dann im Kreis der Vertrauten des Kaisers über die Adoptionsfrage gestritten wird, fällt erstmalig der Name Otho (I 13). Es folgt eine kurze Beschreibung seiner Laufbahn und Persönlichkeit, in deren Verlauf Tacitus ihm immer stärker die Rolle eines zweiten Nero zuweist: gratus Neroni aemulatione luxus … faventibus plerisque militum, prona in eum aula Neronis ut similem . Die Mehrzahl der Soldaten und der Hof sieht in Otho ein Ebenbild Neros. Aus diesem Grund gelten jetzt ihm die Sympathien, da sich die Massen, wie Tacitus zuvor hervorgehoben hat, nach den Verhältnissen unter Nero zurücksehnen. Er ist der Nutznießer einer allgemeinen Stimmung. Zugleich wird am Ende auf seine ernsten Ambitionen hingewiesen: spem adoptionis statim conceptam acrius in dies rapiebat . Eine Enttäuschung in dieser Hinsicht lässt seine Reaktion erwarten.
Galba drängt auf eine Entscheidung der Adoptionsfrage (I 14). Aus dem Hin und Her der Beratungen mit den Vertrauten, die den als infirmus und credulus erscheinenden Galba in seiner Entscheidung gehörig manipulieren, ergibt sich endlich, dass Piso herbeigerufen wird. Seine Berufung wirkt überraschend, da mit keinem Wort vorher auf seine Person hingewiesen worden ist. In der folgenden Kurzcharakteristik ( … vultu habituque moris antiqui et aestimatione recta severus, deterius interpretantibus tristior habebatur: ea pars morum eius quo suspectior sollicitis adoptanti placebat .) fallen sofort die Ähnlichkeiten zu Galbas Charakter auf, auch an Piso wird die severitas hervorgehoben. Damit steht folgendes fest: der Nachfolger, den Galba sich auserkoren hat, ist genau das Gegenbild dessen, auf den die Massen warten. Denn wie aus den zurückliegenden Abschnitten deutlich geworden ist, sind die Massen noch immer voller Bewunderung für Neros Charakter und Lebensstil, den sie auch in Otho verkörpert sehen.
Umso erstaunlicher ist die realitätsferne Zuversicht des schon zu großen Teilen seiner Autorität beraubten Princeps, mit der von ihm vorgenommenen Adoption das Geschehen noch steuern zu können. In der großen Rede an seinen auserwählten Nachfolger (I 15-16) (12) lässt Tacitus ihn über die öffentliche Meinung sowie die Haltung der Menge sprechen (I 16): et audita adoptione desinam videri senex, quod nunc mihi unum obicitur. Nero a pessimo quoque semper desiderabitur: mihi ac tibi [sc. Pisoni] providendum est, ne etiam a bonis desideretur . Sehr wohl sieht Galba die Gefahr, die aus einer Ausbreitung der Sympathien für Nero in Bevölkerung und Armee erwachsen könnte, daher seine Aufforderung an Piso, gemeinsam für eine Isolierung des Unruheherdes zu sorgen. Man kann ihm also nicht nachsagen, dass er nicht um die herausragende Bedeutung der öffentlichen Meinung für die Sicherheit der Herrschaft wusste.
Um so auffallender ist der Widerspruch zu seinem bisherigen Handeln, denn durch Maßnahmen wie die Verweigerung eines Geldgeschenks oder seine unerbittliche Strenge hat gerade er selbst, wie Tacitus mehrfach betont, zu der Schwächung seines Ansehens und zur Steigerung der Sympathien für seinen Vorgänger beigetragen. Auch im Folgenden präsentiert der Historiker einen äußerst unglücklich agierenden Galba. Die letzten drei Kapitel (I 18-20), die die Ereignisse nach der Adoption Pisos beleuchten, haben die Funktion, das Scheitern Galbas in seinem Bemühen um Akzeptanz aufzuzeigen. Hierfür werden schlaglichtartig die drei großen Massen in den Blickpunkt gestellt, die für die Formung der öffentlichen Meinung und den Prinzipat von größter Wichtigkeit sind: das Militär (I 18, 20), der Senat (I 19) und das Volk (I 20). Als Ergebnis der Kapitelfolge lässt sich festhalten, dass der Princeps es sich mit allen drei Gruppen verscherzt hat, so dass mit Ende von I 20 die stimmungsmäßige Hinführung auf das kommende Unheil zu ihrem Abschluss gelangt ist.
(2.3) Othos Vorbereitungen (I 21-26)
Die Erwartungshaltung des Lesers für die nächsten Kapitel ist nach dem bisherigen Verlauf eigentlich klar: die Enttäuschung Othos über seine Nichtberücksichtigung bei der Adoptionsfrage wird zu einer Reaktion führen, der aufgrund der gegen Galba festgelegten öffentlichen Meinung und der eigenen Beliebtheit in weiten Kreisen der Erfolg beschieden sein wird. Somit hat der Autor die eigentliche Spannung des Lesers auf das Wie gerichtet, d.h. auf die Strategie Othos, die ihm den Sturz Galbas und die Übernahme der Herrschaft ermöglicht. Die Frage nach seiner Strategie ist aber zugleich die Frage nach der Beeinflussung der Massen, die in Othos Überlegungen die zentrale Rolle spielen müssen, da insbesondere ohne die Unterstützung der Soldaten ein Umsturzplan keinerlei Erfolgsaussicht hätte. Zunächst schildert Tacitus in den Kapiteln 21 und 22 seine seelische Verfassung nach der Adoption Pisos, seine direkten Antriebe und Motive: Im ersten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit den Gründen, die ihren Ursprung in Othos persönlicher Lage haben ( luxuria , inopia , ira , invidia , metus ), im zweiten mit denen, die ihm von seiner Umgebung, d.h. dem Hof Neros mit seinen Astrologen eingegeben werden. Im Bestreben, aus Othos Psyche heraus dessen Handeln abzuleiten, lässt Tacitus ihn in einem inneren Monolog über seine Chancen für einen Umsturz sprechen: proinde agendum audendumque, dum Galbae auctoritas fluxa, Pisonis nondum coaluisset. opportunos magnis conatibus transitus rerum, nec cunctatione opus … Otho wird als jemand charakterisiert, der sehr genau um seine Chancen weiß und die richtigen Zeitpunkte kennt, in denen ein Aufstand, und das wiederum heißt das Auslösen einer Massenbewegung zum Abfall vom bisherigen Machtinhaber am erfolgversprechendsten wäre. Die Formulierung agendum audendum que weist auf den Schlüsselsatz ingens novis rebus materia, ut non in unum aliquem prono favore ita audenti parata (I 6) zurück: Mit Otho betritt derjenige die Bühne des Geschehens, dem die nötige Verwegenheit zu eigen ist. „Es ist der neronische Hof, das neronische Unwesen, das den Höfling Neros sowohl in seinem Innern wie in seiner Umgebung zum Verbrechen treibt.“ (13)
Das entscheidende Argument, mit dem der Astrologe Ptolemaeus ihm eingeredet hatte, dass er die besten Aussichten habe, ist das Gerede der Leute: Ptolemaeus … coniectura iam et rumore senium Galbae et iuventam Othonis computantium persuaserat fore ut in imperium adscisceretur (I 22). Das Ergebnis des öffentlichen Geredes, die Zuneigung der Massen, wird somit als Schlüssel des Erfolges angesehen.
