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Die zahlreichen Funde griechischer Papyri haben seit der Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts einen bis dahin nicht gekannten Einblick in das Alltagsleben der antiken Welt ermöglicht. Erst seit diesen Funden ist die antike Schule und ihre Praxis greifbar geworden. Vor den Papyrusfunden gab es praktisch keine aussagekräftige Bezeugung. Bekannt war zwar beispielsweise ein Testimonium wie das des Horaz, der sich im reifen Alter sehr wohl noch daran erinnert, wie ihm als Knaben die Gesänge des Livius Andronicus diktiert wurden. Sein Lehrer war L. Orbilius Pupillus, der als ‚freigebig in Sachen Prügel' in Erinnerung geblieben ist (Hor. Ep. 2.1.69-71): carmina Livi … memini quae plagosum mihi parvo Orbilium dictare. Und bekannt war etwa auch ein Vasenbild des Duris, die Berliner Schulvase, auf der Texte rezitiert und geschrieben werden und wo Schreibgerät an der Wand hängt.
Für die schulischen Aktivitäten im engeren Sinne fehlte jedoch jede Evidenz: Wie man in der Antike Lesen, Schreiben und Sprachrichtigkeit erlernte, war unbekannt, und auch, wie der erste Zugang zur Literatur erfolgte, direkt oder in vereinfachter Form, mit oder ohne Erklärung, und wenn ja, welcher Art Erklärung, war nicht klar. Nicht alles aber, was in der antiken Schule geübt wurde, hat auf Papyri seinen Niederschlag gefunden. Man verwendete billigere Materialien als Papyrus, wie etwa Tontafeln oder Wachstäfelchen, die sich zudem auch leichter neu beschreiben ließen. Ganz selten verwendete man Pergament, den teuersten Schreibstoff. Vor den Papyri zunächst eine kurze Bemerkung zu diesen billigen Schülerschreibstoffen.
Mehrere Schulostraka mit Schreibübungen sind erhalten, bei denen teilweise noch zu erkennen ist, dass der Lehrer die eine oder andere Zeile vorgeschrieben hat. (1) Ebenso sind Wachstafeln mit Schülerhandschrift und dem Text der Babrius-Fabeln erhalten (2) Zudem jedoch sind auch Schulbücher aus Holz erhalten. Zum einen begegnen einzelne Holztafeln mit einfachen Schreibübungen (3) Zum anderen ist ein vollständiges Schulheft erhalten, das neun Holztäfelchen umfasst (4). Bei diesen Tafeln wechselt ebenfalls die Schülerschrift mit Partien, die es aufgrund der sehr schönen Schrift nahe legen, dass der Lehrer sie vorgeschrieben hat. In diesem Schulheft finden sich einfache Schreibübungen. Auch einzelne Holztafeln sind erhalten, auf der der Lehrer einige Zeilen vorgeschrieben hat, an die dann der Schüler anschließt – eine Praxis des antiken Schulunterrichts, von der in Platons Protagoras 326d die Rede ist. (5)
Von außergewöhnlicher Bedeutung sind drei weitere auf Holz überlieferte Dokumente. Bei dem ersten handelt es sich um acht durch Schnüre verbundene Holztafeln, die ausführliche Verblisten enthalten. Es folgt ein Frage- und Antwortspiel, denen sich grammatische Notizen zu Patronymika und anderen Eigennamen anschließen (6) Bei den Verben ist jeweils die grammatikalische Konstruktion geübt. Zusammen mit diesem Dokument hat der Herausgeber F.G. Kenyon) noch ein zweites Stück aus der antiken Schule publiziert. (7) Es handelt sich um eine einzelne Holzplatte, auf der ein griechischer Mustersatz in allen Kasus und Numeri, auch solchen Formen, die wegen ihrer Absurdität nie gebildet würden, belegt ist. Auf der Rückseite dieser Holzplatte finden sich Verbkonjugationen.
Bei dem dritten Beispiel handelt es sich um eine zur Hälfte erhaltene Holztafel mit Partien aus den Phoinissen des Euripides und der Hekale des Kallimachos. Der Herausgeber Theodor Gomperz beurteilte seinerzeit den Zweck der Tafel: „Eine Holztafel, die mit einem Teile der Botenrede aus einem der drei meistgelesenen Dramen des Euripides und mit einer an mythologischen Anspielungen reichen Partie eines der gefeiertesten Werke des Kallimachos beschrieben wurde, was sollte sie anders gewesen sein als eine Schultafel, die als Vorlage für Lese- und Interpretationsübungen gedient hat?“ (8).