Ptolemaeus stachelt Otho zu dem Verbrechen an, aber den Gedanken daran hat der Höfling Neros wohl schon früher gefasst: Sed sceleris cogitatio incertum an repens: studia militum iam pridem spe successionis aut paratu facinoris adfectaverat (I 23). Damit geht die Erzählung über zum Verhältnis Othos zu den Soldaten und zu einem Rückblick auf sein früheres Werben um ihre Gunst. Der Leser sieht, dass Otho nicht den gleichen Fehler macht wie Galba, der die Sympathien leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat. Weshalb Tacitus nicht schon damals von Othos Bemühungen um die Gunst der Soldaten berichtet hat, liegt auf der Hand: dadurch dass er diesen Abschnitt nach Abschluss der Adoptionsfrage in die Darstellung einreiht, hat er dem gesamten Prozess der Initiierung der Verschwörung von den Anfängen mit den Bemühungen um die Gunst der Soldaten (I 23) über die konkreteren Umsturzvorbereitungen (I 24-26) bis zur Entfesselung (ab I 27) eine geschlossene Form gegeben. Dem so entstandenen Komplex könnte man den Titel „Wie entfesselt man eine Massenbewegung?“ geben, denn in der Tat scheint der Autor die Beschreibung der Verschwörung Othos sozusagen für die Inszenierung eines massenpsychologischen Lehrstücks genutzt zu haben.
Betrachten wir die Schilderung der Bemühungen Othos: studia militum iam pridem … adfectaverat, in itinere, in agmine, in stationibus vetustissimum quemque militum nomine vocans ac memoria Neroniani comitatus contubernalis appellando; alios agnoscere, quosdam requirere et pecunia aut gratia iuvare, inserendo saepius querelas et ambiguos de Galba sermones quaeque alia turbamenta vulgi . Man erkennt eine zweifache Strategie:
1. Zum einen versucht Otho durch den direkten Kontakt, durch das Sich-auf-eine-Stufe-Stellen mit den Soldaten und durch Großzügigkeit die eigene Beliebtheit zu steigern. Dabei erkennt der Leser in ihm einen dynamischen und enorm beweglichen Menschen, der die Fähigkeit besitzt, auf die Menge einzugehen, und damit in auffallender Weise mit dem antiquus rigor Galbas kontrastiert.
2. Der zweite („destruktive“) Teil seiner Strategie besteht darin, durch das Einstreuen von Klagen sowie zweideutigen Gerüchten und die Anwendung anderer Techniken zur Aufwiegelung der Massen, die Tacitus allgemein als turbamenta vulgi bezeichnet, weiter die Stimmung gegen den noch amtierenden Princeps zu schüren. Die vorgebrachten Vorwürfe stoßen auf offene Ohren, da aufgrund der schlechten Dienstbedingungen und der allen abverlangten Strapazen große Unzufriedenheit herrscht.
Mit den Worten flagrantibus iam militum animis , die das nächste Kapitel (I 24) einleiten, fasst Tacitus das Ergebnis von Othos Popularitätshascherei und Aufwiegelung gegen den Princeps zusammen.
Nächstes Ziel ist die Gewinnung der Gunst Einzelner und (mit ihrer Hilfe) die Ausweitung der aufrührerischen Stimmung, die in der Metapher eines sich durch das Legen weiterer Brandherde ausbreitenden Flächenbrandes wiedergegeben wird: Flagrantibus iam militum animis velut faces addiderat Maevius Pudens, e proximis Tigellini . is mobilissimum quemque ingenio aut pecuniae indigum et in novas cupiditates praecipitem adliciendo eo paulatim progressus est ut per speciem convivii, quotiens Galba apud Othonem epularetur, cohorti excubias agenti viritim centenos nummos divideret … Damit geht die Erzählung zur Darstellung des geheimen Wirkens einzelner Personen über; als erster Helfer Othos wird Maevius Pudens genannt, der gezielte Lockversuche bei drei als besonders empfänglich eingestuften Personengruppen betreibt, zu einem Großteil bei der früheren Klientel Neros. Des weiteren werden sowohl von ihm als auch von Otho selbst, den Tacitus als animosus corruptor bezeichnet, breit angelegte Bestechungsaktionen der Prätorianerkohorten durchgeführt. Die Erwähnung der beiden zu Helfern gewonnenen Soldaten Barbius Proculus und Veturius führt in der Mitte von Kapitel 25 zum zwischenzeitlichen Höhepunkt der Darstellung: suscepere duo manipulares imperium populi Romani transferendum et transtulerunt . Die Aussage des Satzes erscheint paradox: zwei „gewöhnliche Soldaten“ nahmen das Schicksal des römischen Reiches in ihre Hand. Mit dem Nachschieben des et transtulerunt wird aus dem kaum Vorstellbaren traurige Gewissheit: Ihr Vorhaben ist tatsächlich geglückt. Wie konnte so etwas passieren? Der Leser kennt inzwischen die Antwort: durch die geschickte Manipulation der Massen. Mit dieser zugespitzten Formulierung weist Tacitus auf die Bedeutung der Masse in historischen Zusammenhängen hin. Die Entscheidung darüber, wer an der Spitze des römischen Reiches steht, scheint in gewissem Maße dem Einflussbereich der großen Mächtigen entzogen zu sein.
Das weitere Vorgehen Othos und seiner Helfer: in conscientiam facinoris pauci adsciti: suspensos ceterorum animos diversis artibus stimulant, primores militum per beneficia Nymphidii ut suspectos, vulgus et ceteros ira et desperatione dilati totiens donativi. erant quos memoria Neronis ac desiderium prioris licentiae accenderet: in commune omnes metu mutandae militiae terrebantur . Was hier vorgeführt wird, ist die Technik der flächendeckenden Beeinflussung einer Masse. Nachdem zunächst wenige Helfer durch Bestechung gewonnen und in die Pläne eingeweiht worden sind, versuchen nun diese wiederum, die übrigen, soweit erregt und unentschlossen, anzustacheln, und zwar mit verschiedenen, auf den jeweiligen Personenkreis zugeschnittenen Kunstgriffen ( diversis artibus ).
Nachdem in den letzten beiden Kapiteln nur von den Prätorianern die Rede war, geht die Schilderung in I 26 zu den anderen in der Hauptstadt stationierten Truppen über : infecit ea tabes legionum quoque et auxiliorum motas iam mentis, postquam vulgatum erat labare Germanici exercitus fidem . Auch hier steht der Ausbruch der Rebellion unmittelbar bevor ( parata apud malos seditio, etiam apud integros dissimulatio ). Um so erstaunlicher wirkt vor diesem Hintergrund die Unkenntnis Galbas, dem - wenn auch aus verschiedenen Motiven - sowohl von den Mitverschwörern als auch seinem eigenen Ratgeber Laco Sicherheit vorgegaukelt wird.
Insgesamt vier Kapitel hat Tacitus darauf verwandt, dem Leser die stufenweise Manipulation der Masse der Soldaten durch Othos Vorbereitungen der Rebellion vorzuführen. Seine Darstellung ist so detailliert, dass sie es erlaubt, anhand eines Schaubildes den Mechanismus zu verdeutlichen, wie sich die umstürzlerische Stimmung unter den Soldaten ausgebreitet hat.
hist. I 23-26: Othos Vorbereitung des Aufstandes
(2.4) Die Entfesselung des Aufstandes (I 27-40)
Mit einem deutlichen Absatz setzt in I 27 die Darstellung des eigentlichen Aufstandes ein: Es ist der 15. Januar 69, der Tag der Ermordung Galbas. Während dem mit einem Opfer beschäftigten Princeps drohendes Unheil verkündet wird, zieht sich der anwesende Otho auf ein verabredetes Zeichen hin zurück und begibt sich zu dem unter den Vorschwörern verabredeten Ort: ibi tres et viginti speculatores consultatum imperatorem ac paucitate salutantium trepidum et sellae festinanter impositum strictis mucronibus rapiunt; totidem ferme milites in itinere adgregantur, alii conscientia, plerique miraculo, pars clamore et gladiis, pars silentio, animum ex eventu sumpturi. Von diesem Moment an übernehmen die Soldaten die Rolle des Handelnden und verselbstständigen sich in ihren Aktionen. Schnell wird klar, dass Othos Sorge über die geringe Zahl der Aufständischen unberechtigt ist, denn schon auf dem Weg zum Lager schließen sich weitere Soldaten an. Deren Psyche interessiert Tacitus besonders: Er deutet zunächst ihre Motive ( alii conscientia, plerique miraculo ) und schildert dann ihr Verhalten ( pars clamore et gladiis, pars silentio, animum ex eventu sumpturi ). Was Tacitus damit aufdeckt, ist das typische Mitläuferwesen, dem die aufständische Bewegung ihre rasche Ausweitung verdankt: Die wenigsten machen selbst den Anfang, die meisten schließen sich erst an, wenn das Unternehmen gut angelaufen ist. Bei der Ankunft der Menge am Prätorianerlager (I 28) wird der wachhabende Offizier völlig überrumpelt, lässt die Ankömmlinge passieren und löst damit einen Domino-Effekt aus, da in der Folge auch die anderen Offiziere das ganze Geschehen ohne Widerstand ablaufen lassen: anteposuere ceteri quoque tribuni centurionesque praesentia dubiis et honestis, isque habitus animorum fuit ut pessimum facinus auderent pauci, plures vellent, omnes paterentur . Der prägnant formulierte zweite Teil des Satzes fasst die Geschehnisse rund um den Ausbruch der Rebellion zusammen. Was Tacitus hier zum Ausdruck bringt, ist nichts anderes als das von ihm erkannte Prinzip der Ausweitung eines Aufstandes von einer kleinen Keimzelle zu einer wahren Massenbewegung. Die Dreiteilung p auci - plures - omnes lässt sich in den Kapiteln 27 und 28 sehr gut nachweisen, zumal Tacitus großen Wert darauf gelegt hat, die Psychologie der Beteiligten in den Mittelpunkt zu stellen und die Unterschiede bezüglich der Motive der einzelnen Personengruppen für ihren Anschluss an die Bewegung der Aufständischen deutlich zu machen:
Dem freiwilligen Entschluss der ersten Rebellierer stehen nach der Ausweitung des Aufstandes Motive der Mitläufer gegenüber, die zu einem großen Teil von Gruppenzwang und Sorge um das eigene Wohl bestimmt sind und mit dem eigentlichen Ziel der Revolte kaum in Zusammenhang stehen. Durch die Hektik der sich überstürzenden Geschehnisse bleibt diesen Personen kaum eine andere Wahl als die Masse gewähren zu lassen und somit durch den Verzicht auf Widerstand zu einer indirekten Unterstützung zu werden. Außerdem erkennt man in der vorausgegangenen Vorbereitung der Rebellion (I 24-25) die zentrale Grundlage für ihren Erfolg. Die Manipulation der Soldaten hat eine Stimmung erzeugt, die gleichsam der Nährboden der wachsenden Umsturzbewegung ist. plures vellent - mit diesen beiden Worten wird sowohl das Ergebnis der Massenmanipulation zusammengefasst als auch das entscheidende Bindeglied in der Kette der Ausbreitung benannt. Am Ende von Kapitel 28 steht damit für den Leser fest, dass das Lager der Prätorianer sich nunmehr in der Hand der Aufständischen befindet.
Dann wechselt Tacitus zur Gegenseite über (I 29): Ignarus interim Galba et sacris intentus fatigabat alieni iam imperii deos, cum adfertur rumor rapi in castra incertum quem senatorem, mox Othonem esse, qui raperetur, simul ex tota urbe, ut quisque obvius fuerat, alii formidine augentes, quidam minora vero, ne tum quidem obliti adulationis . Während der völlig ahnungslose Galba noch immer mit seinen Opferhandlungen beschäftigt ist, bricht ein Gerücht herein. Sogleich gewinnt die Situation an Dramatik, da die Verbreitung des Gerüchts zur spontanen Entstehung eines Menschenauflaufs führt. Tacitus schildert die Reaktionen der Masse, die von Gefühl und Zwang bestimmt sind: Während die einen aus verständlicher Angst übertreiben, bagatellisieren die anderen den wahren Sachverhalt, weil sie es sich unter den Kaisern zur Gewohnheit gemacht haben, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Unter dem Eindruck des Gerüchts beschließen Kaiser und Berater, Piso zur wachhabenden Kohorte auf den Palatin zu schicken, um sich ihrer Unterstützung zu versichern. Dort lässt Tacitus ihn eine längere allocutio an die Soldaten halten (I 29-30) - ein Verzweiflungsschritt, der am Verlauf der Ereignisse nichts mehr zu ändern vermag. Sowohl die Truppen auf dem Palatin als auch die übrigen Legionen in der Stadt sind schon von der sich ausbreitenden Massenbewegung erfasst worden. Ein offener Abfall aller Heeresabteilungen scheint unmittelbar bevorzustehen (I 31).
Der Schauplatz wechselt zurück auf den Palatin (I 32): Universa iam plebs Palatium implebat, mixtis servitiis et dissono clamore caedem Othonis et coniuratorum exitium poscentium ut si in circo aut theatro ludicrum aliquod postularent: neque illis iudicium aut veritas, quippe eodem die diversa pari certamine postulaturis, sed tradito more quemcumque principem adulandi licentia adclamationum et studiis inanibus . Inzwischen hat der gesamte Pöbel das Palatium angefüllt. Der Leser kennt die Ursache für den Massenauflauf: Die Gerüchte von Othos Aufstand, der Abfall vieler Legionen haben die Menschen zusammengetrieben. Indem Tacitus aber den Grund verschweigt, verleiht er dem Geschehen eine Atmosphäre des Irrationalen. Galba hat, so glaubt man zunächst, die gesamte Plebs auf seiner Seite. Doch dass dieses Bild trügt, enthüllt sich unmittelbar danach in der Feststellung, dass es der Menge nicht um die Niederschlagung des Aufstandes geht, sondern darum, dass ihr ein Schauspiel geboten wird (ludicrum aliquod ).