Auf Papyrus dagegen haben in der Regel die Handreichungen für den Lehrer gestanden, ebenso die Textauswahlen selber. Ein berühmtes Beispiel wird dies gleich illustrieren. Ich werde zunächst das Material vorstellen und die didaktische Orientierung der Werke skizzieren. Darauf folgt die Präsentation eines vollständig erhaltenen antiken Schulbuchs, das einen Blick in den Alltag der antiken Schule erlaubt.
Etwas mehr als 400 Papyri sind bekannt, die als Zeugnisse der antiken Schule in Betracht kommen. Listen der bekannten Schulpapyri haben Pierre Collart (9) sowie Giorgio Zalateo publiziert (10). Der enorme Zuwachs ist nicht zu übersehen. Die jüngste Liste stammt von Janine Debut (11). Die Papyri entstammen einem Jahrtausend – vom dritten vorchristlichen Jahrhundert bis zum achten Jahrhundert nach Chr. Nur zehn Prozent, also gerade einmal vierzig Papyri, datieren in ptolemäische Zeit - die Epoche der Ptolemäerkönige in Ägypten, die von Alexanders Tod bis zur Schlacht von Actium regierten.
Zunächst finden sich jede Menge Schreibübungen, darunter ganz einfache zum Erlernen der Schrift. Das Alphabet wird immer wieder wiederholt, teilweise sträubt sich offensichtlich der Papyrus, oder der Halm, der Kalamos, mit dem geschrieben wird, und die Buchstaben stehen etwas ungelenk. Häufig bezeugt sind Schreibübungen beziehungsweise Diktate zwischen beiden lässt sich nicht sicher trennen , die entweder einzelne Wörter oder kurze Sätze umfassen.
Hier begegnen Verse aus Homer, aus Euripides und oft auch Sentenzen des Menander. Manchmal hat der Lehrer etwas vorgeschrieben, was der Schüler abschreibt, oder der Lehrer hat die Inizialen vorgegeben, die der Schüler zu Wörtern ergänzt, oder verschiedene Schülerhände haben auf demselben Papyrus quasi in Gruppenarbeit denselben Satz abgeschrieben. Auch ein literarischer Text wurde von Schülerhand kopiert. (12)
Dass es sich um Schultexte handelt, wird nahegelegt durch die Art der Schrift, die recht geräumig ist, mit relativ breiten Buchstabenformen, zudem unerfahren aussieht. Es sieht eben ganz nach Schule, oder genauer Elementarschule aus. Ebenso sicher darf man von Schultexten ausgehen, wenn man Papyri findet, auf denen beispielsweise Homerverse einzeln mit einfachen Lesehilfen ausgestattet sind – wo also elidierte Silben ergänzt oder Längenzeichen eingefügt wurden.
Nicht ganz so sicher ist die Analyse im Fall von Anthologien, wo sich die Frage stellt, ob immer Schultexte vorliegen, oder vielleicht doch manchmal eher Privatabschriften in der Art „Die schönsten Stellen aus Homer“. Auf jeden Fall gibt es solche Anthologie-Papyri mit einer Mischung aus Homer, Euripides, Menander (der mit den Sentenzen) und sogar, wenn auch seltener, Texten aus Vergil oder Kallimachos. (13)
Ob es sich um Schultexte handelt, ist ebenso ungewiss, wenn man Texte findet, die offensichtlich berühmte Passagen aus Dichtern referieren. Sind das Schüleraufsätze oder handelt es sich eher um Paraphrasen, die ein Profi hergestellt hat etwa für ein mythologisches Handbuch? Schwer zu sagen. Bei diesen Kurzexposés in Prosa oder modern gesagt ‚Abstracts' ist wieder Homer sehr häufig zu finden, und wenn nicht Homer ‚ausgeschlachtet' wird, dann eben ein anderer epischer Stoffkomplex, wie beispielsweise Szenen um und mit Herakles. (14) Von den geschichtlichen Persönlichkeiten wird natürlich gerne Alexander der Große traktiert; Fabeln des Äsop werden ebenso gerne referiert, und ab und zu gibt es ein Sujet, das auf Euripides zu deuten scheint. Die sprachliche Form ist in der Regel ein schlichter Prosadiskurs, nur gelegentlich findet sich ein Dialog oder ein literarischer Brief.