Sie führt sich auf wie im Zirkus oder Theater - die Stelle weist deutlich auf I 4 zurück ( pl ebs sordida et circo ac theatris sueta ) und erinnert zugleich an das von Juvenal in satirischer Überspitzung gezeichnete Bild einer nur an „Brot und Spielen“ interessierten Volksmasse. (14) Scharf ist Tacitus' Kritik an der Unaufrichtigkeit dieses Verhaltens, und die Formulierung tradito more zeigt, dass d er geschilderten Situation nach seiner Überzeugung ein allgemeingültiger Charakter zukommt. Immer wird man die Beifalls- und Mißfallensäußerungen der Plebs unter diesem Blickwinkel zu sehen haben: leere Gesten, grausame Sensationsgier. (15)
Wie wird der noch amtierende Kaiser auf diese leeren Sympathiebekundungen reagieren? Galba wird von seinen untereinander zerstrittenen Beratern vor die Alternative gestellt, entweder in der Hoffnung auf ein Abflauen der Umsturzbewegung im Palatium zu bleiben oder hinauszugehen und mit der Unterstützung der aufgebrachten Volksmenge den Aufständischen entgegenzutreten. Doch bevor er die Handlungsinitiative übernehmen kann, gewinnt das Geschehen von einer ganz anderen Seite her an Dynamik. Die Menge vor dem Palast gerät zunehmend in heftige Bewegung. Auslösendes Moment ist wie in I 29 ein Gerücht (I 34): vixdum egresso Pisone occisum in castris Othonem vagus primum et incertus rumor: mox, ut in magnis mendaciis, interfuisse se quidam et vidisse adfirmabant, credula fama inter gaudentis et incuriosos. multi arbitrabantur compositum auctumque rumorem mixtis iam Othonianis, qui ad evocandum Galbam laeta falso vulgaverint . Detailliert schildert Tacitus die Wirkung, die das Gerücht auf die Masse ausübt. Hierbei zeichnen sich verschiedene Phasen ab: Am Anfang ( primum ) steht die schwankende Ungewissheit über die Kunde, Otho sei im Lager ermordet worden. Im nächsten Schritt ( mox ) gewinnt die Nachricht scheinbar an Glaubwürdigkeit: Es melden sich angebliche Augenzeugen. Dass es sich dabei nur um scheinbare Gewissheit handelt, wird vom Autor noch vor der Erwähnung der Augenzeugen entlarvt: ut in magnis mendaciis ; auch hierbei hat man es mit einem typischen Massenphänomen zu tun. Durch eine angehängte Erklärung wird dieses Phänomen psychologisch gedeutet: In besonders von Emotionen wie Freude und Sorglosigkeit geprägten Situationen trifft ein Gerücht infolge der Leichtgläubigkeit der Menge auf offene Ohren ( credula fama inter gaudentis et incuriosos ). Noch eine weitere Erklärung bietet Tacitus, indem er im nächsten Satz die Möglichkeit einräumt, dass das Gerücht als „eine bewußt verwendete Waffe im politischen Kampf“ (16) von außen an die Masse herangetragen worden ist, um Galba mit der frohen Kunde von der Ermordung Othos aus seinem Palast zu locken. Demnach wäre der rumor und das Auftreten angeblicher Augenzeugen das Werk von Othonianern gewesen, die sich unter die Menge gemischt haben.
Nach primum und mox leitet tum zu Beginn des nächsten Kapitels (I 35) die dritte Phase der Wirkung des Gerüchts auf die Menge ein: Tum vero non populus tantum et imperita plebs in plausus et immodica studia sed equitum plerique ac senatorum, posito metu incauti, refractis Palatii foribus ruere intus ac se Galbae ostentare, praereptam sibi ultionem querentes, ignavissimus quisque et, ut res docuit, in periculo non ausurus, nimii verbis, linguae feroces; nemo scire et omnes adfirmare, donec inopia veri et consensu errantium victus sumpto thorace Galba inruenti turbae neque aetate neque corpore resistens sella levaretur . Nachdem die Masse die Nachricht von der Ermordung Othos für gesichert hält, brechen alle Anwesenden in übermäßige Beifallsbekundungen für Galba aus. Bitter ist die Feststellung des Historikers, dass diese Masse keineswegs aus der imperita plebs allein besteht, sondern sich hier alle Gruppen des Volkes vereint finden; Unterschiede des Standes und Ranges spielen keine Rolle mehr. Die Menge ist nun nicht mehr zu halten: Der gedrängte Stil spiegelt die hitzige Atmosphäre der sich überschlagenden Ereignisse wider. Sie dringt in den Palast ein, zeigt sich vor dem Princeps und ergeht sich in Schmeicheleien. Eine paradoxe Situation, denn schließlich war es das Volk, das von Anfang der Erzählung an quasi der anonyme Gegner Galbas war und aufgrund seiner Unzufriedenheit und Sehnsucht nach Nero überhaupt erst die Grundlage für Othos Umsturzversuch geboten hat. Deshalb lässt es sich der Autor auch hier nicht nehmen, mit dem Verweis auf das zukünftige Geschehen die Unaufrichtigkeit dieser Bekundungen aufzudecken: ignavissimus quisque et, ut res docuit, in periculo non ausurus, nimii verbis, linguae feroces . Mit diesem Satz spricht er ein weiteres typisches Massenphänomen an: das Auftreten von Maulhelden, denen die Zugehörigkeit zu der großen Masse ein derartiges Gefühl von Gefahrlosigkeit verleiht, dass sie sich verbal weit aus dem Fenster lehnen.
Nochmals betont Tacitus, dass dem Wahn der Massen jede reale Grundlage fehlt ( nemo scire et omnes adfirmare), bevor die Perspektive auf den von der Menge umgebenen Princeps wechselt. Wie wird er sich angesichts der direkten Konfrontation mit der Menge verhalten? - Er erliegt dem Massenwahn ( inopia veri et consensu errantium victus ). Durch die Gerüchte und Schmeicheleien der Menge ist eine Scheinwirklichkeit entstanden, die Galba über seine wahre Lage täuscht. Die Masse entscheidet unmittelbar über seine Handlungsweise. In einer rational nicht begründeten Euphorie legt er seinen Panzer an, wird von der Menge auf einen Tragsessel gehoben und begibt sich damit in die Hände der Masse. (17) Trotzdem belässt Tacitus ihm seine Herrscherwürde, die im folgenden Auftritt mit Othos angeblichem Mörder zum Ausdruck kommt: obvius in Palatio Iulius Atticus speculator, cruentum gladium ostentans, occisum a se Othonem exclamavit; et Galba ‘commilito', inquit, ‘quis iussit?' insigni animo ad coercendam militarem licentiam, minantibus intrepidus, adversus blandientis incorruptus . Die Tragik Galbas liegt in dem Gegensatz zwischen diesem heldenhaften Pathos und dem verhängnisvollen Irrtum, in dem sich der vom Wahn der Massen Angesteckte befindet. (18)
Mitten auf diesem dramatischen Höhepunkt bricht Tacitus die Handlung ab und wechselt erneut den Schauplatz (I 36). Mit haud dubiae iam in castris omnium mentes tantusque ardor … geht der Autor zu Otho über, dem sich die Gunst der Soldaten unzweifelhaft zuneigt, und malt ein detailliertes Bild von der euphorischen Stimmung im Lager : strepere cuncta clamoribus et tumultu et exhortatione mutua, non tamquam in populo ac plebe, variis segni adulatione vocibus, sed ut quemque adfluentium militum aspexerant, prensare manibus, complecti armis, conlocare iuxta, praeire sacramentum, modo imperatorem militibus, modo milites imperatori commendare.
Ganz gezielt wird das Verhalten der Soldatenmasse mit dem des Pöbels in Kontrast gesetzt: Die asyndetische Aufzählung der einzelnen Tätigkeiten ruft den Eindruck hektischer Betriebsamkeit bei der Truppe hervor, doch verlaufen die Aktionen hier, wie die Parallelismen auszudrücken scheinen, in geordneten Bahnen und sind von Zielstrebigkeit geprägt. Mit den letzten Gliedern der Aufzählung modo imperatorem militibus … commendare geht der Blick von den Soldaten zu Otho selbst über: nec deerat Otho protendens manus adorare vulgum, iacere oscula et omnia serviliter pro dominatione . Nicht nur die Handlungsweise von Volk und Soldaten, sondern auch die Reaktionen Galbas und Othos sind verschieden. Zwar gehorchen beide der augenblicklichen Stimmung, doch Galba tut es wie gelesen consensu errantium victus und ist passiv. Otho hingegen zeigt sich aktiv: Er bezeugt der Menge seine Ehrerbietung, wirft Kusshände. Mit dem gleichen Erfolgsrezept, mit dem er schon in der Zeit vor der Verschwörung um die Gunst der einfachen Soldaten gebuhlt hatte, indem er nämlich seine Verbundenheit zu ihnen dokumentiert, gelingt es Otho auch jetzt, die Masse für sich zu gewinnen. Er beherrscht die Situation vollkommen und weiß genau, zu welchem Zeitpunkt er die Masse auf welche Weise anzusprechen hat: postquam universa classicorum legio sacramentum eius accepit, fidens viribus, et quos huc singulos extimulaverat, accendendos in commune ratus pro vallo castrorum ita coepit . Die Situation scheint dem Taktiker reif zu sein für die letzte Phase des Umsturzplans. Seine Ansprache an Prätorianer und Flottensoldaten (I 37-38) lässt sich in vier Abschnitte gliedern: (19)
(a) Verbinden des Schicksals der Soldaten mit dem eigenen
Mit der Feststellung Othos, dass er und die Soldaten auf Gedeih und Verderben verbunden seien und nicht nur ihm, sondern auch ihnen im Falle des Misslingens der Revolte und des Verbleibens Galbas an der Macht ein schmähliches Ende bevorstehe ( auditisne ut poena mea et supplicium vestrum simul postulentur? adeo manifestum est neque perire nos neque salvos esse nisi una posse ), wird Angst unter den Anwesenden geschürt, um ihnen mit der Flucht nach vorn den einzigen Weg in Aussicht zu stellen, dieser Bedrohung zu entgehen.
(b) Die saevitia Galbas
Durch die Erinnerung an die in den eigenen Reihen erlittenen Opfer sowie die Aufzählung vieler hochgestellter Persönlichkeiten, die Galba habe ermorden lassen, tritt neben die Angst um die eigene Person zusätzlich die Erbitterung über Galba. Die Erbitterung wird im Folgenden weiter gesteigert durch die Aufdeckung der falsa nomina (nam quae alii scelera, hic remedia vocat, dum falsis nominibus severitatem pro saevitia, parsimoniam pro avaritia, supplicia et contumelias vestras disciplinam appellat ). Damit greift Otho bis auf den Vorwurf des senex alle Punkte auf, die Bestandteil des öffentlichen Geredes waren, um noch einmal das in der öffentlichen Meinung entstandene negative Bild Galbas zu verfestigen. Auf das Thema, welches in der letzten Zeit besonders die Gemüter erhitzt hat, geht er genauer ein:
(c) Die avaritia Galbas
Hierbei lässt er nicht nur Galba Revue passieren, sondern erregt mit der Erwähnung der Bereicherung seiner Günstlinge Icelus, Vinius und Piso Neid und Mißgunst, besonders dadurch, dass er im Falle des Vinius den Vorwurf der avaritia geschickt auf das den Soldaten beharrlich vorenthaltene donativum anspielt.
(d) Der Appell - vestra virtus expectatur
Während die Abschnitte I bis III den Zweck haben, diejenigen Emotionen noch einmal aufzuputschen, welche die Truppe auf eine Aktion hindrängen (Angst, Erbitterung, Neid), geht Otho im vierten Abschnitt auf Stimmungskomponenten ein, welche sie von der Aktion abhalten könnten. Da wäre zunächst die Hoffnung, dass der von Galba nominierte Nachfolger weniger streng und weniger geizig sein werde. Otho redet ihnen diese Hoffnung aus. Das durch das Wetterprodigium ( vidistis, commilitones, notabili tempestate etiam deos infaustam adoptionem aversantis ) bekundete Votum der Götter dient ihm dazu, die dem Senat und dem römischen Volk beigelegte Stimmung gegen Galba und seinen Nachfolger als glaubhaft erscheinen zu lassen ( idem senatus, idem populi Romani animus est: vestra virtus expectatur ): Die Meuterer dürfen sich als Vollstrecker göttlichen Willens fühlen. Mit der Versicherung, alle Truppen außerhalb des Lagers stünden auf Seiten der Verschwörer, wird der Masse die Angst vor einem Misslingen des Umsturzes genommen und ihr Selbstvertrauen so weit wie möglich gefestigt, bevor Otho sie zum Endkampf aufruft.
Der demagogische Charakter der Rede tritt klar zutage. Zielstrebig hat der Redner die Stimmung auf den Endkampf hin geschürt, und die Rede verfehlt ihre beabsichtigte Wirkung nicht: Die Soldaten stürmen zu den Waffen, die in Kapitel 36 vom Autor hervorgehobene Ordnung in den Aktionen ist einem durchaus mit dem Verhalten des Pöbels vergleichbaren chaotischen Durcheinander gewichen: rapta statim arma, sine more et ordine militiae … Den Offizieren bleibt erneut keine andere Wahl als die entfesselte Masse gewähren zu lassen (nullo tribunorum centurionumque adhortante ).