Ganz sicher wieder um Schultexte handelt es sich, wenn grammatische Exerzitien begegnen, die aber, wie eingangs erwähnt, gerade wenn es sich um einfache Übungen handelt, oft auch und vielleicht auch eher auf anderen Schreibmaterialien überliefert sind. Darüberhinaus gibt es von Schülerhand exzerpierte Grammatiklehrbücher; teils werden die Merksätze herausgeschrieben, teils ein fortlaufender Text zusammengefasst: Grammatische Regeln zeigt Papyrus Amherst 21 (15), ein Schülerexzerpt (aus Comanus?) publiziert H.M. Hubbell (16). Ein kleines Panorama von Übungen auf Papyri findet sich unter dem Titel Papiri fiorentini inediti, Aegyptus 20, 1940, 3-16 (ohne Abb.): Stenographie, Deklinations- und Konjugationsübungen und vielleicht kalligraphische Exerzitien.
Welche Rückschlüsse erlauben nun diese Texte? Lässt sich vielleicht sogar eine Art Pädagogik erkennen? Oder sind die Zeugnisse letzten Endes zu wenige und zu zufällig in ihrer Bezeugung, um allgemeine Schlüsse ziehen zu können? Die Antwort ist zwiespältig: Manche Textauswahl, die auf einem Papyrus erscheint, hat sicherlich einem gewissen erzieherischen Zweck gedient. Die Sentenzen, manchmal zu einem Akrostichon verbunden, die Aphorismen und Gleichnisse, die Gnomen aus Menander und dann auch Theognis oder Hesiod und solche, die Philosophen wie beispielsweise Diogenes zugeschrieben werden, können durchaus den Charakter von Lebensmaximen oder moralischen Normen haben.
Kann man bei mancher Auswahl eine pädagogische Absicht somit wenigstens nicht ausschließen, so deutet die Textauswahl anderer Schulpapyri nicht so sehr auf eine erzieherische Intention. Die Texte scheinen vielmehr schlicht dem Zweck zu dienen, den Schüler nicht nur mit literarischer Kultur im weiteren Sinne bekannt zu machen, sondern ihm überhaupt eine gewisse elementare, geistige Orientierung anzubieten. Da finden sich dann Listen mit Gottheiten, Städteinventare, Aufstellungen von Festen oder Monatsnamen; die Wochentage werden genannt, die Verwaltungseinteilung wiederholt, Fluss- oder Vogelnamen zusammengestellt. Ein Beispiel dieser Art sind die von H. Diels publizierten Laterculi Alexandrini (Berlin 1904, mit einer Abb.), wo auf einem Papyrus die Sieben Weltwunder genannt werden, zusammen mit berühmten Künstlern und Architekten sowie den höchsten Bergen, längsten Flüssen oder schönsten Quellen.
Dass die Ausbildung nicht beim Elementaren blieb, zeigen andere Papyri, auf denen etwa der Kalender ausführlich erklärt wird, ebenso wie ein Papyrus, der die Sternzeichen systematisch behandelt, oder ein anderer mit einer Kaiserliste inklusive Datumsangaben. Es gibt sogar einen Papyrus mit einer Frage- und Antwortserie zum Thema Troianischer Krieg. Vielleicht handelte es sich um eine Art Repetitoriumsvorlage, wie sie sich auch für andere Fächer (wie etwa Geometrie) in Frage- und Antwortform auf Papyrus belegt finden.
Die literarische Ausbildung wurde hauptsächlich mit Homer bestritten. Von etwa 30 erhaltenen Papyri mit elementaren literarischen Erklärungen beschäftigen sich nur zwei nicht mit Homer; es handelt sich in diesen Fällen um Ausführungen einfachster Art zu Euripides. Und die erwähnten etwa 30 Papyri umfassen einen Zeitraum vom dritten Jahrhundert vor bis zum sechsten Jahrhundert nach Christus. In der Regel wird Wort für Wort erklärt, und homerische Sprachformen werden in die zeitgenössische Sprachform der Koine übersetzt. Das Layout der Papyri ist zweispaltig, und man darf spekulieren, ob der Papyrus vielleicht zwecks Vokabelrepetition in der Mitte senkrecht gefaltet wurde. Ziebarth hat ein schönes Beispiel für diese Art Papyrus mit einer Homerpräparation zum Anfang der Ilias: No. 29, p. 13sq.