Inmitten dieser stark ansteigenden Spannungskurve wird die Handlung abgebrochen und der Schauplatz mit Galba wieder aufgenommen (I 39): Iam exterritus Piso fremitu crebrescentis seditionis et vocibus in urbem usque resonantibus, egressum interim Galbam et foro adpropinquantem adsecutus erat; iam Marius Celsus haud laeta rettulerat, cum alii in Palatium redire, alii Capitolium petere, plerique rostra occupanda censerent, plures tantum sententiis aliorum contra dicerent, utque evenit in consiliis infelicibus, optima viderentur quorum tempus effugerat . Die in I 35 geschilderte überschwängliche Stimmung auf Seiten Galbas weicht der Ernüchterung. Den Kaiser, der inzwischen - wie es der Plan der Gerüchtemacher vorsah - unvorsichtigerweise den Palast verlassen hat, erreichen die unerfreulichen Nachrichten vom wachsenden Aufruhr, doch seine untereinander zerstrittenen Berater vergeuden trotz prekärer Lage die verbleibende Zeit. Letztendlich weicht die von der Menschenmenge geschaffene Scheinwirklichkeit, durch die Galba lange Zeit über seine wahre Lage hinweggetäuscht wurde, plötzlich der Realität, als seine Umgebung auf neue Schreckensbotschaften hin auseinanderstiebt ( proximorum diffugia ) und die Beifallsbekundungen nachlassen. Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem sich vieles von dem bewahrheitet, was Tacitus in den Kapiteln zuvor durch Vorausblicke angekündigt hatte: languentibus omnium studiis, qui primo alacres fidem atque animum ostentaverant .
Das Unheil nimmt nun seinen Lauf. Kapitel 40 lässt sich in drei Abschnitte gliedern: die Schilderung der Ankunft des Princeps auf dem Forum, dann den Wechsel zu Otho, der den Truppen den Befehl zum sofortigen Angriff gibt, und schließlich die Ankunft der Soldaten auf dem Forum, so dass am Ende beide Handlungsstränge zusammengeführt werden. Zunächst der erste Abschnitt: agebatur huc illuc Galba vario turbae fluctuantis impulsu completis undique basilicis ac templis, lugubri prospectu. neque populi aut plebis ulla vox, sed attoniti vultus et conversae ad omnia aures; non tumultus, non quies, quale magni metus et magnae irae silentium est . Mit wenigen Strichen malt Tacitus die Szenerie plastisch aus. Das vorangestellte Verb agebatur zeigt an, dass Galba selbst zu keiner Handlung mehr fähig ist, sondern dem planlosen Gedränge der Menge auf dem Forum hilflos ausgeliefert ist. Im nächsten Satz beschreibt der Autor das Verhalten der Volksmasse: Sie verharrt in betroffen-lauerndem Schweigen und beobachtet das sich ihr bietende spectaculum aus sicherer Entfernung.
Noch einmal wendet sich Tacitus von Galba weg zu Otho: Othoni tamen armari plebem nuntiabatur; ire praecipites et occupare pericula iubet. Ein Gerücht erreicht Otho, das jeglicher realer Grundlage entbehrt, denn der tatsächlichen Haltung der Volksmenge gegenüber erscheint die Meldung, die plebs werde bewaffnet, als eine Groteske. Die Nachricht ist der Auslöser für Othos überstürzten Befehl und damit für die Soldaten zum Aufbruch: igitur milites Romani, quasi Vologaesum aut Pacorum avito Arsacidarum solio depulsuri ac non imperatorem suum inermem et senem trucidare pergerent, disiecta plebe, proculcato senatu, truces armis, rapidi equis forum inrumpunt. nec illos Capitolii aspectus et imminentium templorum religio et priores et futuri principes terruere quo minus facerent scelus cuius ultor est quisquis successit . Römische Soldaten stürmen gegen ihren rechtmäßigen Herrscher an, als sei er ein ärgster Staatsfeind; die Durchführung ihres schändlichen Vorhabens ist von äußerster Rücksichtslosigkeit gegenüber allen anderen ( disiecta plebe, proculcato senatu ) geprägt. Einmal mehr werden hier die wahren Machtverhältnisse deutlich.
Die Darstellung der Ereignisse am Tag des Umsturzes (ab I 27) hat Tacitus in zwei Handlungsstränge aufgeteilt. Mehrfach wird der eine Handlungsstrang jeweils an einem Höhepunkt unterbrochen, um zum anderen Schauplatz hinüberzuschwingen. Dieses wiederholte „Umblenden“ führt zu einer allmählichen Kumulierung der inhaltlichen Spannung, (20) die bei gleichzeitiger Verengung der räumlichen Distanz der einzelnen Szenen schließlich am Ende von Kapitel 40, in der der Strom der Handlung wieder vereint ist, ihren absoluten Höhepunkt erreicht. In der folgenden schematischen Übersicht werden noch einmal die einzelnen Übergänge zwischen den Hauptparteien Galba und Otho veranschaulicht.
hist. I 27-40: Die Entfesselung des Aufstandes
Betrachtet man die Übergänge von einem Handlungsstrang zum anderen, so fällt auf, dass die einzelnen Szenen zumeist durch eine Beschreibung der momentanen Stimmung und des Verhaltens der Masse sowohl eingeleitet als auch vor dem Umblenden abgeschlossen werden - allein schon daran lässt sich die herausragende Stellung erkennen, die der Autor dem Verhalten der Masse und ihrer jeweiligen Stimmung in den historischen Vorgängen beimisst. An der Positionierung derartiger Charakterisierungen jeweils am Ende einer Szene sieht man ferner, dass die dramatische Spannung der taciteischen Erzählung gerade auf der Schilderung des Massenverhaltens beruht.
In vier Szenen lässt Tacitus in den Kapiteln 27 bis 40 die Masse des Volkes agieren: Bei der Nachricht von Othos Aufenthalt im Prätorianerlager (I 29); bei der Beratung, ob Galba den Palast verlassen soll (I 32); nach der Meldung von Othos angeblichem Tod (I 34-35); auf dem Forum, kurz bevor die Soldateska dort eintrifft (I 39-40). Der Einfluss auf die Handlungsweise des Kaisers wird von Mal zu Mal größer und erreicht seinen Höhepunkt in I 40, wo Galba auf dem Forum völlig hilflos der Masse ausgeliefert ist. (21) Daneben lässt Tacitus nie Zweifel an der wahren Lage: Dadurch dass jedesmal im Zusammenhang mit dem Auftreten des Volkes auch vom Verhalten des Heeres berichtet wird (I 28-29, 31-32, 35-36, 38-39), ist der Leser stets über die wirklichen Machtverhältnisse orientiert. Der Seitenblick auf das Geschehen bei den Soldaten dient dazu aufzuzeigen, wie sich Galba mit der Volksmasse auf eine äußerst trügerische Kraft einlässt und sein Verhängnis dadurch beschleunigt wird, dass er sich von ihr und den Gerüchten beeinflussen lässt.
(2.5) Othos Triumph (I 41-49)
Nach der Darstellung der wachsenden Aufstandsbewegung, dem Hin und Her zwischen den Schauplätzen und der stetigen Steigerung der dramatischen Spannung zeigt sich der Ausgang des Aufstandes einfach und geradlinig. Der Aufbau ist dreigestaltig: das Gemetzel auf dem Forum (I 41-43), der Triumph Othos und der Soldaten (I 44-47) und die Nekrologe auf Piso, Titus Vinius und Galba (I 48-49). Wer am Ende von Kapitel 40 nach dem Eintreffen der Otho ergebenen Soldaten damit rechnete, dass es im Folgenden zu einem erbitterten Kampf zwischen den noch verbliebenen Getreuen Galbas und den Othonianern kommen würde, sieht sich schnell getäuscht: Viso comminus armatorum agmine vexillarius comitatae Galbam cohortis (Atilium Vergilionem fuisse tradunt) dereptam Galbae imaginem solo adflixit: eo signo manifesta in Othonem omnium militum studia, desertum fuga populi forum, destricta adversus dubitantis tela. iuxta Curtii lacum trepidatione ferentium Galba proiectus e sella ac provolutus est (I 41).