Glossare gibt es dann aus römischer Zeit. Die meisten dieser griechisch-lateinischen Wortlisten sind nicht mehr sicher einem antiken Autor zuzuordnen, aber zumindest drei sind sicher Wortlisten aus Vergil. Es finden sich auch einfache Konversationsbücher oder Sprachreiseführer, teilweise zweisprachig für griechisch und lateinisch, teilweise dreisprachig mit einem zusätzlichen koptischen Teil.
Aber zurück zur Schule. Ein eigenes Genos dieser Schulbücher ist dasjenige Schulbuch, das den Anforderungen des Anfängerunterrichts am besten entspricht und von allem ein bisschen enthält: Alphabet, Syllabar, ein wenig Arithmetik, Varia Curiosa, eine kleine Anthologie, ein wenig Stoff zum Üben und ein kleines Lexikon.
Ein schönes Beispiel seiner Art ist das als Buch für den kleinen Schüler oder als Buch für den Anfänger bekannte Livre d'écolier. Die Papyri haben zwei französische Papyrologen, Octave Guéraud und Pierre Jouguet, im Sommer 1935 in Kairo erworben und drei Jahre später publiziert. (17) Nach Angaben des Händlers stammte der Papyrus aus dem Fajum, in der Antike eine oasenartige Senke etwa 75 km südlich von Kairo, wo viele Papyri gefunden wurden.
Der Papyrus ist ungewöhnlich gut erhalten. Die Herausgeber haben mehrere größere Fragmente erworben, die alle zum unteren Rand einer Papyrusrolle gehören. Sie haben die Fragmente an ihren Klebestellen, den Kollemata, wieder zusammengefügt und festgestellt, dass es sich um eine fast vollständig erhaltene Rolle handelt, die nur eine einzige größere Lücke aufweist. Die beiden Teile, links und rechts der Lücke, sind 66 cm und 176 cm lang – die Länge der Gesamtrolle betrug also mehr als zweieinhalb Meter! Am rechten Rand ist nicht nur unbeschriebener Papyrus, sondern es fand sich ein Rest von einem Holzstab, um den der Papyrus einst wohl gerollt war. Die Beobachtungen der Faserspuren und inhaltlicher Konnex zwischen dem Text vor der Lücke und dem danach legen es nahe, dass nur eine Textspalte fehlt. Am Anfang fehlt auch nicht viel (dazu gleich), so dass man annehmen darf, dass ein komplettes Schulbuch für den Elementarunterricht vorliegt – mit der eingangs erwähnten Einschränkung, dass es sich immer nur um den unteren Teil der Rolle handelt. Nach Ausweis der Schrift, einer recht regelmäßigen Kapitalis mit wenigen Ligaturen, die auch geübt ausgeführt sind, gehört der Papyrus noch ins dritte Jahrhundert vor Christus (zweite Hälfte, letztes Viertel).
Die Schrift ist, wie gesagt, nicht ungeschickt, der Inhalt sicherlich einer, der in den Umkreis der Schule gehört. Man darf also annehmen, dass ein Schulbuch vorliegt, das sogar hin und wieder ein wenig die Tabellen farblich hervorhebt.
Es überrascht jedoch, dass der Übergang bei den Lektürestücken sehr schnell erfolgt vom einfachen Homer zu komplizierten Komödienpassagen zumindest, wenn es sich um ein Schulbuch für den Elementarunterricht handelt, das mit Leseübungen beginnt.
Den Anfang des Textes (Tafel 5a) macht ein Syllabar, in dem wohl alle möglichen Buchstabenverbindungen einmal ausgeschrieben waren. Erhalten ist der Schluss mit ‚ψα, ψε, ψη, ψι, ψο, ψυ, ψω' – also erst der Konsonant, dann der Vokal. Da man sich kaum etwas Einfacheres vorstellen kann, wird das Schulbuch nicht viel mehr vor solchen einfachen Übungen enthalten haben, vielleicht nur noch das Alphabet selbst.
Es folgen auf Tafel 5b Konsonantenverbindungen verschiedenen Schwierigkeitsgrades. Das endet mit ‚ψαν, ψεν, ψην, ψιν, ψον, ψυν, ψων'.