Die Tat eines einzelnen, das Abreißen des Kaiserbildes vom Schaft des Feldzeichens, ist für alle anderen das Signal zum offenen Übergang zu Otho. Diese Passage liefert das prägnanteste Beispiel für die plötzliche Wandelbarkeit der Masse. Der Kaiser, von seiner Leibkohorte verlassen, wird durch das kopflose Hin und Her der Träger aus dem Tragsessel geschleudert. Wichtig erscheinen dem Autor seine letzten Worte vor der Ermordung, die wie in I 35 Tacitus' Bemühen erkennen lassen, dem sterbenden Princeps die ihm gebührende Würde zu erhalten: plures obtulisse ultro percussoribus iugulum: agerent ac ferirent, si ita e re publica videretur. non interfuit occidentium quid diceret . Die Brutalität des Vorgehens der Soldaten ist für den Leser umso erstaunlicher, als Tacitus zuvor nirgends einen Befehl Othos zur Ermordung Galbas erwähnt hatte. Als die - unbestätigte und falsche - Meldung an ihn herangetragen wurde, Galba suche das Volk zu bewaffnen, gab er den hastigen Befehl: ire praecipites et occupare pericula (I 40). Dieser Auftrag klingt in der Tat auffällig unbestimmt und allgemein. Es stellt sich die Frage, ob er sich nicht mit der Gefangennahme Galbas hätte begnügen können. Doch diese Entscheidung wurde Otho von den Soldaten durch den Mord sozusagen abgenommen. Einmal mehr hat sich die Masse in ihren Aktionen verselbständigt, sie erscheint als die eigentliche Entscheidungs- und Handlungsinstanz. (22)
Nach der Darstellung des weiteren Gemetzels auf dem Forum, dem auch Piso zum Opfer fällt (I 43), wendet sich Tacitus schließlich dem Triumph des Siegers zu. Sein besonderes Interesse gilt auch hier dem Verhalten der Massen und ihrer Haltung gegenüber dem neuen Imperator: zunächst der Blick auf die Soldaten (I 44), die sich im Prahlen mit ihren blutigen Taten gefallen ( praefixa contis capita gestabantur inter signa cohortium iuxta aquilam legionis, certatim ostentantibus cruentas manus qui occiderant, qui interfuerant, qui vere qui falso ut pulchrum et memorabile facinus iactabant ); daran schließt sich in I 45 die Beschreibung der geradezu sklavischen Kriecherei von Senat und Volk an, aus der man die fassungslose Entrüstung des Autors über eine derartige Gesinnungslosigkeit herauszuhören meint ( alium crederes senatum, alium populum: ruere cuncti in castra, anteire proximos, certare cum praecurrentibus, increpare Galbam, laudare militum iudicium, exosculari Othonis manum; quantoque magis falsa erant quae fiebant, tanto plura facere ). Dieses Verhaltensschema ist dem Leser inzwischen bestens bekannt. Man denke zurück an das Verhalten der Volksmassen auf dem Palatin gegenüber dem früheren Princeps (I 35): … se Galbae ostentare, praereptam sibi ultionem querentes, ignavissimus quisque et, ut res docuit, in periculo non ausurus, nimii verbis, linguae feroces . Dasselbe Geltungsbedürfnis, dieselbe Gewinnsucht, dieselben Schmeicheleien. Schon jetzt steht fest: Auch die Sympathien der Massen für Otho brauchen nicht von Dauer zu sein, auch sein Regiment steht auf unsicherem Grund.
(3.1) Die Rolle der Massen
Othos erfolgreicher Umsturz ist das Ergebnis einer Kette von Umständen und Ereignissen, an der die anonymen Massen maßgeblichen Anteil haben. Sie sind neben Galba und Otho die Hauptakteure des ersten Historienbuches. Nicht umsonst hat Tacitus in der Einleitung (I 4-5) seine Schilderung des status urbis auf die Beschreibung der varii motus animorum der einzelnen Personengruppen konzentriert und durch die Darstellung ihrer psychischen Verfassung die Triebkräfte offengelegt, die dem Massenverhalten zugrunde liegen, das für den Gang der Handlung mitentscheidend ist. So weist die der plebs sordida beigelegte Charakterisierung maesti et rumorum avidi voraus auf die Sensationsgier, die schnelle Versammlung der Menschenmassen auf dem Palatin vor dem Kaiserpalast (I 29), die Leichtgläubigkeit gegenüber Gerüchten, die daraus resultierende Scheinwirklichkeit, der sich Galba zu seinem eigenen Verhängnis nicht entziehen kann (I 35). Und was man als erstes vom miles urbanus erfährt, ist seine niedergeschlagene Stimmung aufgrund der empfundenen avaritia und severitas des neuen Princeps, die später zum Nährboden für die rasante Ausdehnung der von Otho angezettelten Rebellion wird.
(3.2) Die Macht der öffentlichen Meinung
Daneben wird durch das Gerede der Soldaten in bezug auf Galba das senex -Motiv ins Spiel gebracht, das schon bald in die Gesamtöffentlichkeit eindringt (I 7) und bis zur Entscheidung durch die Adoption Gesprächsstoff Nr.1 bleibt. Bereits in der Einleitung wird herausgestellt, welch ungeheurer Machtfaktor die öffentliche Meinung als anonyme Stimme der breiten Masse ist. Schon vor dem Auftreten Othos ist Galbas Lage in gewisser Hinsicht ausweglos : et inviso semel principi seu bene seu male facta parem invidiam adferebant . Dabei ist die Abneigung der Stadtrömer gegenüber dem Princeps mit logischen Argumenten kaum zu begründen. Vielmehr sind es gefühlsbedingte Vorurteile, die das Verhältnis zum neuen Kaiser belasten: Man trauert den vergangenen Zeiten unter Nero nach. Galba glaubt, sich dem Druck der öffentlichen Meinung beugen zu müssen, und aus den Worten des Princeps vernimmt der Leser : et audita adoptione desinam videri senex, quod nunc mihi unum obicitur (I 16).
(3.3) Otho – ein Kenner der Massen
Trotz Adoption verbessert sich Galbas Situation nicht. Der Grund: er versteht es nicht, mit den Massen umzugehen. Hierin ist der entscheidende Gegensatz zu Otho zu sehen, der zugleich der Schlüssel für dessen Erfolg ist: Tacitus' Otho ist ein Kenner der Psychologie der Massen; er versteht sie zu behandeln, indem er ihnen entgegenkommt. Er erkennt, dass die Stimmung für ihn, in dem man einen zweiten Nero sieht, günstig ist (I 21), und versteht sich auf die Technik der Massenbeeinflussung (I 23-26, 36-38). Er weiß, dass der Weg zur Macht nur über die Unterstützung der Soldaten führt, nicht über das Volk, dessen Sympathie nur leerer Schein ist.