Auf Tafel 6a finden sich die Zahlen: 8 9 10 11 12 13 in der linken Spalte, und rechts dann 20 21 22 23 24 25; ferner eine Gruppe von Monosyllaba (in zwei Spalten), dann eine Liste mit Götternamen, dann Flussnamen (Tafel 6b). Dieser Flussnamenteil ist der mit der kleinen Lücke: Aber weil die Namen vor der Lücke (z.B. Strymon) und die nach der Lücke (z.B. Indos und Anakmon oder Aliakmon) Flüsse bezeichnen, wird wohl nicht allzu viel fehlen. Es folgen die zweisilbigen, dreisilbigen, viersilbigen und schließlich die fünfsilbigen Wörter.
Dann beginnt eine kleine poetische Anthologie. Zunächst sind die Wörter noch mit Silbentrennzeichen geschrieben, was aber bald aufhört. Es handelt sich um jeweils ein Fragment aus zwei Stücken des Euripides. An poetischen Texten folgen ein Ausschnitt aus der Odyssee, ein Epigramm auf eine Quelle und ein Epigramm auf Homer – die beiden letztgenannten Texte sind sonst nicht bekannt. Dann kommt ein Stück Komödie, in der ein Koch palavert; es folgt ein weiteres Stück Komödie, ebenfalls wie das vorausgehende anonym, schließlich ein Fragment aus einem Stück des Komikers Straton. All diese Texte sehen genauso untereinandergeschrieben aus wie der Odyssee-Text am Anfang.
Am Ende der poetischen Anthologie folgt ein wenig praktische Mathematik die Quadratzahlen. In der linken Spalte ist es noch recht simpel: epsilon mal epsilon, also fünf mal fünf, ergibt kappa epsilon: 25. Stigma mal stigma, sechs mal sechs, ergibt lambda stigma: 36.
Die mittlere Spalte endet unten mit 800 mal 800. In der rechten Spalte schließlich stehen dann die Unterteilungen der Drachme, also die Bruchteile, in die die Währung zerfiel. Hundert Drachmen galten soviel wie ein Sechzigstel Talent, und eine Drachme hatte ihrerseits sechs Oboloi zu acht, zwölf oder 16 Chalkoi. Das Umrechnungssystem zeigt rechts die Siglen, mit denen die Währungsbruchteile bezeichnet wurden.
So also sieht ein elementares Schulbuch aus dem ptolemäischen Ägypten aus. Es gibt andere Papyrusfragmente mit einer ähnlichen Anordnung, die nur in den Proportionen schwankt; da finden sich dann beispielsweise wesentlich längere Wortlisten. Dies ist der Fall bei dem anderen vollständig erhaltenen antiken Schulpapyrus, dem Papyrus Bouriant (bei Ziebarth No. 46, p. 21-24, ohne Abb.): Die Wortlisten (vom Monosyllabon bis zum fünfsilbigen Wort) umfassen fünf Blätter. Darauf folgen fünf Sprüche, von denen der erste sicher von Diogenes ist und die anderen sehr ähnlich denen sind, die bei Diogenes Laertios für ihn bezeugt sind (6.20-81, besonders 6.40); ihnen wiederum schließen sich zwei Dutzend Sentenzen verschiedener Provenienz an, deren 24 Zeilenanfänge das griechische Alphabet nacheinander durchgehen; der Papyrus schließt mit Babrius und Glückwunschformeln.
Zwar fehlen im Livre d'écolier die Gnomen oder Sentenzen; dafür hat der Livre d'écolier eine kleine Metrenparade: erst der Hexameter mit Homer, dann das elegische Distichon mit den Epigrammen auf die Quelle und auf Homer, und schließlich der iambische Trimeter mit den Partien aus Tragödien und Komödien. Solche Fülle fehlt wiederum in anderen Schulpapyri, wo es gerademal zum iambischen Trimeter reicht. Zudem ist das betrachtete Schulbuch an Arithmetik und praktischer Mathematik interessiert, zwar nur in Ansätzen, aber es ist ja gerade ein Elementarbuch.
In den ausgewählten Textstücken ist es schwer, eine pädagogische Orientierung auszumachen (18) In den beiden Euripides-Stücken geht es einmal um die Gefahren des Ehrgeizes, der Philotimia, ein andermal um das wechselhafte Glück, auf das man nicht bauen darf. Dann kommt die Homer-Stelle mit Kalypso, die sich bei den Göttern über entgangene oder zu kurze Vergnügungen mit Odysseus beklagt und Odysseus nur ungern auf Hermes' Wunsch hin hergibt. Und wieder anders erscheinen die Stücke aus den Komödien, die mit dem Koch als Hauptfigur wenig pädagogisch daherkommen; aber vielleicht war das humorvoll gedacht, damit den Kindern eine Art Kasper oder Buffo oder Prahlhans-Figur vorgeführt werden kann. Auch die Epigramme wirken zunächst ein wenig überraschend – vielleicht einfach deshalb, weil der weitere Kontext verloren ist (es ist ja immer nur der untere Rand der Rolle erhalten); immerhin stellen die Epigramme aber eine immens populäre Gattung vor, mit der auch in der Schule geübt wurde.
Unser Schulmeister war aber kein idiosynkratischer oder exzentrischer Leser und Lehrer, denn die zitierten Textstücke aus Tragödie und Komödie sind als Textstücke auch woanders zitiert. Und zwar in genau demselben Umfang – eine Beobachung, die es nahe legt anzunehmen, dass der Lehrer im Fajum aus Anthologien geschöpft hat. Und dass man in der Antike auf die vorgestellte Art, nämlich mit dem Erlernen der einzelnen Silben, Lesen und Schreiben lernte, bezeugen Dionys von Halikarnass (Comp. 25 ad finem, Dem. 52 ineunte) und Quintilian (Inst. 1.1.30: syllabis nullum compendium est: perdiscendae omnes nec - ut fit plerumque - difficillima quaeque earum differenda ut in nominibus scribendis deprehendantur). Unser Schulbuch scheint also ganz einer vertrauten und auch anderwärts bezeugten didaktischen Linie zu folgen.
Literaturverzeichnis
Ein Referat des Materials findet sich in dem Handbuch La papirologia von Orsolina Montevecchi, Mailand 1973, 395-401; auf p. 396sq. der Überblick über die verschiedenen Arten von Schulpapyri mit den editorischen Einzelangaben. Abbildungen der Papyri sind bei Montevecchi keine verzeichnet. An älterer Literatur sind vor allen Dingen zwei Publikationen zu nennen: zum einen Erich Ziebarth, dessen häufig zitiertes Textbändchen Aus der antiken Schule (Bonn, 2. Aufl. 1913) zahlreiche Papyri in Transkription vorführt, und zum anderen die lateinische Dissertation von Paul Beudel (Münster 1911) Qua ratione Graeci liberos docuerint, papyris, ostracis, tabulis in Aegypto inventis illustratur. Eine Einschätzung versucht Ziebarth zu geben in seinem Werk Aus dem griechischen Schulwesen (Leipzig/Berlin, 2. Aufl. 1914), das eine Art Kommentar zu dem Textbändchen darstellt. Abbildungen enthalten die Publikationen von Beudel und Ziebarth leider nicht. Die Papyrusevidenz diskutiert auch Matthias Lechner, Erziehung und Bildung in der griechisch-römischen Antike, München 1933, 80-84. C. Wessely hat unter dem Titel Einige Reste griechischer Schulbücher einige Papyrusfragmente, die er selber abgepaust hat, drucken lassen (Studien zur Paläographie und Papyruskunde 2, Leipzig 1902, XLII-LVIII, repr. Amsterdam 1965). Papyri vermitteln ebenfalls einen Eindruck der höheren Bildung' im ptolemäischen Alexandria; entsprechende Beispiele von Textausgaben mit diakritischen Zeichen oder auch Hypotheseis werden diskutiert von Eric G. Turner, L'érudition alexandrine et les papyrus, Chronique d'Égypte 73, 1962, 135-152. Das Ausbildungssystem diskutiert Herwig Maehler, Die griechische Schule im ptolemäischen Ägypten, in: Egypt and the Hellenistic World, Leuven 1983, 191-203.
In jüngster Zeit haben die Schultexte der Antike zwei neue Bearbeitungen erfahren. Zum einen haben Hermann Harrauer und Pieter J. Sijpesteijn Neue Texte aus dem antiken Unterricht in zwei Bänden herausgegeben (Wien 1985); der Abbildungsband enthält fast 90 Tafeln, die das Material präsentieren.