(3.4) Die Funktionen der Gerüchte (23)
Auffällig ist, wie häufig Tacitus Gerüchten als Stimmen des Anonymen Raum gibt. Allein an sieben Stellen innerhalb der Kapitelfolge 4 bis 45 findet sich das Wort rumor . (24) Dabei sind die Funktionen, die die einzelnen Gerüchte im Rahmen der Erzählung besitzen, ganz verschieden. Sie dienen zum einen als Barometer für die Stimmung in der Bevölkerung (siehe 3.2.), werden daneben auch als Mittel zur direkten und indirekten Charakterisierung der Hauptpersonen Galba und Otho eingesetzt . Während hierbei unter direkter Charakterisierung das allgemeine Gerede über die beiden Kontrahenten gemeint ist, hat man unter indirekter Charakterisierung die Art zu verstehen, wie sie selbst auf Gerüchte und Gerede reagieren. Galba, das Opfer der allgemeinen Stimmung in Rom, erscheint in Zusammenhang mit Gerüchten stets passiv, während dagegen Otho, der Favorit der allgemeinen Stimmung in Rom, sie mehrfach für seine eigenen Zwecke einsetzt. Das von seinen Anhängern in Umlauf gebrachte Gerücht occisum in castris Othonem (I 34) bietet dem „Psychologen“ Tacitus einerseits die Gelegenheit, das Verhalten der Menge in einer Massenhysterie dramatisch auszugestalten, dient ihm also als Mittel zur Charakterisierung der Masse . Andererseits war ebendieses Gerücht der ursprüngliche Auslöser für Galbas Auszug aus seinem Palast auf das Forum, wo er dann den Tod fand. Insofern hat der rumor entscheidenden Anteil am Gelingen des Umsturzversuchs, und der Leser fragt sich, welchen Ausgang die Ereignisse genommen hätten, wäre Galba im Palast geblieben. Gerüchte können also, wie Tacitus an diesem Beispiel mustergültig gezeigt hat, Ursachen bedeutender historischer Ereignisse sein. Somit lohnt sich, wie der Erfolg Othos beweist, der Versuch, sie als Kampfmittel in der „Politik“ einzusetzen.
Ralf Schult
Hümmlingweg 1
13589 Berlin
ralf.schult1@freenet.de
(1) A. MÜLLER/M. SCHAUER, Bibliographie für den Lateinunterricht Clavis Didactica Latina, Bamberg 1994.
(2) A. STÄDELE (Hg.): Die großen römischen Historiker Livius Sallust Tacitus, Bamberg 1996, S. 133.
(3) Berlin (Vorläufiger Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, Gymnasiale Oberstufe, Latein, 1994); Brandenburg (Vorläufiger Rahmenplan Latein, Sekundarstufe II, 1992); Niedersachsen (Rahmenrichtlinien für das Gymnasium, Latein, Gymnasiale Oberstufe, 1982); Nordrhein-Westfalen (Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II, Gymnasium, Latein, 1981); Rheinland-Pfalz (Lehrplan Latein, Grund- und Leistungsfach, Gymnasiale Oberstufe, 1983); Thüringen (Lehrplan für das Gymnasium, Latein, 1999).
(4) V. PÖSCHL: Der Historiker Tacitus, in: V. PÖSCHL (Hg.): Tacitus, Darmstadt 1969, S. 166 ff.; G. LE BON: Psychologie des foules, Paris 1895, deutsch: Psychologie der Massen, Stuttgart 1964.
(5) W. RIES: Gerücht, Gerede, öffentliche Meinung. Interpretationen zur Psychologie und Darstellungskunst des Tacitus, Heidelberg 1969, S. 131
(6) PÖSCHL a.a.O., S. 170 ff.
(7) Eine detailliertere Analyse, die zudem stärker auf den Vergleich der taciteischen Massendarstellung mit den Konzepten der von LE BON begründeten modernen Massenpsychologie ausgerichtet ist, habe ich in meiner wissenschaftlichen Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung mit dem Titel Interpretationen zur Psychologie der Massen bei Tacitus (2002) vorgelegt. Eine wichtige Grundlage meiner Interpretation bildet die in Anm. 5 angeführte Dissertation von Wolfgang RIES als die bis heute maßgebliche Arbeit zur Psychologie der Massen im Werk des Tacitus.
(8) Zur Gliederung des gesamten Erzählkomplexes siehe auch P. AMMANN: Der künstlerische Aufbau von Tac. hist. I 12 II 51, Zürich 1931.
(9) M. FUHRMANN: Das Vierkaiserjahr bei Tacitus. Über den Aufbau der Historien Buch I-III, Philologus 104, 1960, S. 255
(10) RIES a.a.O., S. 101 f.
(11) Zu diesem Abschnitt siehe auch M. G. MORGAN: The Unity of Tacitus, Histories 1.12-20, Athenaeum 81, 1993, S. 567-586
(12) Eine detaillierte Analyse der berühmten Rede, die vielfach für Tacitus' politisches Glaubensbekenntnis gehalten wurde, liefert K. CHRIST: Tacitus und der Prinzipat, in: ders., Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Darmstadt 1983, S. 108 ff.
(13) F. KLINGNER: Die Geschichte Kaiser Othos bei Tacitus, in: V. PÖSCHL: Tacitus, Darmstadt 1969, S. 412.
(14) Juv. Sat. 10, 80 f.: duas tantum res anxius optat, panem et circenses .
(15) RIES a.a.O., S. 120.
(16) RIES a.a.O., S. 121.
(17) Die Szene erinnert an I 27: tres et viginti speculatores [sc. Othonem] consalutatum imperatorem ac paucitate salutantium trepidum et sellae festinanter impositum strictis mucronibus rapiunt . In beiden Fällen wird die Masse zum eigentlichen Handelnden, die Protagonisten Otho bzw. Galba werden jeweils in eine passive Rolle gedrängt und verlieren die Kontrolle über das Geschehen.
(18) AMMANN a.a.O., S. 38 f.
(19) Siehe die detaillierte inhaltliche und stilistische Analyse der Rede bei C. NEUMEISTER: Otho. Demagoge Staatsmann Stoischer Held. Seine drei Reden in den Historien des Tacitus (I 37-38, 83-84, II 4-7), in: C. NEUMEISTER/W. RAECK: Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Frankfurt 1998, S. 192 ff.
(19) P. SCHUNCK: Studien zur Darstellung des Endes von Galba, Otho und Vitellius in den Historien des Tacitus, SO 39, 1964, S. 48 ff.
(21) U. RADEMACHER: Die Bildkunst des Tacitus, Hildesheim 1975, S. 171
(22) SCHUNCK a.a.O., S. 51.
(23) Zu den vielfältigen Funktionen der Gerüchte in den historischen Werken des Tacitus siehe RIES a.a.O., S. 173 ff., speziell zu hist. I 4-49 ferner S. 130 ff.
(24) rumorum avidi (I 4), ambitiosis rumoribus (I 12), rumoribus nihil silentio transmittentium (I 13), rumore
computantium (I 22), adfertur rumor (I 29), vagus primum et incertus rumor (I 34), compositum auctumque rumorem (I 34); andere Wörter als Varianten: sermo (I 5, I 12), fama (I 17, I 34), nuntius bzw. nuntiare (I 7, I 19, I 40).