Johannes Kramer hat im Anschluss an diese Veröffentlichung in einem Sprachliche Beobachtungen an Schuldiktaten betitelten Aufsatz zu Erscheinungen wie dem Itazismus eine Analyse veröffentlicht (Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 64, 1986, 246-252). Zum anderen hat Raffella Cribiore dem ganzen Unterrichtswesen im ptolemäischen Ägypten eine umfangreiche Studie gewidmet: Writing, Teachers, and Students in Graeco-Roman Egypt (Atlanta 1996), dem achtzig Tafeln in hervorragender Qualität beigegeben sind. Welche literarischen Texte in der Schule geübt wurden, hat Cribiore in einer gesonderten Liste dargestellt (Literary School Exercises, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 116, 1997, 53-60). Wie im Einzelnen in der Antike Schreiben und Lesen erlernt wurde, bleibt noch in der Diskussion; dies zeigt im Anschluss an Cribiores Arbeiten e.g. der Aufsatz von Konrad Vössing: Schreiben lernen, ohne lesen zu können? Zur Methode des antiken Elementarunterrichts, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 123, 1998, 121-125.
PD Dr. Gerson Schade
Freie Universität Berlin
Seminar für Klassische Philologie
Ehrenbergstraße 35
14195 Berlin
(1) Publiziert von J. Grafton Milne, teils mit einer anschaulichen Skizze, The Journal of Hellenic Studies 28, 1908, 121-132, und 43, 1923, 40-43).
(2) Mitsamt Abbildungen von D.C. Hesseling veröffentlicht, JHS 13, 1892-93, 293-314 und Tafel 13-19.
(3) Publiziert von A.E.R. Boak, Greek and Coptic school tablets at the University of Michigan , Classical Philology 16, 1921, 189-194, keine Abb.
(4) Cf. Ziebarth No. 48, p. 29-31: Berlin P. n. 14000, keine Abb.
(5) Publiziert ist eine solche Holztafel von Raffella Cribiore (A Schooltablet from the Hearst Museum, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 107, 1995, 263-270 mit den Tafeln VIII und IX).
(6) Dies wurde diskutiert von A. Brinkmann, Aus dem antiken Schulunterricht, Rheinisches Museum 65, 1910, 149-155; bei Ziebarth No. 47, p. 24-29.
(7) Two Greek school-tablets, JHS 29, 1909, 29-40, Abb. 5 und 6
(8) Zuerst veröffentlicht 1893 als Mitteilungen aus der Sammlung der Papyrus Erzherzog Rainer; wiederabgedruckt mit einer Abbildung in Th. Gomperz, Hellenika 2, Leipzig 1912, 273-301, Zitat p. 278)
(9) Les papyrus scolaires, in: Mélanges offerts à A.-M. Desrousseaux par ses amis et ses élèves, Paris 1937, 69-80
(10) Papiri scolastici, Aegyptus 41, 1961, 160-235
(11) Les documents scolaires, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 63, 1986, 251-278)
(12) Ein schönes Beispiel für einen Schüler-Homer findet sich bei S. West, The Ptolemaic Papyri of Homer, Köln/Opladen 1967, 73sq. (P. Argentorat. 2374 verso, ohne Abb.).
(13) Papyrusfragmente dreier Homer-Anthologien etwa würdigt G. Nachtergael, Fragments d'anthologies homériques (P. Strasb. inv. 2374, P. Graec. Vindob. 26740, P. Hamb. II, 136), Chronique d'Égypte 41, 1971, 344-351 (ohne Abb.).
(14) Eine Schülerparaphrase nach einem Herakles-Epos findet sich publiziert von J.W.B. Barns (Literary texts from the Fayûm No. 1, The Classical Quarterly 43, 1949, 1-3, keine Abb.), wo wieder der Schriftduktus mitsamt den Auslassungen und Dittographien auf eine Schülerhandschrift deutet.
(15) Cf. B.P. Grenfell, A.S. Hunt, The Amherst Papyri II, London 1901, p. 19-21)
(16) A grammatical papyrus, Classical Philology 28, 1933, 189-198; beides ohne Abb.
(17) Un livre d'écolier du IIIe siècle avant J.-C., Publications de la société royale égyptienne de papyrologie 2, Le Caire 1938.
(18) Diese Schwierigkeit diskutiert etwa J. Barns, A new gnomologium, The Classical Quarterly 44, 1950, 126-137, bes. 135sq.):